Bei manchen Mobilgeräten und Browsern funktioniert die Sprachausgabe nicht korrekt, sodass wir Ihnen diese Funktion leider nicht anbieten können.

Eine Relektüre des Handbuches Innere Führung von 1957

Handbuch Innere Führung
Bundeswehr/Franziska Hunold

Nicht die Routine runder Jahrestage gibt Anlass zum Rückblick auf das „Handbuch Innere Führung“ (1957), sondern die Sache selbst. Eine Überarbeitung der Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) A-2600/1 aus dem Jahr 2008 steht an – und der neue Traditionserlass rückt die Innere Führung ausdrücklich in den Fokus der Eigentraditionen der Bundeswehr. Was bedeutet es, das erste Leitdokument der inneren Wehrverfassung als Ausdruck einer lebendigen Tradition zu lesen und damit für die aktuellen Herausforderungen nutzbar zu machen? Die Glut, nicht die Asche ist gefragt: Was gilt unverändert, was war zeitbedingt – und was ist verlorengegangen und bedarf der Wiederentdeckung? Mit anderen Worten: Traditionspflege ist Selbstvergewisserung.

Die Entstehungsbedingungen des „gelben Buchs“ (Koller) waren 1956/57 nicht einfach, die gestellte Aufgabe nicht weniger. Für den Aufbau der Bundeswehr war ein Tempo angesetzt, das die Zeit der Heeresvermehrung in den 30er Jahren noch übertraf. Alles geschah gleichzeitig – Wehrgesetzgebung, Organisationsaufbau und Aufstellung. Was man glaubte entbehren zu können, wurde gekürzt und vertagt. Dazu gehörte, trotz anderslautender Bekenntnisse, die Gründlichkeit der Führerausbildung, die Ausgestaltung der Inneren Ordnung und damit die Über- und Umsetzung der Leitvorstellungen der neuen Konzeption, die im Amt Blank entwickelt worden war. Vorschriften und Ausbildungshilfen waren Mangelware. Hier sprang das „Handbuch“ ein. Da waren Texte versammelt, die auf Referate der ersten Offizierlehrgänge zurückgriffen oder noch ausstehende Vorschriften erläuterten. Mit Beiträgen über den Eid, das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, die soldatische Tradition und den 20. Juli 1944 steuerte Graf Baudissin knapp die Hälfte des Bandes bei. Andere Beiträge befassten sich mit den Leitsätzen für Menschenführer, Gruppenselbstarbeit, Truppen-Information und Truppen-Betreuung. Heraus kam – so der Untertitel – eine „Hilfe zur Klärung der Begriffe“, die sich im Grundsätzlichen bewegte, aber auch handfeste Handlungsanweisungen, Führungshilfen und Erfahrungswissen anbot.

Hörfassung „Leitfaden oder Leerformel?“

Kritikern aus der Truppe, an denen es nicht fehlte, mochte das als „Leerformelhaftigkeit“ erscheinen. Tatsächlich war die Broschüre, wie der Bearbeiter Martin Koller später schrieb, mehr ein „Manifest“ als ein „Handbuch“. Aber gerade darin bestand ihr Vorzug: In einer Aufbau- und Übergangsperiode wurden nicht fertige Rezepte und Schablonen ausgeteilt, sondern Brücken von den Leitideen in die Truppenpraxis geschlagen. Da musste argumentiert und überzeugt werden; Anordnungen, Einpauken und Routine reichten nicht aus. Diesem Ansatz gab die Nachfrage recht, denn bis 1966 erschienen drei weitere Auflagen der Schrift. In ihrer Tradition liegt der nutzbringende Charakter. Unter den veränderten Bedingungen einer Freiwilligen- und Berufsarmee, des Doppelauftrags von Bündnisverteidigung und Kriseneinsätzen, der unvermeidlichen Spannungen in den zivil-militärischen Beziehungen und eines rapiden Generationenwechsels braucht die Innere Führung von heute eine klare, überzeugende und anschauliche Vermittlung. Wie können der Soldat und die Soldatin von heute auf die Unübersichtlichkeiten einer Konflikt- und Kriegsführung mit Cyber War, Fake News und niedrigschwelligen Grauzonen-Aggressionen vorbereitet werden? Dabei geht es nicht so sehr um Material und Ausrüstung, sondern um Urteilskraft, Unbeirrbarkeit und die innere Haltung. Zentrale Dienstvorschriften können das nicht leisten. Sie sind Regelsammlungen und Nachschlagewerke, aber keine fesselnde oder bildende Lektüre. Eine „neue Meistererzählung“ ist überfällig, wie der Leiter des Referats im Führungsstab der Streitkräfte III 3 im Verteidigungsministerium, Oberst i.G. Sven Lange, kürzlich formuliert hat; sie bedarf einer anderen, eingängigen Darstellung. Sie verlangt Argumente und Überzeugungskraft, Anschaulichkeit und direkte Ansprache.

