Auf dem Vormarsch. Die Türkei als geostrategischer Player in aktuellen Konflikten
Auf dem Vormarsch. Die Türkei als geostrategischer Player in aktuellen Konflikten
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- Türkei
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Bereits 1952 trat die Türkei der NATONorth Atlantic Treaty Organization bei. Heute stellt Ankara nach den USA das größte Gruppenkontingent des Bündnisses, und gibt 2,8 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Streitkräfte aus. Wegen ihrer strategischen Lage im Süden Russlands und als Zugang zum immer krisenhaften Nahen Osten ist die Türkei von unschätzbarem Wert für die Allianz.
Trotzdem begegnet der Türkei heute große Skepsis im Bündnis. Gründe dafür sind Ankaras Erwerb des russischen Raketenabwehrsystems S-400, die enge Kooperation mit Russland in Syrien und Aserbaidschan, die anhaltende militärische Drohkulisse gegen den NATONorth Atlantic Treaty Organization-Partner Griechenland und gegen das EUEuropäische Union-Mitglied Republik Zypern. Besonders beunruhigend ist außerdem die tiefe Zerrüttung der Beziehungen zwischen Ankara und Washington, die im Nahen Osten über keine gemeinsame Einschätzung der Bedrohungslage mehr verfügen. Hinzu kommen die Rivalität Frankreichs und der Türkei im östlichen Mittelmeer, im Irak und in Libyen, aber auch in Afrika und die Säuberung der türkischen Streitkräfte von Pro-NATONorth Atlantic Treaty Organization-Kadern, die nach dem Putschversuch vom 17. Juli 2016 eingesetzt hat.
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Gründe für diese Entwicklung gibt es viele und nicht alle liegen auf Seiten der Türkei. So ruft die mangelnde Bereitschaft der USA, Rücksicht auf die Interessen ihrer Partner in der Allianz zu nehmen, auch in Europa Kritik hervor. Und von Ankara aus betrachtet hat die Politik des Westens entscheidend zur Zerstörung staatlicher Strukturen in Afghanistan, Syrien und dem Irak beigetragen und damit Nachbarregionen der Türkei hochgradig destabilisiert. Doch mindestens genauso wichtig ist es, dass die Türkei sich heute nicht mehr – wie in der Zeit des Kalten Krieges – primär als Teil Europas oder des Westens definiert. Seit 2002 die noch heute regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) von Recep Tayyip Erdogan die Macht antrat, hat sich im Land langsam, aber unaufhaltsam eine religiös-konservative Tiefenströmung durchgesetzt. In der Innenpolitik wendet sich diese Strömung gegen die harte, religionsfeindliche Politik der Säkularisierung und Verwestlichung, wie sie seit den Tagen des Republikgründers Kemal Atatürk von der alten bürokratischen Elite vorangetrieben worden ist. Außenpolitisch sieht diese Strömung in der Türkei ein Land mit großer Geschichte, das erneut dazu aufgerufen ist, eine hegemoniale Stellung in seiner Region einzunehmen und auch auf globaler Ebene mitzureden. Eine Voraussetzung dafür ist größere militärische, wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit vom Westen. Die Türkei versucht diese Ziele mit der rasanten Entwicklung einer eigenen Rüstungsindustrie, der Diversifizierung von Waffenlieferanten und der Suche nach neuen Absatzmärkten für die eigene Industrie zu erreichen. Eine zweite Voraussetzung dafür, zur regionalen Führungsmacht von globaler Bedeutung zu werden, sind Veränderungen im System der globalen Ordnung, Machtverschiebungen und die damit einhergehenden politischen und militärischen Konflikte, die einer aufstrebenden Macht Gelegenheit geben, ihren Aktionsradius auszudehnen und Einfluss in Ländern und Regionen zu erlangen, die außerhalb der eigenen Reichweite lagen. Und tatsächlich kann man sagen, dass überall wo die Türkei in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen hat, sich Ankara tonangebend in bestehende Konflikte eingeschaltet hat.
