Land ohne Hoffnung? Syrer erwarten eine Perspektive
Land ohne Hoffnung? Syrer erwarten eine Perspektive
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Obwohl vielerorts Waffenstillstand herrscht, wird in Syrien weiterhin gestorben. Jetzt droht ein weiteres Schreckensszenario – der wirtschaftliche Zusammenbruch. Mehr denn je brauchen die Menschen den Wiederaufbau, denn der Hunger droht. Westliche Geldgeber zeigen sich dennoch zurückhaltend. Sie befürchten, von der Aufbauhilfe profitiere allein das Assad-Regime, nicht die Bevölkerung. Weitere Spannungen sind vorprogrammiert und die nächste Flüchtlingsbewegung wohl nur eine Frage der Zeit. Wie kann der Westen Syrien effektiv helfen und welche Rolle sollte Deutschland einnehmen?
Die Bilanz des Krieges in Syrien ist verheerend: Etwa 400.000 Menschen fanden seit Anfang 2011 den Tod, vorwiegend Zivilisten. Forderungen nach demokratischen Reformen, wie sie die ursprüngliche Bürgererhebung gefordert hatte, wurden vom Regime gewaltsam unterdrückt. Dies führte zur Bewaffnung der Opposition. Der folgende Bürgerkrieg, befeuert vor allem vom Ausland, trieb das Land in die Katastrophe. Brutalität, Menschenrechtsverletzungen, Giftgaseinsätze und Flüchtlingsbewegungen prägten die Lage. Im Jahre 2015 entkam Syrien nur knapp dem „GAU“, als es Anhängern des „Islamischen Staates“ (IS„Islamischer Staat“) beinahe gelungen wäre, einen „Gottesstaat“ in Syrien zu errichten. Nur durch entschlossenes Eingreifen multinationaler Streitkräfte (Counter Daesh), darunter auch die Bundeswehr, konnte Schlimmeres verhindert werden.
Im September 2015 begann auch Russland, sich in Syrien am Kampf gegen den IS„Islamischer Staat“ zu beteiligen. Schon bald zeigte sich allerdings, dass die russische Luftwaffe nicht nur Islamisten, sondern sämtliche Gegner des syrischen Präsidenten Assad bombardierte, mit dem Putin selbst verbündet ist. Assad gelang damit in kurzer Zeit ein spektakuläres „comeback“ zurück an die Macht. Und so befinden sich heute 73 Prozent des syrischen Territoriums wieder unter seiner Kontrolle. Dort sind die offenen Kämpfe nun zum Erliegen gekommen. Der Rest des Landes zerfiel in verschiedene Machteinflussbereiche.
Hörfassung „Land ohne Hoffnung? Syrer erwarten eine Perspektive“
Die Lage am Boden
In Nordosten Syriens, östlich des Euphrat, übt die Yekîneyên Parastina Gel (YPG) die militärische Kontrolle aus. Sie gilt als bewaffneter Arm der kurdisch-syrischen Partei der Demokratischen Union. Washington unterstützt die YPG im Kampf gegen den IS„Islamischer Staat“, von der Türkei wird sie als Staatsfeind energisch bekämpft. Die Ölquellen im Osten Syriens – einst wichtige Einnahmequelle des Assad-Regimes - werden heute von Einheiten der USUnited States-Armee selber bewacht. Die türkische Armee hält im nördlichen Syrien eine „Pufferzone“ von ca. 30 KM Tiefe und mehr als 100 KM Breite entlang der türkischen Grenze besetzt. Im Nordwesten, in der Provinz Idlib, ist der Krieg noch voll präsent. Vor allem „Rebellen“ und radikale Islamisten der Al-Nusra haben sich dorthin vor den Assad-Truppen geflüchtet. Assad beabsichtigt, das Gebiet zurückzuerobern, seine Armee ist aber für größere Alleingänge zu schwach. Meist operiert sie im „Windschatten“ der russischen Luftwaffe. Letztere wiederum unterhält in Syrien eine größere Basis bei Hmeimim (nahe Latakia) an der Mittelmeerküste. Auch Russlands Marine ist in Syrien präsent und betreibt bei Tartus einen wichtigen Stützpunkt. Beide russische Militärbasen gelten als Hauptdrehscheiben des Waffennachschubes für die Assad-Truppen. Ferner erprobt Russland dort seinen neuen Kampfpanzer T-14 Armata und experimentiert mit Splitter- und Clusterbomben. Modernste Luftabwehrraketen vom Typ S-400 (Reichweite 400 KM) sichern das Terrain. Schon mehrfach kam es in der Region zu gefährlichen Verwicklungen, etwa beim Abschuss einer Suchoi Su-24 der russischen Luftwaffe, herbeigeführt durch eine türkische F-16 am 24. November 2015. Wer immer zukünftig militärische Aktionen im syrischen Luftraum plant, ist gut beraten, sich zuvor das Plazet von Putin einzuholen. Dies gilt auch für den Iran, dessen Milizen auf syrischem Boden operieren. Putin toleriert dies, unterhält er in Syrien doch mit dem Iran ein „Zweckbündnis“, um das Assad-Regime zu stützen.
