Die Bundeswehr wird zur Armee der Einheit

Das Ende des Kalten Krieges machte in Europa Streitkräfte in ihrer bisherigen Stärke überflüssig. Die internationale Abrüstung und die Wiedervereinigung Deutschlands stellten die Bundesrepublik gleich vor drei Aufgaben: Reduzierung der Bundeswehr, Auflösung der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik und Aufbau einer völlig neu zu konzipierenden Bundeswehr im wiedervereinten Deutschland.

Schwarzweiß-Aufnahme von angetretenen Soldaten

Neuer politischer Kurs in der Sowjetunion

Seit 1985 zeichnete sich ein neuer politischer Kurs in der Sowjetunion ab. Er blieb nicht ohne Folgen für den Warschauer Pakt. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, versuchte sein Land wegen großer wirtschaftlicher Probleme zu öffnen.

Und: Er wollte einen neuen Entspannungsdialog mit dem Westen. Andere Staaten des Warschauer Paktes nutzten diese Chancen in eben diesem Sinne. Die Führung der DDR lehnte eine Öffnung nach Westen jedoch ebenso ab wie eine Liberalisierung der Wirtschaft oder eine militärische Abrüstung. Aber nicht nur sie beobachtete die Entwicklung in der Sowjetunion und in Osteuropa:

Die Kritik der Bevölkerung am „real existierenden Sozialismus“ der DDR ließ sich nicht mehr unterdrücken. Aus anfänglichen Friedensgebeten erwuchs damals eine breite Protestbewegung.

Die 1989 einsetzende Massenflucht von Bürgern aus der DDR führte zum Zusammenbruch der Einparteienherrschaft der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands.

Verteidigungsminister Rühe schüttelt einem Soldaten die Hand

Der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe ernannte am 2.Oktober 1992 in Leipzig die ersten ehemaligen NVANationale Volksarmee-Soldaten zu Berufssoldaten der Bundeswehr.

Bundeswehr/Detmar Modes

Fall der Berliner Mauer

Der Versuch der Staatsführung, durch die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 den politischen Druck der Massen steuern zu können, scheiterte kläglich. Der Fall der Berliner Mauer leitete den Prozess zur Wiedervereinigung Deutschlands ein, denn die Mehrheit der Ostdeutschen wollte keinen reformierten Sozialismus. Die Menschen wollten unter anderem auch aus wirtschaftlichen Gründen die Vereinigung mit der Bundesrepublik.

Herausforderungen für das wiedervereinigte Deutschland

Ein Jagdflugzeug Mig 29 ist aus dem Fenster eines Bundeswehrflugzeugs zu sehen

Die Bundeswehr übernahm Jagdflugzeuge vom Typ MiGMikoyan-Gurewitsch 29 der Nationalen Volksarmee. Hier eine der Maschinen des damaligen Jagdgeschwaders 73 der Bundeswehr aus Laage

Bundeswehr/Detmar Modes

Mit der Wiedervereinigung folgte am 3. Oktober 1990 einerseits die Auflösung der Nationalen Volksarmee und der anderen bewaffneten Organisationen der DDR (beispielsweise Grenztruppen und Betriebskampfgruppen). Andererseits war ein Teil der mehr als 90.000 Zeit- und Berufssoldaten der NVANationale Volksarmee in die Bundeswehr zu integrieren. Erschwert wurde dies durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag zur deutschen Einheit von 1990. Er sah nämlich die Abrüstung der Bundeswehr auf 370.000, ab 1994 auf 340.000 Soldaten vor. Dennoch übernahm die Bundeswehr als Armee der Einheit erst einmal rund 76.000 Zeit- und Berufssoldaten der NVANationale Volksarmee.

Eine weitere Herausforderung waren Waffen, Fahrzeuge und das Material der NVANationale Volksarmee. Mehr als 15.000 Großwaffensysteme (Kampf- und Schützenpanzer sowie Flugzeuge) und rund 300.000 Tonnen Munition waren zu entsorgen. Die Bundeswehr nutzte kurzfristig einige Transportflugzeuge, Schützenpanzer und langfristig bis 2004 alle 24 Kampfflugzeuge vom Typ MiGMikoyan-Gurewitsch 29 weiter. Aber die Übernahme dieser Systeme blieb die Ausnahme. Einige NATO-Partner sowie Drittstaaten kauften Patrouillenboote, Kampfhubschrauber oder Schützenpanzer aus den ehemaligen Beständen der NVANationale Volksarmee.