Nicht nur die Form des „Handbuchs“ war anders als gewohnt, auch der Inhalt barg seinerzeit Sprengstoff. Der Denk- und Handlungsanleitung, die die Militärreformer den Soldaten vorlegten, lag eine Kernthese zugrunde: Militärische Schlagkraft, soldatische Professionalität und demokratische Lebensform sind vereinbar: „Verteidigungswert ist, was lebenswert ist.“ Damit war der Rechtsstatus des Soldaten als Staatsbürger gemeint, aber auch die Ausgestaltung des militärischen Erfahrungsraums, die Dienstgestaltung und das Vorgesetztenverhältnis, die Kräftigung von Teamgeist und Mitwirkung. Ziel war ein „freiheitliches Binnengefüge“ der neuen Armee, in der sich Rechte und Pflichten, Hierarchie und Partnerschaft die Waage halten. Beflügelt wurde dieser Ansatz von der Überzeugung, dass parlamentarische Demokratie, industrielle Arbeitsbeziehungen, liberale Gesellschaft und eine moderne Militärverfassung einander nicht ausschließen. Der Soldat konnte „eingebürgert“ werden, ohne an „abwehrbereiter Kriegstüchtigkeit“ zu verlieren. Es wäre eine lohnende Herausforderung, die heute zwischen Gesellschaft, Politik und Militär bestehenden Synergien mit der gleichen Ernsthaftigkeit zu entfalten!

Zu verwirklichen war diese Konzeption nur, wenn man akzeptierte, dass der Soldat als „Staatsdiener“ mit seinem Militärhandwerk eine „eminent politische Aufgabe“ wahrnahm. Der Anspruch war umfassend und mochte jene abschrecken, die sich einem unpolitischen Nur-Soldatentum verschrieben hatten. Zugrunde lagen jedoch keine illusionären Vorstellungen, sondern die Analyse des ebenso realistischen wie dramatischen „Kriegsbildes“ der frühen 50er Jahre. Hier wurde der Bogen geschlagen vom „totalen Krieg“ der jüngsten Vergangenheit in die damalige Gegenwart „allgemeiner Friedlosigkeit“ eines „permanenten Welt-Bürgerkriegs“ zwischen der „freien Welt“ und dem „Bolschewismus“.

Übungsschießen 1950er Jahre

Aufbaujahre: Soldaten beim Übungsschießen mit dem G1, dem ersten Sturmgewehr der jungen Bundeswehr.