Die humanitäre Situation – ein einziges Desaster
Heute herrscht in Syrien vielerorts gespenstische Friedhofsruhe. Die Bevölkerung steht vor einem riesigen Scherbenhaufen. Angehörige höherer Bildungsschichten, junge Männer, Wehrdienstverweigerer und Dissidenten haben das Land längst verlassen. Und kaum jemand denkt an Rückkehr. Seit Anfang 2020 sind die Preise für Nahrungsmittel, für Strom, Benzin und andere Grundversorgungsprodukte drastisch gestiegen. Importwaren sind kaum noch erschwinglich. Die Währung des Landes wertete während des Bürgerkrieges von 50:1 auf 4.000:1 pro USUnited States-Dollar ab. Drei Viertel leben nun von weniger als einem Dollar pro Tag und damit unterhalb der Armutsgrenze. Oft helfen nur Hilfszahlungen von Verwandten aus dem Ausland, die existenzbedrohende Situation zu bewältigen. Da kaum noch Arbeitsplätze vorhanden sind, sitzen zahlreiche Syrer, meist junge Männer, „auf gepackten Koffern“.
Schuld an der wirtschaftlichen Misere ist eine Vielzahl von Faktoren: Die physischen Kriegseinwirkungen, Vetternwirtschaft, Korruption, politische Willkür und nicht zuletzt der Zusammenbruch des Bankensystems im Nachbarland Libanon. Hinzu kommt aktuell die verheerende Corona-Pandemie in Syrien. Die wenigen noch intakten Krankenhäuser stehen an der Belastungsgrenze. Viele Ärzte haben das Land verlassen. Die strikten Sanktionen des Westens, etwa das Exportverbot von Rohöl und Agrargütern sowie Reisebeschränkungen, verschärfen die Lage von Tag zu Tag. Humanitäre Hilfslieferungen erreichen das Land nur unter Mühen, weil nur ein einziger Zugangsweg nach Syrien noch genutzt werden darf. Spenden- und Hilfsgelder versickern nicht selten im Machtapparat. Geschäftliche Finanztransfers mit Syrien stehen im Sinne des USUnited States-amerikanischen „Caesar Act“ unter Strafe. Washingtons Ziel dahinter ist es, mit maximalem Druck den „Regime-#enChange“ in Damaskus herbeizuführen.
Das Konzept entpuppte sich bisher jedoch als Fehlschlag. Die meisten Sanktionen werden schlicht unterlaufen, da Assads Verbündete ihm die Treue halten. Mit russischen Waffen, iranischem Öl und Hilfslieferungen aus China manövriert er seinen Machtapparat durch die Krise. Bahrain, Oman und die VAE haben ihre diplomatischen Beziehungen zu Damaskus längst wiederhergestellt. Und in Syrien selbst neigen immer mehr Menschen dazu, die Herrschaft Assads zu tolerieren. Denn viele fürchten sich weit mehr vor einem Wiederaufflackern der offenen Kämpfe und den Islamisten als vor möglichen Repressalien des Regimes. Forderungen aus der Politik und von Hilfsorganisationen mehren sich, die strikten Sanktionen gegenüber Syrien zu überdenken. Immer klarer wird, dass sie das Leid der Zivilbevölkerung verstärken, aber nur begrenzt dem Regime schaden. Ideenlosigkeit prägt die Lage. Neue Strategieansätze sind längst überfällig, um den veränderten Realitäten Rechnung zu tragen.