Das Bundeswehrkommando Ost

Besonders herausfordernd war der Aufbau von Bundeswehrdienststellen in den neuen Bundesländern. Im Beitrittsgebiet – man sprach auch von den „neuen Ländern“ – stellte die Bundeswehr am 3. Oktober 1990 im brandenburgischen Strausberg das Bundeswehrkommando Ost sowie eine Außenstelle des Verteidigungsministeriums auf. Bis zum März 1991 hatten beide als Übergangsdienststellen sämtliche Koordinierungs- und Entscheidungsbefugnisse für die neuen Bundesländer inne.

In wenigen Monaten wurden 2.300 Dienststellen der NVANationale Volksarmee aufgelöst und 35 Standorte vollständig geschlossen. Im gleichen Zuge entstand in den neuen Ländern unter anderem die 5. Luftwaffendivision. Sie umfasste alle dort aufzustellenden Verbände dieser Teilstreitkraft. Das Heer stationierte sechs neu aufzustellende Heimatschutzbrigaden sowie zwei Divisionen und Wehrbereichskommandos, außerdem das Korps- und Territorialkommando Ost in Geltow als höchste Dienststelle des Heeres für diese Region. Die Marine übernahm die Standorte Rostock-Warnemünde und Parow. Aus dem Führungspersonal der alten Bundeswehr und den neuen Kameraden aus der NVANationale Volksarmee entstanden neue Dienststellen und Verbände.

Neue und alte Dienststellen

Auch einige zentrale Dienststellen verlegte die Bundeswehr in die neuen Länder, etwa die Offizierschule des Heeres von Hannover nach Dresden oder das Militärgeschichtliche Forschungsamt von Freiburg nach Potsdam. Die neu aufgestellte Akademie für Information und Kommunikation wurde am Standort des ehemaligen DDR-Ministeriums für Nationale Verteidigung in Strausberg geschaffen. Ein zweiter Dienstsitz des Bundesministeriums der Verteidigung in Bonn entstand zudem im Berliner Bendler-Block.

Es gab erheblichen Sanierungsbedarf

Der Aufbau der neuen Standorte war aber nicht unproblematisch: In allen ehemaligen NVANationale Volksarmee-Standorten gab es erheblichen Sanierungs- und Renovierungsbedarf. Viele Kasernen entsprachen nicht dem, was für die Soldaten der Bundeswehr im Westen bereits üblich war. Häufig befanden sich die Liegenschaften in einem desolaten Zustand. Bereits im Herbst 1989 hatten Soldaten der NVANationale Volksarmee gegen die Zustände protestiert. Die Ansiedlung von Bundeswehrdienststellen erwies sich an diesen Standorten immer auch als ein Infrastrukturprogramm.

Schönbohm, Stoltenberg und Eppelmann stehen nebeneinander, im Hintergrund das Logo der Bundeswehr

Generalleutnant Jörg Schönbohm (r.) war der erste Befehlshaber des Bundeswehrkommandos Ost. Hier mit Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg und Ex-DDR-Verteidigungsminister, Rainer Eppelmann.

Bundeswehr/Matthias Zins


„Wir kommen nicht als Sieger zu Besiegten…“

Für die Auflösung der Nationalen Volksarmee konnte es keinen Masterplan geben. Die deutsche Einheit kam überraschend und auch die Bundeswehr musste vieles ad hoc und situativ entscheiden. Der Befehlshaber des Bundeswehrkommandos Ost, Generalleutnant Jörg Schönbohm, sorgte von Anfang an für ein vertrauensvolles Miteinander: „Wir kommen nicht als Sieger zu Besiegten, sondern als Deutsche zu Deutschen!“

Eine neue Karriere bei der Bundeswehr

Viele Angehörige der NVANationale Volksarmee besaßen nur wenig Aussicht auf eine Übernahme in die Bundeswehr. Mehr als 60 Prozent der NVANationale Volksarmee-Offiziere beendeten ihre militärische Laufbahn noch vor dem 3. Oktober 1990. Dazu zählten alle Generale und Admirale, sämtliche Politoffiziere sowie informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit sowie alle Frauen und alle Berufssoldaten über 55 Jahren. Dagegen übernahm die Bundeswehr rund 12.000 Offiziere und etwa genauso viele Unteroffiziere. Sie strebten eine neue Karriere in der Bundeswehr an.