imago/stock&people

Neben das „heiße Gefecht“ war das „kalte Gefecht“ getreten: „Solange militärisches Gleichgewicht besteht, wird der Schwerpunkt der Aggression auf geistiges Gebiet verlagert.“ Militärische Schlagkraft bedurfte der „geistigen Rüstung“: „Überlegen im kalten wie im heißen Gefecht kann nur der Soldat sein, der mehr ist als Waffenspezialist.“ Richtet man den Blick auf die aktuellen Krisen- und Kriegsszenarien mit ihren hybriden Bedrohungen, Desinformationskampagnen und Verschwörungsideologien, eingefrorenen Dauerkonflikten und verdeckten Einsätzen, stellt sich der Aktualitätsbezug des „Handbuchs“ unmittelbar ein. Davon lernen kann man freilich nur, wenn man dem argumentativen Ansatz folgt, die militärischen wie die geistigen Erwartungen an die Soldatinnen und Soldaten mit Hilfe eines konkreten Lagebilds zu unterfüttern, um damit die Einheit von militärhandwerklichen Fähigkeiten und innerer Haltung überzeugend zu begründen. Dieser inhaltliche Anspruch, der für das „Handbuch“ maßgeblich gewesen war, ist der Regelungsprosa der Dienstvorschriften später zum Opfer gefallen.
Die „Meistererzählung“ wurde ausgedünnt zu einem Kanon von Soll-Werten einer „Vorschrift“. Die Ausgangs- und Orientierungspunkte militärischen Handelns wurden an die „Weißbücher“ ausgelagert. Dort forderte man „Strategiefähigkeit“ (Weißbuch 2016), die aber in der Truppe nicht ankam. Damit wurde ein Weg beschritten, auf dem man riskierte, den Kämpfer vom Staatsbürger, den Truppenführer vom Strategen und das Militär von der Politik zu trennen. Folgt man beispielsweise den aktuellen Verlautbarungen aus der Heeresführung, geht es inzwischen vor allem um einen „Mindset“ der Truppe, der auf „Durchsetzungsfähigkeit, Kriegsbereitschaft und Siegesfähigkeit“ im Gefecht gründet. Wie aber sollen der Soldat und die Soldatin heute unter den multiplen Herausforderungen hybrider Konfliktszenarien, niedrigschwelligen Aggressionen der Nadelstiche, unübersichtlicher und asymmetrischer Konfrontationen bestehen, ohne über Sinn, Kontext und Strategie aufgeklärt zu werden?

Das „Handbuch“ sprach eine deutliche Sprache, wenn es unterstrich, dass „sittliche, geistige und seelische Kräfte mehr noch als fachliches Können den Wert des Soldaten in Frieden und Krieg bestimmen.“ Diese Anforderung verwies auf zwei korrespondierende Führungsfragen, die gern getrennt behandelt und praktiziert werden. Zum einen legte das „Handbuch“ großen Wert auf eine qualifizierte Truppen-Information und offene Kommunikation, zum anderen deutete es die Umrisse einer ungeteilten Gesamtführung an, in der sich „innere“ und „äußere“ Führung (der organisatorischen, taktischen und operativen Führung) ergänzen. Zunächst war festgehalten: „Der besser informierte Soldat … ist von vornherein überlegen, denn er kennt die Zusammenhänge, hat den größeren Überblick, kann Einzelheiten besser einordnen.“ Er verfügt über Urteilskraft und Selbständigkeit und damit über die Voraussetzungen, das „dynamisch-technische Gefecht“ zu bestehen, in dem es auf „technische und menschliche Qualitäten, die Fähigkeit, selbständig zu denken, zu entscheiden und zu handeln“ ankommt. Politische Bildung, so kann man zwischen den Zeilen des „Handbuchs“ lesen, soll nicht nur auf Basiswissen abstellen, sondern das Selbstdenken anregen, Zusammenhänge aufzeigen und dadurch die Professionalität des militärischen Handelns steigern.

Es ist nicht frei von einer zeitlosen Ironie, wenn man heute nachliest, was damals über die beiden obersten Ziele „staatsbürgerlicher Unterrichtung“ geschrieben wurde. Die „geistigen Anlagen“ zu üben galt bezeichnenderweise nur als das „vorletzte Ziel“ der Übung, das letzte aber sei der Mensch, „der ein Recht darauf hat, von seinen Vorgesetzten und Vorbildern nicht belogen, sondern informiert zu werden.“ Diese Spitze wendete sich damals gegen Beschönigungen der NSNationalsozialismus-Zeit und den Zweckoptimismus einer rücksichtslosen Truppenführung, die nicht zögerte, die eigenen Leute zu „verheizen“. Dahinter verbirgt sich jedoch ein viel weiterreichendes Führungsproblem. Denn hier war der Punkt angesprochen, an dem sich „innere“ und „äußere“ Führung verbanden, obwohl die Autoren des „Handbuchs“ säuberlich zwischen beiden unterscheiden wollten, indem sie der einen die „geistige Rüstung und Menschenführung“, der anderen hingegen die „organisatorische, operative und taktische Führung“ zuwiesen. Nahm man jedoch die „Auftragstaktik“, das „Führen mit Auftrag“, so ernst, wie es die damaligen (wie die heutigen) Konflikt- und Krisenszenarien nahelegten, so war (und ist) dieses Schubladendenken in der Praxis kaum aufrecht zu erhalten.