Syrien steht am Beginn des neuen außenpolitischen Aktivismus der Türkei. Als sich 2011 in vielen arabischen Ländern die fromme muslimische Mehrheit aufmachte, die säkularen aber diktatorischen Regime ihrer Länder zu stürzen, wurde die Türkei zur Anti-Status-Quo- Macht. Die türkische Regierung hoffte, in Tunesien, Ägypten und Syrien kämen nun Vertreter der Muslimbrüder an die Macht, die ihr ideologisch nahestehen und ihre Führungsrolle anerkennen würden. Doch in Ägypten putschte 2013 das Militär gegen den Muslimbruder Muhammed Mursi. In Syrien entwickelte sich ein Bürgerkrieg, in dessen Verlauf radikale Islamisten und Dschihadisten gemäßigte islamische Kräfte an den Rand drängten. Und in Tunesien löste der Staatspräsident im Juli dieses Jahres die Regierung auf und entmachtete dadurch die moderaten Islamisten der Ennahda-Bewegung. Als Reaktion auf die Entwicklung in Syrien schaltete Ankara von Soft auf Hard Power um. Die Türkei koordinierte den islamischen Widerstand gegen das Regime von Staatspräsident Baschar al-Assad und trug entscheidend zur Formierung der Freien Syrischen Armee bei. Über Jahre hinweg übersah Ankara geflissentlich, dass aus dem Kaukasus, Zentralasien, Nordafrika und auch Europa islamistische Kämpfer über die Türkei nach Syrien strömten und dort dschihadistische Gruppen verstärkten. Als sich abzeichnete, dass sich Assad mit russischer und iranischer Hilfe an der Macht halten würde, konzentrierte sich die Türkei darauf, zu verhindern, dass syrische Kurden ihre Siedlungsgebiete im Norden Syriens selbst verwalten. 2016 unternahm das türkische Militär die erste seiner bislang vier Invasionen in Syrien. Drei dieser Invasionen richteten sich primär gegen die syrischen Kurden, die ihre militärische Schlagkraft nur mit Hilfe von Kämpfern der „Arbeiterpartei Kurdistans“, kurz PKKArbeiterpartei Kurdistans, entwickeln konnten. Ankara ist es gelungen, die Bildung eines zusammenhängenden kurdischen Territoriums an seiner Nordgrenze zu verhindern. Dagegen zielte die Invasion von 2017 in die nordwestliche syrische Provinz Idlib auf den Schutz des letzten großen Territoriums, das noch von islamistischen Gegnern Assads gehalten wird. Die Türkei wollte auch verhindern, dass die Bewohner Idlibs im Falle eines Großangriffs von al-Assad auf türkischem Boden Zuflucht suchen. Auf regionaler Ebene hat Ankaras Unterstützung islamischer Kräfte dazu geführt, dass die Regierungen von Ägypten, der Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabiens – und wegen der Hamas – auch Israels, Ankara als Widersacher ansehen. Frieden in Syrien ist heute ohne oder gar gegen Ankara nicht machbar. Zwar zahlt die Türkei für die Militarisierung des Konflikts einen hohen Preis, hat sie doch 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Auf internationalem Parkett hat sie jedoch ohne Zweifel an Bedeutung
gewonnen.
Ihren jüngsten militärischen Erfolg verbuchte die Türkei im Oktober und November 2020 in Aserbaidschan. Sie hat sich dort in den Konflikt eingeschaltet, der seit 1991 zwischen Baku und Jerewan schwelte. In nur 44 Tagen gelang es der aserbaidschanischen Armee, einen Großteil des Gebietes einzunehmen, das das benachbarte Armenien exakt 30 Jahre vorher besetzt hatte, um, wie es hieß, armenische Siedlungen auf aserbeidschanischem Territorium zu schützen. Nach der damaligen Niederlage Bakus hat Ankara die aserbaidschanische Armee von Grund auf neu aufgebaut: Ihre Offiziere wurden geschult, die Spezialeinheiten trainiert, sie wurde mit bewaffneten Drohnen ausgestattet und bei der aktuellen Kriegführung vor Ort beraten. Die Türkei stellte sich gegen Aufrufe westlicher Staaten zu einem frühen Waffenstillstand, und erst das Eingreifen Russlands beendete den Krieg. Über den Waffengang hat die Türkei ihre Stellung im Kaukasus sowohl Russland als auch dem Iran gegenüber verstärkt und eindrucksvoll für ihre Kampfdrohnen geworben. Und sie hat dem Westen – wie in Syrien – gezeigt, dass sie es versteht, Konflikte, um die der Westen sich nicht kümmert, zum eigenen Vorteil auszunutzen.
