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Friedensordnung Bosniens nach ethnischen Grenzen - Beispiel für die Ukraine?

Im Herbst 2022 ist es ein brutaler Angriff, dem die Weltöffentlichkeit ein hohes Maß ihrer Aufmerksamkeit widmet: Der seit 2014 gewaltsam ausgetragene russisch-ukrainische Konflikt ist seit Februar 2022 in einen Krieg eskaliert. Auch die Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs ist deutlich gestiegen. Die existentiellen Ängste, die der Ausbruch des Bosnienkrieges vor genau dreißig Jahren weltweit und insbesondere im Westen ausgelöst hat, waren zweifellos geringer.

Ein hoher Prozentsatz der politisch interessierten Menschen in Europa reagierte mit einem erheblichen Maß an Fassungslosigkeit, als sich 1992 im Kontext des gesamtjugoslawischen Zusammenbruchs ein harter interethnischer Konflikt in Bosnien-Herzegowina entwickelte. Die lange Stabilitätsphase des Kalten Krieges, die der Welt eine zwar angstbeladene, aber letzten Endes doch an bewaffneten Konflikten arme Zeit beschert hatte, lag 1992 noch nicht lange zurück. Damals sprachen Journalisten in allen westlichen Metropolen von einer „Wiederkehr des Nationalismus im Osten“. Und im Bosnienkrieg, dem dieser Artikel gewidmet ist, entfesselte der Nationalismus seine bis dahin extremste Zerstörungskraft in der Geschichte „Nachkriegseuropas“.

In seinem erstmals 1996 publizierten Werk „Kampf der Kulturen“1 hat der Autor Samuel P. Huntington Bosnien-
Herzegowina an einer äußerst prominenten Stelle platziert, als er die „kulturelle Grenze Europas“ mit der „große[n] historische[n] Scheidelinie“ identifizierte, „die seit Jahrhunderten westlich-christliche Völker von muslimischen und orthodoxen Völkern trennt.“2

Zu der erwähnten Kulturgrenze hat sich Huntington dann noch präziser geäußert:3 Folgt man dem von Huntington zitierten Michel Howard, handelt es sich bei Bosnien-Herzegowina aufgrund seiner zeitweiligen habsburgischen Vergangenheit strenggenommen um einen Teil Mitteleuropas (was zumindest nach Huntington eine Zugehörigkeit des Landes zum Westen implizieren würde; Anm. Peters); folgt man schließlich direkt Huntington, dann bildet Bosnien-Herzegowina im Prinzip eine Übergangszone am Außenrand der (west-)europäischen Kulturgrenze – nämlich da, „wo das westliche Christentum aufhört und Orthodoxie und Islam beginnen.“ 4 Deutlich wichtiger als der eine oder andere Versuch einer territorialen Zuordnung ist aber wohl der Umstand, dass die drei maßgeblichen Volksgruppen Bosnien-Herzegowinas, die im Laufe des Bosnienkrieges zumindest phasenweise alle gegeneinander gekämpft haben, im Sinne der Konzeption Huntingtons auch gleich drei verschiedenen Kulturkreisen zugehören: Die katholischen Kroaten erscheinen als Teil des westlichen, die orthodoxen Serben als Teil des orthodoxen und die muslimischen Bosniaken als Teil des islamischen Kulturkreises.5

An Huntingtons Theorie, die mit Blick auf die Gegenwart einen weitgehenden Zusammenhalt kultureller Räume
suggeriert und Konfliktpotentiale vor allem an sogenannten „Bruchlinien“ zwischen den Kulturkreisen ausmacht, ist wohl zu Recht viel Kritik geübt worden. Während der Bosnienkrieg der Jahre 1992 bis 1995 Huntingtons Thesen zunächst bestätigt, scheint beispielsweise der aktuelle russisch-ukrainische Konflikt dazu geeignet, Huntington zu widerlegen. Im Rahmen gedanklicher Spekulationen über die weitere Entwicklung der ukrainischen Beziehungen zu Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion schrieb Huntington 1996 den folgenden Satz: „Das dritte und wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Ukraine geeint … bleibt, unabhängig und doch generell eng mit Russland zusammenarbeitend.“6 Die Tatsache, dass Huntigton sowohl Russland als auch die Ukraine dem orthodoxen Kulturkreis zugeteilt hat7, dürfte maßgeblich zu dieser Fehleinschätzung beigetragen haben. Anders gesagt: Huntingtons kulturkreisbasierte Theorie ist sicher nicht der einzige Weg, die Welt sinnvoll zu interpretieren. Und überdies entspricht Huntingtons Verortung der (west-)europäischen Kulturgrenze längs der Linie zwischen Christentum zur Orthodoxie und Islam8 auch nicht dem einzig und allein zweckmäßigen Ansatz, Gesamteuropa strukturell zu gliedern: 2021 hat sich der Journalist Norbert Mappes-Niediek ausführlich zu diesem Punkt geäußert.9

