Die Reformen der Bundeswehr
Der Begriff „Reform“ stammt vom lateinischen „reformare“, zu Deutsch „umgestalten". Seit ihrer Gründung 1955 stellt sich die Bundeswehr kontinuierlich mit Reformen für die Herausforderungen der Zeit auf. Die jüngste Strukturreform brachte das Verteidigungsministerium im November 2023 mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien auf den Weg.
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Der Aufbau der Bundeswehr als Reform
Mit dem Aufbau der Bundeswehr begann bereits ihre erste Reform: Das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und die Konzeption der Inneren Führung waren ein radikaler Bruch mit dem soldatischen Selbstverständnis bisheriger deutscher Armeen. Nun sollten die Soldaten mehr sein als nur militärische Profis. Als mündige Staatsbürger sollten sie nicht den Kadavergehorsam früherer Zeiten leben.
Die Menschen in der Bundeswehr haben seitdem die gleichen Rechte wie jene, die nicht in ihr dienen. Angehörige der Bundeswehr sind weder unpolitische Söldner, noch wird von ihnen die völlige Identifikation mit einer einzigen politischen Meinung erwartet. Verpflichtend sind allein das Grundgesetz und internationale völkerrechtliche Regelungen.
Jenseits dessen ist nichts so beständig wie der Wandel. Das galt und gilt in besonderem Maße für die Bundeswehr. Neue Waffensysteme wurden eingeführt, die Dauer des Wehrdienstes mehrfach verändert. Seit Mitte der 1960er-Jahre zwangen auch finanzielle Engpässe im Bundeshaushalt zur Verkleinerung der Streitkräfte. Jahrzehntelang schien es, dass sich Deutschland eine kleinere, günstige Bundeswehr leisten könne. Doch seit der Krieg zurück ist in Europa, schlägt die Bundeswehr Reformen ein, die ihre Verteidigungsfähigkeit wieder in den Vordergrund rücken.
Durch die Wehrpflicht kamen mehr als zehn Millionen Bundesbürger zur Bundeswehr, die meisten als Wehrpflichtige. Manche verpflichteten sich als Zeit- und Berufssoldaten. Nicht wenige hatten Abitur oder eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Helmut Schmidt, Verteidigungsminister von 1969 bis 1972, erkannte den Bedarf an beruflichen Qualifikationen für die Unteroffiziere und Offiziere, nicht nur für ihre Zeit nach der Bundeswehr.
Er erkannte auch einen Mangel an Bildung bei den Vorgesetzten. Für die Unteroffiziere wurden Lehrgänge an Truppenschulen sowie Meisterkurse für Portepeeunteroffiziere eingeführt. Für Offiziere war ab 1974 das Studium an einer der beiden Universitäten der Bundeswehr in München oder Hamburg verpflichtend.
1990 begann eine neue Ära für die Bundeswehr. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde der Personalumfang deutlich auf 370.000 Männer und Frauen reduziert. Die bisherige Unterteilung in Territorial- und Feldheer entfiel. Luftwaffe und Marine bereinigten ihre Waffentypen auf jene, die zukunftsfähig schienen. Die Zahl der Standorte ging zum ersten Mal drastisch zurück. Die vom damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe angeordnete Einteilung der Truppe in Hauptverteidigungskräfte und voll präsente Krisenreaktionskräfte aber führte wegen ihrer unterschiedlichen Ausstattung zu Klagen über eine Zwei-Klassen-Armee.
Erst nach dem Regierungswechsel 1998 folgte eine grundlegende Untersuchung, was die Bundeswehr können solle und wie sie dazu aufgestellt sein müsse. Unter der Führung von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker untersuchte die Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ 1999-2000 die sicherheitspolitischen Ziele der Bundesrepublik und die dazu notwendigen Streitkräftestrukturen. Ihre Vorschläge zur Streitkräfte- und Personalstruktur der Bundeswehr wurden allerdings nicht vollständig umgesetzt. Ausschlaggebend waren vielmehr die gleichzeitig vom Planungsstab des Verteidigungsministeriums erarbeiteten Vorschläge. In der Folge entstand die Streitkräftebasis als vierter militärischer Organisationsbereich neben Heer, Luftwaffe und Marine. In ihr wurden streitkräftegemeinsame und Querschnittsaufgaben (beispielsweise Logistik, Fernmeldewesen oder Feldjäger) zusammengefasst. Nicht-militärische Unterstützungsleistungen wurden in zivile Unternehmen ausgelagert, etwa die Nutzung nicht zwingend militarisierter Kraftfahrzeuge.
