Agile Fehlerkultur – Realität (auch) in der Bundeswehr?
Agile Fehlerkultur – Realität (auch) in der Bundeswehr?
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Fehlerkultur meint die Art und Weise, wie wir mit Fehlern und den daraus erwachsenden Konsequenzen umgehen. Die einen unterlassen alles, was zu Fehlern führen könnte oder strafen die ab, denen Fehler passieren. Andere sehen Fehler als Teil des Lebens an und nutzen sie als Chance für Lernen wie auch kontinuierliche Verbesserungen und Weiterentwicklung. Ein in diesem Sinne positiv gelebter Umgang mit Fehlern setzt Empathie, Offenheit, Mut, Transparenz und natürlich gegenseitigen Respekt voraus und braucht einen lösungsorientierten Umgang miteinander. Was in der Konsequenz heißt, dass kalkulierbare Risiken zugelassen werden, um mutiges Entscheiden und Handeln zu fördern.
Damit wir uns nicht missverstehen: eine konstruktive Fehlerkultur billigt kein Verhalten und Handeln, dessen negativen Folgen bzw. Ergebnisse absehbar und vermeidbar waren wie auch keine Fehler, die aus nachlässiger Planung und unsauberem Arbeiten resultieren oder solche, die zwar Kosten verursachen, aber keinen angemessenen Nutzen stiften. Eine solche Fehlerkultur akzeptiert Fehler, die trotz bester Absicht sowie nach bestem Wissen und Gewissen bei Veränderungsinitiativen und Innovationen, bei neuen Ansätzen, kreativem Handeln oder bei Entscheidungen unter (Zeit-) Druck entstehen können. Wichtig dafür ist gegenseitiges Vertrauen sowie der konstruktive Umgang mit diesen Fehlern.
Wenn wir auf unsere persönlichen Erfahrungen zurückgreifen und darüber diskutieren würden, was es für einen konstruktiven Umgang mit Fehlern braucht, dann kommen wir sicherlich schnell auf Werte, die auch denen in einer von Agilität geprägten Mentalität entsprechen. Insoweit macht es Sinn, sich mit diesen einmal näher zu befassen.
Agilität - der Begriff ist zunächst einmal eine Allzweckwaffe, um in Gesprächen und Präsentationen Menschen zu beeindrucken. Erstens hört sich Agilität modern an und zweitens ist es nahezu unmöglich, einvernehmlich zu definieren, was konkret gemeint ist. In Besprechungen und Präsentationen wird der Begriff manchmal so häufig verwendet, dass er Anlass für eine Partie „Bullshit-Bingo“ ist, also nicht wirklich ernst genommen wird.
Was könnte gemeint sein, wenn wir agil oder Agilität (auch) im militärischen Kontext verwenden? Bezieht sich der Begriff auf physische Aspekte und damit bspw. auf schnelle und kraftvolle Bewegungen auf dem Schlachtfeld? Oder ist mentale Agilität gemeint und damit die Fähigkeit, kreativer zu denken und flexibler zu handeln als der Gegner? Ist es eine technologische Agilität und damit das Potenzial, Technologien schneller als andere zu entwickeln und einsatzbereit zu machen? Bedeutet kaufmännische Agilität die Fähigkeit, (Rüstungs-)Projekte mit einem Minimum an Bürokratie und Rückversicherung effizient und effektiv zu einem Abschluss zu bringen? Last but not least: Es könnte auch strategische Agilität sein und damit die Fähigkeit, in Szenarien zu denken und vorrausschauend Entscheidungen zu treffen.
Das Schöne ist, dass in der jeweiligen Situation ein einzelner, mehrere oder sogar alle diese Facetten der Agilität gemeint sein können. Oder Agilität wird in seiner Grundbedeutung und damit im Sinne von flexibel, initiativ, antizipativ und dynamisch verwendet.
Was verbirgt sich grundsätzlich hinter „Agilität“?
Der Ursprung der Agilität liegt jetzt 20 Jahre zurück - im Jahr 2001 trafen sich erfahrene Softwareentwickler im USUnited States-amerikanischen Utah zum Netzwerkeln. Aus der -wie berichtet wird- feucht-fröhlichen Runde entstand ein mittlerweile in mehr als 60 Sprachen veröffentlichtes Manifest mit vier hier in ihrer Quintessenz dargestellten Werten:
- Menschen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen.
- Funktionsfähigkeit hat Vorrang vor umfassender Dokumentation.
- Zusammenarbeit (insbesondere mit dem Auftraggeber) hat Vorrang vor Formalismus.
- Das angemessene Eingehen auf Änderungen hat Vorrang vor strikter Planverfolgung.
Diese Werte sind weder heute neu noch waren sie es damals; die Veröffentlichung des Dokuments „Agiles Manifest“ löste jedoch einen Kulturwandel im (Projekt-)Management aus. Die darin enthaltenen, kurz und präzise formulierten Leitsätze schärften nicht nur das Bewusstsein für eine neue Form der Projektbearbeitung, sondern auch für die Ideen, die grundsätzlich hinter diesen Überlegungen stehen. Was dazu führt, dass sich „Lenker und Denker“ seit mittlerweile zwei Jahrzehnten damit befassen, die genannten vier Werte des agilen Ansatzes mit den dahinterliegenden zwölf Prinzipien agilen Arbeitens auf alle Bereiche des Denkens, Verhaltens und Handelns wie auch die Gestaltung des Miteinanders zu übertragen.