Auch in Libyen hat die Türkei von einem sich lang hinziehenden Konflikt Gebrauch gemacht und dadurch ihre Stellung in Nordafrika erfolgreich ausgebaut. Libyen war nach der alliierten Militäroperation von März bis Oktober 2011, an der sich Deutschland nicht beteiligte und die zur Niederschlagung des Regimes vom Muammar al-Gaddafi führte, nicht zur Ruhe gekommen. Es entwickelte sich ein neuer Bürgerkrieg, in dem Italien und die Türkei die international anerkannte Regierung in Tripoli unterstützten, und Frankreich, die Arabischen Emirate und Russland sich hinter den rebellischen General Chalifa Haftar stellten, der den Nordwesten des Landes kontrollierte. Gründe für die Positionierung der ausländischen Mächte waren konträre energiepolitische, strategische und ideologische Interessen. Libyen hat die zehntgrößten Erdölvorräte der Welt. Die Regierung in Tripolis wird auch von islamistischen Kräften getragen, ein Grund dafür, dass sich Frankreich und die Arabischen Emirate auf die Seite Haftars schlugen. Für die Türkei kam der entscheidende Moment im Jahr 2019. In diesem Jahr drohte der Fall von Tripolis, und die dort ansässige Regierung sah keine andere Möglichkeit, zu überleben, als die Türkei um militärischen Beistand zu bitten. Ankara sagte zu, doch stellte die Bedingung, dass Libyen einem Abkommen zur gegenseitigen Abgrenzung ihrer Meereszonen zustimmt. Im November 2019 unterzeichneten die beiden Regierungen zwei Memoranden, eines zur militärischen Zusammenarbeit und Verteidigung und eines zur gegenseitigen Anerkennung ihrer maritimen Wirtschaftszonen. Mit seinem Engagement hat sich Ankara in Libyen nicht nur zwei Militärbasen gesichert, sondern auch seine Energiefirmen sowie seine großen Bauunternehmen in Stellung gebracht. Von gleich großer Bedeutung ist das Abkommen über Meeresgrenzen, das die Türkei in ihrer Politik gegen den NATONorth Atlantic Treaty Organization-Partner Griechenland und das EUEuropäische Union-Mitglied Zypern stärkt.
In der Ägäis und im östlichen Mittelmeer streitet sich die Türkei mit Griechenland und im östlichen Mittelmeer auch mit der Republik Zypern um die Abgrenzung der maritimen Wirtschaftszonen. Wie schon erwähnt, fühlt Israel sich aufgrund türkischer Solidarität mit der Hamas und Ägypten wegen türkischer Unterstützung der Muslimbruderschaft bedroht. Das ist der Hauptgrund dafür, dass diese beiden Staaten sich in den letzten Jahren Griechenland und Zypern angenähert und in 2019 den Grundstein für das East Mediterranean Gas Forum gelegt haben. Dem Forum gehören heute auch der Libanon, Jordanien und die palästinensische Autonomiebehörde an. All diese Staaten sind prinzipiell bereit, die Grenzziehung ihrer maritimen Wirtschaftszonen durch Verhandlungen oder die Anrufung internationaler Gerichte zu regeln. Zypern hat mit Ägypten und Israel, Griechenland mit Ägypten und Italien und Tel Aviv mit Kairo solche Verträge unterzeichnet. Nur Ankara blieb bisher außen vor. Als einziges Land erkennt die Türkei die Republik Zypern nicht an und will deshalb auch alle Verträge, die Zypern mit anderen Staaten schließt, nicht achten. So hat sich Ankara in der Region selbst isoliert. Das ist der Grund, weshalb das Memorandum der Türkei mit Libyen für Ankara so wichtig ist. Der Vertrag soll Ankara aus seiner Außenseiterrolle retten. Doch weil das Abkommen die legitimen Rechte Griechenlands verletzt, ist seine Gültigkeit umstritten. Ankara setzt trotzdem auf Konfrontation und hat im zweiten Halbjahr 2020 auf Zypern weiter eskaliert. Es lehnt jetzt eine Einigung auf Zypern ab und fordert die internationale Anerkennung der Türkischen Republik Nordzypern. Das Gebilde ist wirtschaftlich, politisch und auch militärisch vollkommen von der Türkei abhängig. Mit diesem Schritt will die Türkei ihre Militärpräsenz auf der Insel verstetigen und weiter ausbauen. Die 40.000 Mann starken türkischen Truppen wurden bereits durch eine Basis für bewaffnete Drohnen verstärkt und in den nächsten Jahren soll eine Marinebasis dazukommen.
So hat die Türkei in den letzten Jahren ohne Zweifel ihre militärischen Fähigkeiten im Nahen Osten, in Nordafrika und im östlichen Mittelmeer verstärkt. In diesem Prozess hat sie – trotz widerstreitender Interessen – mit Russland sehr effektiv kooperiert. Ob diese gewachsene militärische Stärke der Türkei und ihre Zusammenarbeit mit Russland der Sicherheit Europas dienen, ist eine andere Frage. Noch haben NATONorth Atlantic Treaty Organization und EUEuropäische Union Einfluss auf Ankara. Doch Wirkung wird dieser Einfluss nur entfalten, wenn er gemeinsam, gut abgestimmt und in eine klare Richtung gehend, ausgeübt wird.