Gewissensfrage: Ethik nuklearer Abschreckung
Gewissensfrage: Ethik nuklearer Abschreckung
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Mit der Wiederbelebung der Landes- und Bündnisverteidigung rücken 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges Fragen nach der nuklearen Abschreckung und ihrer Verantwortbarkeit wieder in den Blick. Sie müssen zum Gegenstand der ethischen Bildung in den Streitkräften werden. Die Frage der „Legitimation“, eines der Ziele der Inneren Führung, stellt sich verschärft angesichts der mit Atomwaffen verbundenen Dilemmata. Das Leitbild eines „gewissensgeleiteten Gehorsams“ bedarf der sorgfältigen Behandlung mit Blick auf diese Grenzfragen des soldatischen Dienstes.
Der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan markiert eine deutliche Zäsur. Nach 20 Jahren der vorrangigen Orientierung am Bild einer „Einsatzarmee“ tritt die Landes- und Bündnisverteidigung in den Fokus. Damit steht auch die Innere Führung vor der nächsten Stufe ihrer Weiterentwicklung. In mancher Hinsicht sind die Aufgaben denjenigen aus der Zeit vor 1990 ähnlich. Unter den vier Zielen der Inneren Führung, Legitimation, Integration, Motivation sowie Gestaltung der inneren Ordnung, ist dasjenige der „Legitimation“ wohl am stärksten auf jeweils eigene Einsicht und Urteilskraft angewiesen. Unter dem Leitbegriff „Legitimation“ geht es um die „Sinnhaftigkeit des Dienens“, um „ethische, rechtliche, politische und gesellschaftliche Begründungen für soldatisches Handeln“ (ZDv A-2600/1, Ziff.401). Die Auslandseinsätze zehren letztlich von einer menschenrechtlichen Begründung, also vom Konzept der „Nothilfe“. Landes- und Bündnisverteidigung haben ihren Grund im Recht auf Selbstverteidigung, das nach Artikel 51 der UNUnited Nations-Charta auch anerkanntes und tragendes Moment der internationalen Ordnung ist. Wie aber steht es um die moralische Legitimität einer Selbstverteidigung, die im Rahmen der nuklearen Abschreckung auf der Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen beruht? Die komplexen technischen und politischen Zusammenhänge dieser Frage können hier nicht ausführlich diskutiert werden. Es geht vielmehr um ein Plädoyer dafür, einer Ethik nuklearer Abschreckung im Rahmen der ethischen Bildung in der Bundeswehr ein besonderes Augenmerk zu widmen. Hier kommt, so meine These, in besonderer Weise zum Ausdruck, welchen Herausforderungen sich die Innere Führung mit ihrem Leitbild des „gewissengeleiteten Gehorsams“ (ZDv A-2600/1, Ziff.401) zu stellen hat. Nur einige Worte zum politischen Kontext dieser Frage. Am 22. Januar trat der Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW, AVV) in Kraft. Damit gilt eine neue völkerrechtliche Norm, die, so der Vertragstext, „Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz von Kernwaffen“ verbietet. Deutschland hat den Vertrag ebenso wenig wie alle anderen NATONorth Atlantic Treaty Organization-Staaten unterzeichnet, steht der AVV doch dem Selbstverständnis der NATONorth Atlantic Treaty Organization als nukleares Bündnis strikt entgegen. Die Einschätzung der politischen Bedeutung des Vertrages ist wenig verwunderlich, kontrovers: Die einen sehen in ihm einen normativen Schub für eine Welt ohne Massenvernichtungswaffen. Andere werten den Vertrag als ein untaugliches Mittel Abrüstungsschritte zu erzielen. Die politische Großwetterlage für nukleare Abrüstung könnte in der Tat kaum ungünstiger sein. Die Abkommen zur nuklearen Rüstungskontrolle laufen aus, die Rüstungskontrollregime sind von Vertrauensverlust geprägt. Die nuklearen Arsenale werden allenthalben modernisiert und neuen strategischen Dispositiven angepasst. Höchst beunruhigend ist etwa die Entwicklung atomarer Gefechtsfeldwaffen. Hinzu kommt, dass eine neue Generation atomarer Schwerkraftbomben wohl auch auf deutschem Boden gelagert wird. Die Argumente, mit denen die Bundesregierung schon die Teilnahme an den Verhandlungen um den AVV abgelehnt hat, sind gewichtig: In einer Zeit der Erosion der multilateralen Ordnung wäre es fatal, das westliche Bündnis dadurch zu schwächen, dass mit einem Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe Glaubwürdigkeit und Vertrauen verspielt werden. Dieses im Kern politische Argument ist auch normativ alles andere als trivial. Gleichwohl sind die deutschen Debatten merkwürdig ausgekühlt, anders als in der hochgradig erregten Atmosphäre der 1980er Jahre um die „NATONorth Atlantic Treaty Organization-Nachrüstung“. Man hört, die nuklearen Arsenale seien „politische Waffen“, deren Ratio darin besteht, dass sie durch ihre bloße Existenz ihren eigenen Einsatz verhindern. Kein rational agierender Gegner wäre bereit, die Bürde der „inakzeptablen Kosten“ eines Einsatzes von Atomwaffen zu tragen. Freilich könnte sich dieses Kalkül mit der neuen Generation von Atomwaffen verändern.