Ist „Agilität“ ein Begriff, der zu Realität einer militärischen Organisation passt?
Soldatisches Handeln wird wie jedes menschliche Handeln nicht nur von Strukturen, sondern auch von sogenannten „weichen“ Faktoren geprägt. Und genau diese sind es vor allem, die zu Agilität befähigen oder diese behindern. Denken wir über einige Aspekte nach, die hier wirken (könnten).
- Naturgemäß sind militärische Organisationen eher stabil, standardisiert und streng hierarchisch strukturiert. Mit der Konsequenz, dass das Tempo von Veränderungen insbesondere in Friedenszeiten und im Vergleich zur Industrie oder auch zur Gesellschaft eher langsam ist.
- Eine Jahrzehnte lang seitens der Politik geforderten Sparpolitik begünstigte in weiten Teilen restriktives Denken und eine risikoscheue Kultur sowie ein entsprechendes Verhalten und Handeln.
- Länger laufende Einsätze, Programme oder Projekte erfordern viel persönliches Engagement, Zeit und Energie. Verständlicherweise akzeptieren Soldatinnen und Soldaten in solchen persönlichen Investitionen (wie andere Menschen auch) nur ungern, dass Aufträge, Themen und Inhalte manchmal vom politischen Geschehen überholt werden und schnelle Änderungen von Fokus und Priorität eines Auftrags erforderlich machen.
- Wie in der Politik oder in Non-Profit-Organisationen fördern auch militärische Strukturen „Patronage“ in der Karriere. Vielfach werden Funktionen potenziell mit Menschen mit demselben Hintergrund, ähnlichen Erfahrungen und Überzeugungen besetzt. Dies kann unbeabsichtigt zu einem Ähnlichkeiten und Veränderungsmüdigkeit geprägten Gruppendenken führen.
- Verstärkt wird dies durch einen strukturellen Aspekt: Militärische Karriere ist grundsätzlich vertikal. Sie bietet der Soldatin und dem Soldaten sehr begrenzt die Möglichkeit, über den Tellerrand der eigenen Profession oder Laufbahn hinauszublicken und sich horizontal zu entwickeln. Dies führt vielfach zu vorgezeichneten Wegen in die höheren Dienstgrade und Funktionen.
Aus dieser beliebig zu ergänzenden Systembeschreibung ergeben sich Hindernisse für gelebte Agilität und eine konstruktive Fehlerkultur. Ein wesentliches Hindernis ist „Risikovermeidung/-scheu“. Denn: Agilität bringt sowohl Risiken als auch Chancen mit sich. Wenn Soldatinnen und Soldaten ein Risiko für ihr Fortkommen vermuten, könnte es dazu führen, dass sie zögern, eine Chance zu ergreifen oder ein Risiko einzugehen. Und dies in der sicherlich hier und da berechtigten Annahme, dass ein „auf Nummer sicher gehen“ und damit das Einhalten von Standards und Planungen oder auch das uneingeschränkte Einverständnis mit der Befehlskette und ihren Entscheidungen ohne Reflexion und Anpassung an geänderte Rahmenbedingungen zu Anerkennung und damit perspektivisch auch zu (Be-)Förderung führe.
Wie bereits angesprochen ist „Patronage“ ein weiterer Stolperstein auf dem Weg zu mehr Agilität. Meine Erfahrungen aus vielen Jahren strategischer Personal- und Führungsarbeit in großen Organisationen haben mich gelehrt, dass es schwierig, ja manchmal unmöglich ist, ein durch Protektion (oder etwas provokanter formuliert: durch „Seilschaften“) entstandenes (Führungs-)Team in seinem Denken, Verhalten und Handeln signifikant zu verändern. Denn: Erfahrungsgemäß ist es unwahrscheinlich, dass Menschen, die die Karriereleiter hinaufgeklettert sind, indem sie einer Gallionsfigur auf ausgetretenen Pfaden gefolgt und dabei Risiken vermieden haben, plötzlich zu Fürsprechern und Förderern von spürbaren Veränderungen werden. Vielmehr neigt ein so entstandenes System dazu, Kopien von sich selbst herzustellen nach dem Motto „Schmidt sucht Schmidtchen“ oder auch „Gleiches fördert Gleiches„. Das macht Veränderungen und den Wandel zu einem wenig kreativen und langsamen Prozess.
Die Einsicht in solche Hindernisse ist schwer. Und Konsequenzen zu ziehen noch viel schwerer. Insoweit ist die in der einen oder anderen Organisation beobachtbare Realität, dass bei fehlender oder nicht gewollter (Ver-)Änderungsbereitschaft agile Ansätze mit programmatischen, budgetären, politischen und karrierebezogenen Argumenten bereits im Keim erstickt werden.