Übung Iron Wolf 2019

Das Führungspersonal des Bataillons der NATO-Battlegroup Litauen führt während der Übung Iron Wolf 2019 eine Befehlsausgabe durch.

Bundeswehr/Christian Vierfuß

In der derzeit geltenden Dienstvorschrift (Ziffer 614) wird dem inzwischen Rechnung getragen. Führen mit Auftrag ist mehr als eine „äußere“ Anordnungs- und Befehlstechnik, denn ihre „innere“ Reichweite geht über den taktischen Bezugsrahmen hinaus in den strategischen und politischen Gesamtzusammenhang des militärischen Handelns. Der Figur des „strategic corporal“, die aus den Erfahrungen der Auslandseinsätze entwickelt wurde, steht beispielhaft für diesen Lernprozess, in dem sich die Verlagerung von Führungsaufgaben „nach unten“ und das inhaltliche Zusammenrücken der Führungsebenen abbilden.

Dadurch gewinnt einerseits die Binnenintegration der Streitkräfte neues Gewicht, andererseits stößt die „ebenengerechte“ Selbstbeschränkung an ihre Grenzen. Die alte Faustregel, der Offizier müsse zwei Führungsebenen höher denken können, wird gleichermaßen relevant für nachgeordnete militärische Führer. Dadurch ergeben sich neue Anforderungen an die Ausbildung, aber auch an die Bildung und Erziehung. Schon im „Handbuch“, das sich doch speziell an die Offiziere wenden wollte, wurde unmissverständlich betont: „Was früher nur für die Ausbildung der Führer wichtig war, muss heute die Gesamterziehung bestimmen.“ Die neuen Anforderungen der Landes- und Bündnisverteidigung wie der Kriseneinsätze legen es nahe, die verschiedenen Fäden, die bereits das „Handbuch“ gesponnen hatte, konzeptionell zusammenzuführen.   Eine Innere Führung für heute braucht einen neuen Geist, der sich am Elan der Gründungs- und Aufbauzeit ein Beispiel nehmen sollte. Denn was wäre die Alternative? Die geltende Vorschrift penibel mit Anreicherungen aufzufüllen, um Lücken („Was fehlt noch?“) zu stopfen, das wäre das Schlimmste, was geschehen könnte. Ein Neuansatz hätte hingegen einen anderen Ton anzuschlagen. Die Wir-Gemeinschaft der Streitkräfte ist der Adressat: Welche Truppe wollen wir sein? Das Zweite ist eine argumentative und überzeugende Herleitung militärischer Professionalität aus dem Auftrag, der auf realistischen Konfliktbildern gründet und daraus Folgerungen, Standards und Haltungen ableitet. Das Dritte besteht in der Herausforderung, die Kunst der Verknüpfungen, die die Innere Führung auszeichnet, zu veranschaulichen und auf den aktuellen Stand zu bringen. Hier liegt das eigentliche „Geheimnis“ der gern mystifizierten Konzeption. Schlagkraft verlangt heute, das „heiße“ und das „kalte Gefecht“, die „innere“ und die „äußere“ Führung, Handwerk und Urteilskraft, das Militärische und das Politische nicht nur zusammenzudenken, sondern in einer überzeugenden Konzeption zu integrieren. Das Regelwerk, das daraus folgt, kann man dann anheften.

Dr. Klaus Naumann
Bundeswehr/Jonas Weber


von Klaus Naumann

Bei manchen Mobilgeräten und Browsern funktioniert die Sprachausgabe nicht korrekt, sodass wir Ihnen diese Funktion leider nicht anbieten können.

IF - Zeitschrift für Innere Führung

Vielseitig. Analytisch. Kontrovers.

Weiterlesen