Friedensverhandlungen und Wiederaufbauhilfe
Dass nach zehn Jahren Krieg noch immer keine repräsentative Friedenskonferenz für Syrien – unter Einschluss aller Beteiligten – in Sicht ist, wirft ein fahles Licht auf die zuständige UNOUnited Nations Organization. Anträge im UNUnited Nations-Sicherheitsrat wurden immer wieder durch die Vetomächte zu Fall gebracht, da deren Interessen in Syrien stark auseinanderlaufen. Folgende Punkte sind dringend zu verhandeln:
- Möglichkeiten zur Beruhigung der militärischen Lage landesweit;
- Sicherheitsgarantien für alle Beteiligten und Konfliktparteien;
- die politische Zukunft des Assad-Regimes und Syriens insgesamt sowie;
- Modalitäten für den Wiederaufbau.
Laut Berechnungen von UNOUnited Nations Organization-Experten müssten für den Wiederaufbau Syriens etwa 400 Mrd. Dollar generiert werden. Dazu zählen Reparaturen von Strom- und Wasserleitungen, Schulen, Krankenhäusern, Fabriken und Wohnhäusern. Die Blicke richten sich vor allem auf die EUEuropäische Union und die USA. Wie hoch deren Zahlungsbereitschaft ausfällt, wird davon abhängen, ob Assad politischen Reformen zustimmt. Brüssel fordert im Einklang mit Washington, u.a. eine Ablösung seiner Person, eine neue Verfassung, freie Wahlen, die Freilassung politischer Gefangener, eine Amnestie für Verfolgte und die Rückgabe konfiszierten Eigentums. Wie realistisch und sinnvoll diese Forderungen zum jetzigen Zeitpunkt (noch) sind, ist fraglich. Denn Assad sitzt mit Hilfe seiner Verbündeten fester im Sattel als zuvor und zeigt keine Absicht zurückzutreten. Im Gegenteil: Ende Mai 2021 ließ er sich ein weiteres Mal für sieben Jahre im Amt bestätigen. Geflüchtete Auslandssyrer, derzeit etwa sieben Millionen, konnten bzw. wollten an der Wahl nicht teilnehmen. In vielen Ländern wurde sie daher als nicht repräsentativ bezeichnet und auch nicht anerkannt. Bundesaußenminister Heiko Maas machte dazu deutlich, dass es „keinen Wiederaufbau ohne echten politischen Prozess“ geben werde. Unangenehm für die EUEuropäische Union ist, dass Mitglieder wie Ungarn, Polen und Tschechien bereits vor zwei Jahren wieder vorsichtige diplomatische Kontakte zu Damaskus hergestellt haben. Ihnen geht es in erster Linie um eine zügige Rückführung syrischer Flüchtlinge. Ob die EUEuropäische Union am Tage einer umfassenden Friedenskonferenz die nötige Geschlossenheit beweisen kann, bleibt somit mehr als fraglich.
Perspektiven für Deutschland
Nach zehn Jahren Krieg sind viele Beteiligte kriegsmüde, scheuen die hohen Kosten weiterer Kämpfe oder drängen auf eine Absicherung ihres errungenen Machtstatus. Jetzt könnte der Moment der Diplomatie gekommen sein. Viele Blicke richten sich hier u.a. auf Deutschland. Wäre Berlin ein geeigneter Vermittler? Unvergessen sind „Glanzstücke“ deutscher Orient-Politik wie etwa die Berliner Libyen-Konferenz (2020) oder die internationale Afghanistan-Konferenz (2001) auf dem Bonner Petersberg. Dabei gelang es den Deutschen durch intensive Geheimdiplomatie „hinter den Kulissen“ und durch gute Kontakte zu allen Seiten, völlig zerstrittene Konfliktbeteiligte an den Verhandlungstisch zu bringen. Auch für eine Syrien-Konferenz käme Deutschland als Mittler in Frage. Denn es verfügt über enormes Vertrauenskapital und große Popularität auf allen Seiten. Beachtlich ist, dass die Bundesrepublik auf Geberkonferenzen für Syrien immer respektable finanzielle Beiträge beisteuerte. Auf der letzten Konferenz im März 2021 betrug der deutsche Anteil fast ein Drittel der insgesamt generierten 5,6 Mrd. Euro. In guter Erinnerung sind manch einem auch die „brüderlichen“ Beziehungen der DDR zur Regierung in Damaskus. Von besonderer Bedeutung aber dürfte die Präsenz der 850.000 Personen starken syrischen Gemeinde auf deutschem Boden sein, etwa fünf Prozent des gesamten syrischen Volkes. Viele von ihnen verfügen über Bildungsabschlüsse, die weit über dem syrischen Durchschnitt liegen. Oft haben sie später in Deutschland noch höhere Abschlüsse erlangt. Zurecht kann hier von der „Zukunftsgeneration“ Syriens gesprochen werden. In Berlin und Damaskus dürfte das Interesse groß sein, deren Kraft, Fähigkeiten und Kontakte am Tag des Wiederaufbaus für Syrien nutzen zu können. Manche „deutsch-Syrer“ haben zwischenzeitlich sogar politische Ämter in Deutschland übernommen oder beabsichtigen, für Mandate in deutschen Parlamenten zu kandidieren. Dies könnte auch zu veränderten Trends in der Syrien-Politik Deutschlands führen. Für die deutsche Wirtschaft könnten die persönlichen Kontakte und die enge Verbundenheit vieler Syrer mit ihrer Heimat zu wichtigen Türöffnern für neue Geschäftsbeziehungen werden. Hieraus ergäbe sich ein deutlicher Vorteil gegenüber der internationalen Konkurrenz, sobald es um die Vergabe von Aufträgen im Rahmen der Wiederaufbauhilfe geht.
