Vom Judenedikt zur „Judenzählung“
Vom Judenedikt zur „Judenzählung“
- Datum:
- Ort:
- Koblenz
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Die etwas mehr als hundert Jahre zwischen dem preußischen Judenedikt von 1812 und der so genannten „Judenzählung“ im Ersten Weltkrieg waren von Fortschritten und Rückschlägen bei der Emanzipation der jüdischen Deutschen gekennzeichnet. Die Kriege Preußens führten zumindest phasenweise zu mehr Gleichberechtigung. Die Judenzählung von 1916 kann dagegen als Vorphase des späteren Genozid verstanden werden.
Generell war die Integration der Juden durch die stärkere Trennung von Kirche und Staat in den von Napoleon aufgewerteten süddeutschen Ländern, allen voran Großherzogtum Baden und Königreich Bayern weiter fortgeschritten, als etwa in Sachsen oder Preußen. Auch wenn zu den preußischen Reformen auch das Preußische Judenedikt von 1812 zu rechnen ist, durch das Juden preußische Staatsbürger und damit wehrpflichtig wurden, finden sich im preußischen Heer durch die nach den Befreiungskriegen einsetzende Restauration erst wieder im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 jüdische Reserveoffiziere.
Konvertiten konnten Offizier werden
Diese Ablehnung jüdischer Offiziere war in erster Linie religiös bedingt: Christliche Soldaten sollten jüdischen Offizieren nicht unterstellt sein. Trat aber ein jüdischer Wehrpflichtiger zum christlichen Glauben über, so konnte er in Preußen sehr wohl Offizier werden. Dem altpreußischen Selbstverständnis nach war der Offizier dann aber freilich kein Jude mehr; erst der Nationalsozialismus führte durch religionsunabhängige Diskriminierungsmaßnahmen wie den sogenannten Ariernachweis ein ethnonationales Verständnis von Judentum in das deutsche (Un-) Rechtssystem ein.
Dieses in seinem Wesenskern rassistische Verständnis wirkt bei oberflächlicher oft sogar gut gemeinter historischer Betrachtung häufig fatalerweise nach. Als „Jude“ wird dann auch ethnonationalistisch derjenige definiert, den die Nationalsozialisten einst dazu gemacht haben. Aus der Zeit heraus betrachtet waren aber noch im Ersten Weltkrieg konvertierte ehemalige Juden keine jüdischen preußischen, bayerischen oder sonstigen Staatsbürger, sondern katholische oder evangelische.
Das Judenedikt galt nur für Kern-Preußen
Eine nicht unwichtige historische Beobachtung ist aber, dass das Preußische Judenedikt von 1812 sich in seiner Rechtswirkung auf das preußische Kernland (Brandenburg, Pommern, Westpreußen, Ostpreußen, Schlesien) beschränkte. Insbesondere im erst später an Preußen gefallenen Großherzogtum Posen hatte ohnehin nie das Judenedikt gegolten. Sowohl Hindenburg als auch Ludendorff stammten beispielsweise von dort.
Seit 1870 ließ sich zu Kriegszeiten die Staatsbürger jüdischen Glaubens diskriminierende Linie aber nicht mehr durchhalten. Als Wehrpflichtigen konnte ihnen ein tapferkeitsbedingter Aufstieg schwerlich verwehrt werden. Auch entstand durch die unterschiedliche Praxis in den süddeutschen Ländern, wie Baden oder Bayern durch den gemeinsamen Kampf ein gewisser Druck auf Preußen. In engem Zusammenhang mit der Kriegsleistung jüdischer Soldaten stand daher auch, dass die Reichsverfassung von 1871 nun im gesamten Deutschen Reich Juden zu gleichwertigen Bürgern erhob.
Gleichberechtigung nur zu Kriegszeiten
Dennoch – und dies unterstreicht den Zusammenhang zwischen Kriegsnotwendigkeit und schwindender Diskriminierung – wurden im preußischen Heer nach 1885 erneut keine jüdischen Reserveoffiziere mehr ernannt. Mit dem Generationswechsel zu Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) ging ab 1888 also faktisch eine Abkehr von der kriegsbedingten Inklusionspolitik seines Großvaters Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) einher.
Dies änderte sich erst wieder mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dem bekannten Satz in Kaiser Wilhelms II. Thronrede vor dem Reichstag „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!” folgte der weit weniger bekannte Satz: „Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.” Damit war auch die Einebnung von Konfessionsunterschieden Teil des als „Burgfrieden” bekannt gewordenen Programms zur inneren Einigkeit.
Die religiöse Dimension des Burgfriedens
Im Oktober 1914 dienten bereits 150 Reserveoffiziere jüdischen Glaubens in deutschen Heereskontingenten. Hintergrund war die kriegsministerielle Umsetzung des Burgfriedens im Erlass zur Ergänzung der Offiziere während des Krieges durch den unter anderem auch jüdischen Soldaten die Beförderung zum Reserveoffizier erleichtert wurde. Dieser Erlass vom 29. September 1914 ging auf den damaligen stellvertretenden Kriegsminister und Generalleutnant Franz Gustav von Wandel (1858-1921) zurück. Wandel war es auch, der antisemitische Schriften zensieren ließ und alle Forderungen nationalradikaler Parteigänger nach einer „Judenzählung“ in der Armee strikt zurückgewiesen hatte.
Sein Hauptgegner war auch in dieser Angelegenheit Ludendorff, der den Ministerialerlass zur Judenzählung (Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden) mit unterzeichnet hatte. General Wandel hatte kurz zuvor seinen Abschied eingereicht. Der Text des Erlasses enthält direkte, aber nicht kenntlich gemachte Zitate aus Eingaben des Reichshammerbundes, den der vormalige Mitbegründer der Deutschen Antisemitischen Vereinigung (1886) Theodor Fritsch im Jahr 1912 ins Leben gerufen hatte. Parallel zum Reichshammerbund hatte der Verleger offen antijüdischer Schriften auch den sogenannten Germanenorden als Geheimbund gegründet – dessen heidnisch-armanisches und antisemitisches Gedankengut findet sich auch in den Nachkriegsschriften Ludendorffs.
Vom Germanenorden zur Thule-Gesellschaft
Die Mitglieder des „Germanenordens“ hatten für ihre Aufnahme einen „Ariernachweis“ beizubringen. Während Fritsch unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg ab 1910 dreimal hintereinander in den sogenannten Gotteslästerungsprozessen dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens unterlegen war und zu Geldstrafen verurteilt wurde, entwickelte sich nach dem Krieg aus dem „Germanenorden“ die rechtsradikal-antisemitische Thule-Gesellschaft, deren ideologisches Strandgut von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurde.
Sowohl Himmler als auch Goebbels beriefen sich offen auf die Gedanken des Reichshammerbundes. Die „Judenzählung“ von 1916 stellte damit wie viele andere Entwicklungen dieses Jahres den Beginn eines Zeitalters der Ideologien dar, das aber zunächst noch durch den Krieg verdeckt wurde. Mit dem Zusammenbruch der Ordnung im November 1918 begannen die vor dem Krieg noch durch das Rechtssystem in die Schranken verwiesenen antisemitisch-radikalen Gruppen und die durch die Kriegszensur verbotenen antisemitischen Schriften sich in dem durch Revolutionen, Staatsstreichversuche und Bürgerkriegsverhältnisse radikalisierten Umfeld zu verbreiten.