Auswirkungen für die Soldaten – in Ost und West

Bei allen Offizieren war der neue Dienstgrad vielfach ein oder zwei Dienstgrade niedriger als zuvor, weil die Dienstposten in der NVANationale Volksarmee häufig dienstgradhöher ausgelegt waren als in der Bundeswehr. Dauerhaft übernahm die Bundeswehr als Armee der Einheit rund 3.000 Offiziere, 7.600 Unteroffiziere und 200 Mannschaften von den ehemaligen Berufssoldaten der NVANationale Volksarmee in den Dienst der Streitkräfte des vereinten Deutschlands. Gleichzeitig verließen rund 90.000 Zeit- und Berufssoldaten die Bundeswehr, auch weil verschiedene Strukturgesetze dies erleichterten.

Soldaten stehen auf einem Platz und legen an der Truppenfahne ihr feierliches Gelöbnis ab

Viele Wehrpflichtige leisteten ihren Grundwehrdienst nach der Wende in einem für sie „anderen“ Teil Deutschlands ab. Hier das erste feierliche Gelöbnis in den neuen Ländern in Bad Salzungen.

Bundeswehr/Matthias Zins

Unmut bei ehemaligen NVANationale Volksarmee-Soldaten

Für Unmut sorgte bei den ehemaligen NVANationale Volksarmee-Soldaten in der Bundeswehr die unterschiedliche Besoldung: Die Unteroffiziere erhielten erst ab 2007, die Offiziere ab 2009 die gleichen Bezüge wie ihre Kameraden aus dem Westen. Für die neu in die Bundeswehr eintretenden jungen Soldaten wurde dieser Besoldungsnachteil dadurch umgangen, das sie oft in den westlichen Bundesländern ihre Verpflichtung und Ernennung zum Zeitsoldaten erhielten.

Viele Wehrpflichtige leisteten ab 1991 ihren Grundwehrdienst in einem für sie „anderen“ Teil Deutschlands. Auch diese Erfahrung wurde zu einem wichtigen Teil der Wiedervereinigung.

Erste Bewährung der „neuen“ Bundeswehr

Verteidigungsminister Stoltenberg schüttelt einem Soldaten die Hand

Der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (l.) bezeichnete die Bundeswehr als „Schrittmacher der deutschen Einheit“.

Bundeswehr/Matthias Zins

Zur ersten Bewährung für die Bundeswehr als Armee der Einheit wurde das Oderhochwasser 1997. Tausende Soldaten und Soldaten aus den Garnisonen zwischen Rostock und Dresden und zahllose Freiwillige aus anderen Truppenteilen waren im Einsatz gegen die Oderfluten. Unter der Führung von Generalmajor Hans-Peter von Kirchbach und dem brandenburgischen Umweltminister Matthias Platzeck waren zeitweilig rund 30.000 Soldaten und Soldatinnen neben den Helfern der Feuerwehren, des Technischen Hilfswerks sowie der Bundespolizei im Einsatz. Es gelang tatsächlich, größere Deichbrüche zu verhindern. Tornado-Aufklärungsflugzeuge lieferten mit Infrarotaufnahmen wichtige Hinweise auf Schwachstellen an den Deichen. Das Medienecho auf die Bewältigung der Flut war überwältigend positiv – auch für die Bundeswehr.

Freilich konnte auch dieser Einsatz nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Bundeswehr seit 1990 in einer schwierigen Lage befand, in einem nahezu ununterbrochenen Umbauprozess mit ständig wechselnden Aufgaben.

Beitrag zur „inneren Einheit“ Deutschlands

Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (1989-1992) bezeichnete die Bundeswehr später als „Schrittmacher der deutschen Einheit“. Sein Nachfolger Peter Struck (2002-2005) resümierte: „Die Bundeswehr hat seit dem 3. Oktober 1990 gezeigt, was erreichbar ist, wenn Deutsche aus Ost und West aufeinander zu gehen und sich mit Tatkraft einer gemeinsamen Aufgabe stellen. Sie ist damit bei der Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands von Anfang an ein Vorbild und Vorreiter gewesen.“

Weiterführende Literatur

Rudolf J. Schlaffer/Marina Sandig, Die Bundeswehr 1955–2015. Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Demokratie. Analysen, Bilder und Übersichten. Freiburg im Breisgau 2015, ISBN 978-3-7930-9836-2v

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