Hörfassung „Gewissensfrage - Ethik nuklearer Abschreckung“
Die Wertungen sind höchst umstritten. Die eine Position besagt: Atomare Gefechtsfeldwaffen könnten die nukleare Eskalationsspirale beherrschbar halten und damit einen begrenzten Atomkrieg führbar machen. Im Ergebnis würde die Sicherheit Europas von den Garantien der USA entkoppelt. Die andere Position hält entgegen: Gerade die Drohung einer gleichsam automatischen Eskalation hin zum Einsatz strategischer Atomwaffen ist unglaubwürdig, weil sich die USA einem Automatismus, der zur Selbstzerstörung führte, niemals beugen würden. Gerade um diese „Glaubwürdigkeitslücke“ zu schließen, seien, so die Vertreter der ersten Position, Kernwaffen mit niedriger Sprengkraft nötig. Nur auf diese Weise könne man russischen Planungen einer „escalation #enfor deescalation“ begegnen, deren Kalkül darin bestehen könnte, die Zögerlichkeit der NATONorth Atlantic Treaty Organization, eine unbeherrschbare nukleare Eskalation in Gang zu setzen, auszunutzen. Für unseren Zusammenhang wichtig sind nun die normativen Implikationen dieser Fragen und ihre Bedeutung für die ethische Bildung in der Bundeswehr. Die Frage nach verantwortbarem Handeln im Rahmen der nuklearen Teilhabe ist für Soldaten höchst beunruhigend. Dabei geht es nicht darum, die nukleare Teilhabe Deutschlands in Frage zu stellen. Thema sind grundsätzlicher die Ambivalenzen nuklearer Abschreckung und der damit verbundenen Drohung auch des Einsatzes von Atomwaffen. Gerade im Rahmen des Leitbildes der Inneren Führung sollte man die Berechtigung dieser Fragen anerkennen und die Auseinandersetzung der Soldaten mit diesen Fragen bewusst fördern, vor allem derjenigen, die im Konfliktfall am Atomwaffeneinsatz beteiligt wären. Die Spannung zwischen Auftrag und Gewissen kommt wohl an kaum einer anderen Stelle derart zum Ausdruck, wie in der Vorbereitung auf den hypothetischen Fall eines Befehls zum Einsatz von Atomwaffen. Was könnte es angesichts eines derartigen Szenarios bedeuten, dass „Soldatinnen und Soldaten (…) stets in der Lage sein (müssen) selbstverantwortlich zu leben und zu handeln und Verantwortung für andere übernehmen zu können“? (ZDv A-2600/1 Ziff.508). Und: Wie konturiert sich an diesem Beispiel das Ziel der Inneren Führung, das „Gewissen“ zu „schärfen“ und „moralische Urteilsfähigkeit“ zu entwickeln? Die völkerrechtliche Beurteilung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen ist grundsätzlich eindeutig, in ihrer Anwendung auf den Einsatz von Kernwaffen allerdings, wie sollte es anders sein, umstritten. Die verschiedenen Rechtstraditionen urteilen hier auch unterschiedlich. Dies kann hier nicht verfolgt werden. (vgl. etwa ZDv A-2141/1, Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten, Ziff. 403 ff.). Im Hintergrund der völkerrechtlichen Regelungen steht aber ein normatives Konzept, die Kriterien der Lehre des „gerechten Krieges“. Leitend für das „ius in bello“ sind zum einen das Kriterium der Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten (discriminatio) und zum anderen das Kriterium der Verhältnismäßigkeit des Gewalteinsatzes (proportionalitas).