Im Hinblick auf den Bosnienkrieg ermöglicht Huntingtons Gedankengebäude allerdings eine wichtige Schlussfolgerung: Zumindest potentiell steht hinter dem bewaffneten Konflikt der drei Hauptethnien sehr viel mehr als lediglich eine Feindkonstellation, die etwa mit dem Schlagwort „nationaler Antagonismus“ hinreichend beschrieben werden könnte. Nationalistisch gefärbte Konfrontationen hat die Geschichte auch innerhalb eines Kulturkreises zuhauf hervorgebracht. Der Hinweis auf das westliche Europa des 20. Jahrhunderts sollte diese Aussage nachhaltig unterstreichen. Im Falle des Bosnienkrieges lässt sich das Gegeneinander der ehemaligen Kriegsparteien aber auch im Kontext ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Zivilisationskreisen thematisieren. Wann genau dies zu Recht oder aber auch zu Unrecht geschähe, wäre eine eigene Untersuchung wert.

Anfang April 1992, als sich Slowenien und Kroatien bereits vom zerfallenden Gesamtstaat Jugoslawien losgesagt hatten, drängten vor allem die muslimischen Bosniaken bereits seit mehreren Wochen auf eine Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas. Dem widersetzte sich die überwiegende Mehrheit der bosnischen Serben. Nach der internationalen Anerkennung des Landes durch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die USA eskalierten dann ab dem 6. April gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen regierungstreuen Kräften und den von Belgrad aus unterstützten serbischen Landeseinwohnern. Aus diesem Szenario heraus entwickelte sich dann der Bosnienkrieg. Die Verlaufsgeschichte aller einzelnen Etappen dieses Krieges im Detail nachzuzeichnen, würde die Intention dieses Beitrags sprengen. Wichtig ist allenfalls, dass es sich beim Bosnienkonflikt sowohl anfänglich als auch schlussendlich um einen Zweiparteienkrieg handelte, der sich vorübergehend (nämlich zwischen Juni 1992 und Februar 1994) zu einem Dreiparteienkrieg gewandelt hatte: Am 19. Juni 1992 war es zu einem weitreichenden Bruch der bosniakisch-kroatischen Koalition gekommen, die zunächst geschlossen gegen die bosnischen Serben gekämpft hatte. Der daraus folgende bosniakisch-kroatische Zusammenstoß kann in gewisser Weise als „Subkonflikt“ im Gesamtrahmen des bosnischen Kriegsgeschehens bezeichnet werden. Dieser „Teilkrieg“ wurde schließlich unter massivem Druck der USA im ersten Quartal des Jahres 1994 beendet.