Vielfach erörtert wurden auch Einsatzmöglichkeiten der aus anderen internationalen Missionen erfahrenen Bundeswehr in Syrien. Mögliche Einsatzbereiche wären die Kontrolle bzw. die Überwachung illegalen Waffenhandels (ähnlich UNIFILUnited Nations Interim Force in Lebanon), etwaiger Pufferzonen, „humanitärer Schutzzonen“, strategisch wichtiger Erdöl- oder Wasserquellen oder auch von Hilfsgütertransporten etc. Eines könnte der Bundeswehr hierbei sehr nützlich sein, nämlich die große Popularität Deutschlands in Syrien und die „relative Ausgewogenheit“ deutscher Politik im Nahen Osten insgesamt.
Fazit
Über zehn Jahre Krieg in Syrien, wirtschaftlicher Niedergang und die dramatische Lage der Menschen machen einen Strategiewechsel notwendig. Vorbei ist die Zeit von Maximalforderungen und Wunschvorstellungen. Die Sanktionen greifen kaum und treffen womöglich die Falschen. Was bleibt, sind zwei Optionen: Entweder lässt der Westen Syrien fallen. Damit würde das Land zum Vasallenstaat Russlands und – zusammen mit dem Gaza-Streifen – ein „Armenhaus mit Meerblick, am Rande der EUEuropäische Union“. Weitere Flüchtlingsbewegungen wären vorprogrammiert und die Rolle Erdogans als „Torwäch-ter Europas“ gestärkt. Oder aber der Westen versucht, auf Putin einzuwirken, schrittweisen Veränderungen der politischen Machtverhältnisse in Damaskus zuzustimmen. Im Gegenzug könnten – ebenfalls schrittweise – Sanktionen zurückgefahren und finanzielle Leistungen für den Wiederaufbau in Aussicht gestellt werden. In jedem Fall ist dringend Handlungsbedarf gegeben. Denn aktuell steht zu befürchten, dass das Elend der Bevölkerung in Syrien den Islamisten in die Hände spielt. Dann wären die Konsequenzen für die EUEuropäische Union am Ende weit kostspieliger, als zum jetzigen Zeitpunkt Aufbauhilfen zu finanzieren. Deutschland könnte mit einer Verhandlungsinitiative viel zur Entspannung der Lage beitragen.
Dr. Kinan Jaeger
Fehlerkultur - IF 3|21
Fehler passieren. Nur, wer gar nichts macht, macht keine Fehler. Die Frage ist, wie wir mit ihnen umgehen. In der Sommerausgabe der IF (PDF, 8,0 MB) nehmen wir das Thema Fehlerkultur unter die Lupe. Wie die Bundeswehr als Organisation aus Fehlern lernen kann, beschäftigt auch den Generalinspekteur. In einem Interview spricht er über Ergebnisse des Programms „Innere Führung – heute“ des Bundesministeriums der Verteidigung und wirft einen Blick in die Zukunft.
Außerdem im Heft: Eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden mit dem Titel „Hitlers Elitetruppe? Mythos Fallschirmjäger“, ein Essay über die Ethik atomarer Bewaffnung und ihre Konsequenzen für die Innere Führung und vieles mehr. Haben Sie Kritik, Ideen - oder einen Fehler gefunden? Wir freuen uns über jedes Feedback!