Führen mit Auftrag – agiles Handeln in der Bundeswehr?!
Immer mehr Unternehmen investieren Ressourcen, um agiles Denken, Verhalten und Handeln in ihre Unternehmens-DNA und die Köpfe ihrer Führungskräfte und Mitarbeitenden „einzubauen“.
Pendant der Bundeswehr zu dem, was in der Privatwirtschaft mit Agilität gemeint ist, ist „Führen mit Auftrag“. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts von den Preußen praktiziert, ist dieses Prinzip Teil der Bundeswehr-DNA und eine geübte und bewährte (agile) Praxis. Und eine Fähigkeit, die Unternehmen an ehemaligen Soldatinnen und Soldaten schätzen, wenn sie in die unternehmerische Realität übersetzt und eingebracht wird.
Schauen wir auf einige Aspekte, die dies verdeutlichen: Unter dem Stichwort „Agilität“ trifft man im zivilen Kontext immer wieder auf Begriffe wie „Selbstorganisation“, „Eigenverantwortung“ oder „selbstorganisierte Teams “. Das bedeutet vor allem, dass soweit wie zweckmäßig nicht nach standardisierten Abläufen und engen Vorgaben gehandelt wird. Vielmehr tritt interdisziplinäres, vernetztes, flexibles und eigenverantwortliches Zusammenarbeiten in den Vordergrund. Das führt zu neuen, kreativen Lösungen und Innovationen, die nicht nur gedacht, sondern schnell umgesetzt werden. Auf diesem Weg ist auch die Bereitschaft zu Experimenten gefragt, wobei Fehler oder Rückschläge akzeptiert sind. Letztere sind nicht nur Anstoß für eine alternative, bessere Lösungsfindung, sondern ermöglichen auch das Lernen. Die Selbstorganisation von Teams umfasst zudem, dass die Aufgaben der einzelnen Teammitglieder nicht „von oben“ verteilt werden. Vielmehr bringen sich alle aktiv und der Situation angemessen mit den spezifischen Kenntnissen, Fähig- und Fertigkeiten sowie Erfahrungen ein. Dabei ist gelebte Eigenverantwortung ein Muss -mit dem Ziel, gemeinsam mit anderen die bestmögliche Lösung zu entwickeln und erfolgreich zu sein. Übersetzt in die militärische Sprache, beschreibt das recht treffend, was wir unter „Führen mit Auftrag“ verstehen. Dies ist, so formuliert es die Zeitschrift für Innere Führung (IF) in der Ausgabe 3|2020, eine zu Selbständigkeit, Mitdenken und Verantwortung anleitende Führungsmethode der Bundeswehr, bei der ein Auftrag erteilt wird, der nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der Absicht der Vorgesetzten und unter Einhaltung von Auflagen und eines Zeitansatzes sowie mit den zur Verfügung gestellten Ressourcen (=Kräfte und Mittel) zur Auftragserfüllung umgesetzt wird.
(M)ein Fazit
Jede Organisation, die hierarchisch strukturiert ist und entsprechend agiert, ist grundsätzlich nicht effizient und effektiv genug, um sich an schnelle Veränderungen im Umfeld anzupassen. Wenn es gelingt, aus einer –wie es im #GIDSstatement Nr. 5 vom Dezember 2019, des German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, heißt- „schwerfälligen, überregulierten Organisation“ eine hybride Organisation zu machen, die sich vom Tradierten löst. Um themen- und auftragsbezogen zu agieren und die Vorteile von Agilität (flexibles Reagieren und ggf. Umsteuern) und Hierarchie (Sicherheit über Handlungsspielraum des jeweiligen Auftrags) zu kombinieren. Dann sind wir auf dem richtigen Weg in die Zukunft. Das dies gelingen kann, zeigen unsere Einsätze! Die daraus resultierenden Erfahrungen sollten wir nun für unsere Routinen bewerten, wo immer möglich umsetzen und aktiv leben – eben nicht nur im Einsatz. Insoweit ist „Agilität“ für uns in der Bundeswehr kein Schlagwort, sondern ein jenseits der militärischen (Einsatz-) Aufgaben oft (noch) brachliegendes Potenzial, das gehoben werden sollte.
Erich R. Unkrig
Fehlerkultur - IF 3|21
Fehler passieren. Nur, wer gar nichts macht, macht keine Fehler. Die Frage ist, wie wir mit ihnen umgehen. In der Sommerausgabe der IF (PDF, 8,0 MB) nehmen wir das Thema Fehlerkultur unter die Lupe. Wie die Bundeswehr als Organisation aus Fehlern lernen kann, beschäftigt auch den Generalinspekteur. In einem Interview spricht er über Ergebnisse des Programms „Innere Führung – heute“ des Bundesministeriums der Verteidigung und wirft einen Blick in die Zukunft.
Außerdem im Heft: Die Lage im kriegszerstörten Syrien, eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden mit dem Titel „Hitlers Elitetruppe? Mythos Fallschirmjäger“ und vieles mehr. Haben Sie Kritik, Ideen - oder einen Fehler gefunden? Wir freuen uns über jedes Feedback!