In den Folgejahren wurde die Bundeswehr auf 250.000 Soldatinnen und Soldaten reduziert, der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt sowie der freiwillige Wehrdienst von bis zu 23 Monaten geschaffen.
Um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr für das internationale Krisen- und Konfliktmanagement zu erhöhen, begann 2002 ein weiterer Umbauprozess: Er wurde als Transformation der Bundeswehr bezeichnet.
Im Zentrum standen nun die Auslandseinsätze der Bundeswehr, vor allem in Afghanistan. Die ursprüngliche Kernaufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung geriet dabei zunehmend in den Hintergrund. Neue Aufgaben der Streitkräfte waren nunmehr Unterstützung und Absicherung des Nation Building, die sogenannten Stabilisierungseinsätze, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus sowie der Kampf gegen asymmetrische Bedrohungen. Der Berliner Erlass von 2005 dokumentiert die Ziele der Transformation der Bundeswehr.
Nach der Bundestagswahl von 2009 beschloss die Bundesregierung aus CDUChristlich Demokratische Union/CSUChristlich-Soziale Union und FDPFreie Demokratische Partei, dass eine Kommission bis 2010 Vorschläge für „Eckpunkte einer neuen Organisationsstruktur der Bundeswehr“ erarbeiten solle. Genau das tat die dazu eingesetzte Strukturkommission; das Verteidigungsministerium blieb davon nicht ausgenommen. Die Kommission empfahl eine weitere Reduzierung auf circa 180.000 Zeit- und Berufssoldaten bzw. Zeit- und Berufssoldatinnen sowie auf bis zu 25.000 Wehrdienstleistende. Aus Spargründen beschloss die Bundesregierung die Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Januar 2011 – im Grundgesetz bleibt sie aber weiterhin verankert. Die von der Bundesregierung 2011 beschlossenen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ und das 2016 veröffentlichte „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ dokumentieren diesen Prozess.
Bis zum Sommer 2023 mit Veröffentlichung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands war das oberste sicherheits- und verteidigungspolitische Grundlagendokument der Bundesregierung das Weißbuch aus dem Jahr 2016. Es geht zurück auf die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Sie veranlasste die Überarbeitung der zehn Jahre zuvor veröffentlichten Fassung, da sich die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik grundlegend verändert hatten. Russlands Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 forderte eine Neuausrichtung der Strategie des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Bündnisses – und damit auch der Bundeswehr. Die Stabilisierungseinsätze der Bundeswehr standen nicht mehr im Fokus deutscher Sicherheitspolitik, sondern die Rückbesinnung auf den Kernauftrag der Truppe: die Landes- und Bündnisverteidigung.
Spätestens seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 herrscht eine neue Bedrohungslage. Die Bundesregierung veröffentlichte daraufhin im Sommer 2023 die erste Nationale Sicherheitsstrategie. Darin sind die sicherheitspolitischen Ziele Deutschlands niedergelegt. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie löste das Weißbuch von 2016 ab. Während im Weißbuch vor allem und fast ausschließlich verteidigungspolitische Festlegungen getroffen wurden, ist der Ansatz der Nationalen Sicherheitsstrategie umfassender: Unter dem Titel „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland“ fußt das Dokument auf der gesamtstaatlichen Aufgabe, die freiheitlichen demokratischen Werte, die Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft und natürlich die territoriale Integrität Deutschlands zu schützen. Das bedeutet, dass sich auf gesamtstaatlicher Ebene die unterschiedlichen Akteure die Verantwortung teilen – und nicht die Streitkräfte allein dafür zu sorgen haben, dass Deutschland im Falle eines Spannungs- oder Verteidigungsfalles wehrhaft und im Stande ist, sich zu verteidigen: „Zivilverteidigung und Bevölkerungsschutz wollen wir in einem gesamtgesellschaftlichen Ansatz stärken, bei dem Bundesregierung, Länder, Kommunen, Wirtschaft sowie Bürgerinnen und Bürger gemeinsam Verantwortung übernehmen“ – so heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie.
An den durch das Weißbuch 2016 initiierten Richtungswechsel knüpfen die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 an, die das Verteidigungsministerium im November 2023 erlassen hat. Sie basieren auf der Nationalen Sicherheitsstrategie, die nur wenige Monate zuvor erlassen wurde. Seit dem brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine 2022 ist das oberste Ziel des Verteidigungsministeriums, die Bundeswehr wieder konsequent auf die Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten. Hierfür geben die Verteidigungspolitischen Richtlinien Eckpunkte vor.