Eine Ethik militärischer Gewalt, die sich jenseits der Fragen der Effektivität und der Legalität auch dem Problem der Legitimität stellt, wird auch heute nicht auf die Tradition der Lehre vom „gerechten Krieg“ verzichten können. Dabei ist zu beachten, dass diese Lehre keine ideologische Legitimationsstrategie für schrankenlosen Gewalteinsatz darstellt. Im Gegenteil ist mit ihr die Intention strikter Gewaltbegrenzung verbunden. In der englischsprechenden Welt ist die Behandlung „Just-War“-Tradition in den umfassenden Ethik-Programmen vor allem in der Offizier-Ausbildung obligatorisch. Die Just-War-Tradition bietet einen Rahmen, innerhalb dessen die moralischen Fragen überhaupt beschrieben und bearbeitet werden können. Sie beruht auf einem Normenbestand, in dem eine deontologische, also auf Recht und korrespondierende Pflichten, bezogene Ethik ebenso berücksichtigt wird wie eine teleologische oder „Güter“-Ethik, die danach fragt, wie (die Güter) Gerechtigkeit und Frieden bewahrt und gefördert werden können. Im Zusammenhang mit diesen Normen steht von vornherein die Aufgabe, in Pflichtenkollisionen und bei Güterabwägungen zu verantwortlichen Urteilen und auch zu Kompromissen zu finden. Diese Perspektive ist gerade in der Frage nuklearer Abschreckung wichtig, weil diese Abwägungen in unausweichliche Dilemmata führen. Die „Primärbeurteilung“ (D. Henrich) anhand von Rechten und Pflichten kann nur zu dem Schluss kommen, dass der Einsatz von Atomwaffen und schon die Drohung mit diesem Einsatz kategorisch verwerflich sind. Eine zweite güterethische Erwägung hält allerdings dagegen, dass die Atomwaffen nicht „wegerfunden“ werden können und sie bislang in einem Gleichgewicht des Schreckens der Friedenssicherung gedient haben, eine einseitige Abschaffung dagegen einen dramatischen Anreiz für den kriegerischen Konflikt setzte, weil die Kosten eines bewaffneten Konflikts nicht mehr unkalkulierbar wären. Diesem ungemein komplexen Dilemma hat sich auch die ethische Bildung in der Bundeswehr zu stellen, wenn sie die Soldatinnen und Soldaten nicht gerade an diesen Grund- und Grenzfragen ihres Dienstes allein lassen will. Der Philosoph Dieter Henrich formulierte mit Blick auf die nukleare Abschreckung schon im Jahr 1990 die entscheidende Aufgabe: Es gehe darum „Verhältnisse, die weder als richtig noch anders als bedrohlich beurteilt werden können, dennoch als unabwendbar anzuerkennen, im Ausgang von ihnen aber daraufhin zu denken und zu wirken, daß diese Verhältnisse (…) zu einer ihnen entsprechenden Vernunftform hin umgestaltet werden.“
Dr. Roger Mielke
Fehlerkultur - IF 3|21
Fehler passieren. Nur, wer gar nichts macht, macht keine Fehler. Die Frage ist, wie wir mit ihnen umgehen. In der Sommerausgabe der IF (PDF, 8,0 MB) nehmen wir das Thema Fehlerkultur unter die Lupe. Wie die Bundeswehr als Organisation aus Fehlern lernen kann, beschäftigt auch den Generalinspekteur. In einem Interview spricht er über Ergebnisse des Programms „Innere Führung – heute“ des Bundesministeriums der Verteidigung und wirft einen Blick in die Zukunft.
Außerdem im Heft: Die Lage im kriegszerstörten Syrien, eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden mit dem Titel „Hitlers Elitetruppe? Mythos Fallschirmjäger“ und vieles mehr. Haben Sie Kritik, Ideen - oder einen Fehler gefunden? Wir freuen uns über jedes Feedback!