So sehr es in der Tat gerechtfertigt erscheint, die Darstellung der Kriegsverlaufsgeschichte an dieser Stelle zu kürzen, so wenig scheint es auf der anderen Seite möglich, zentrale Stichworte auszulassen, die wichtige Einzelereignisse oder aber auch Charakteristika des Bosnienkrieges bezeichnen. „Kriegsverbrechen“ wäre ein derartiges Stichwort. Gewalt gegen Zivilisten, die Misshandlungen in Konzentrationslagern und insbesondere auch Vergewaltigungen einschloss, war im Bosnienkrieg an der Tagesordnung. Das von den Streitkräften der bosnischen Serben verübte Massaker von Srebrenica, dem im Juli 1995 rund 8.000 männliche bosnische Muslime zum Opfer fielen, bewirkte eine höhere Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit für das Leiden der Zivilbevölkerung im Bosnienkrieg. „Die Belagerung von Sarajevo“ ist auch eines jener Themen, die hier genannt werden sollten: Die Einkesselung der bosnischen Hauptstadt durch die bosnisch-serbische Streitmacht dauerte immerhin 1.425 Tage. Am 29. Februar 1996, dem letzten Belagerungstag, war der Friedensvertrag von Dayton, der das Ende des Bosnienkrieges markiert, bereits unterzeichnet. Unter Vermittlung der USA hatten die Präsidenten von Bosnien-Herzegowina sowie auch der auswärtigen Staaten Serbien und Kroatien am 21. November 1995 das bis auf den heutigen Tag stark umstrittene Abkommen unterzeichnet, durch das nicht nur der Krieg formal beendet, sondern auch die (äußerst fragile) gegenwärtige politische Ordnung Bosnien-Herzegowinas festgeschrieben wurde. Bosnien-Herzegowina stellt heute eine lose Verbindung zweier Teilstaaten (Entitäten) dar, nämlich der (bosniakisch-kroatischen) „Föderation Bosnien-Herzegowina“ und der serbischen „Republika Srpska“. In Sarajevo und im Westen gehegte Befürchtungen, dass die Republika Srpska eine Politik betreiben könnte, an deren Ende ein Auseinanderbrechen Bosnien-Herzegowinas längs der im Dayton-Vertrag bestätigten Grenze zwischen den beiden Entitäten steht, werden insbesondere seit der Verschärfung des aktuellen russisch-ukrainischen Konflikts verstärkt genährt.

Zum Thema der im Dayton-Abkommen festgelegten innerbosnischen Grenze lässt sich am Ende noch mehr festhalten. Obschon in beiden Entitäten Bosnien-Herzegowinas auch einige Angehörige jener Ethnien leben oder wiederangesiedelt werden können, die dort in der Minderheit sind und in der jeweils anderen Entität die Mehrheit stellen und die politische Macht inne haben, entspricht die konkrete geographische Bestimmung der Linie letztendlich dem Prinzip einer ethnischen Grenzziehung. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass die Grenze in ihrem Wesenskern schon vor dem Daytoner Friedensschluss der ­Demarkationslinie zwischen den nichtserbischen und den serbischen Gebieten Bosnien-Herzegowinas entsprach. Während des Krieges wurden beide Gebiete durch eine Vielzahl „ethnischer Säuberungen“ arrondiert. Bereits während der Sezession der nichttürkischen Balkanvölker vom Osmanischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind in Südosteuropa immer wieder derartige Ansätze ethnischer Grenzziehung verwirklicht worden; vor allem im Zuge des Berliner Kongresses von 1878 und der Balkankriege von 1912 und 1913. Das Streben, „Nationalstaaten“ wiederherzustellen oder neu zu konstituieren, verband sich mit dem Ideal einer ethnischen und zumeist auch religiösen Homogenität innerhalb der neu festgelegten Territorien. Dabei entsprach das ursprüngliche historische Fundament, auf dessen Grundlage sich im ganzen Osmanischen Reich wie insbesondere eben auch in Bosnien die Ausprägung (religiös-) national untermauerter Identitäten vollzogen hat, einem Autonomiemodell, das eben nicht territorial, sondern lediglich personal konzipiert war: Die Rede ist vom osmanischen „Millet-System“. Maria Todorova hat den Ausdruck „Milletmentalität“ [„millet mentality“] gebraucht, um die sozialpsychologischen Auswirkungen dieses Systems zu beschreiben.10

Nun mag es durchaus sein, dass 1995 die Neufestlegung einer ethnischen Grenze das realpolitisch gesehen nächstliegende Mittel war, um (kurzfristig) Frieden in Bosnien-Herzegowina zu schaffen. Jedoch sollte – so ein möglicher Ansatz – bei der „Lösung“ sogenannter „Nationalitätenprobleme“ zukünftig verstärkt an moderne Personalautonomiemodelle gedacht werden; in Bosnien-Herzegowina, aber auch anderswo. In Bosnien-Herzegowina würde die Einführung einer personalen Selbstverwaltung für die (letztendlich noch immer über die Konfession definierten) drei Hauptethnien im Endeffekt bedeuten, dass die Angehörigen der Volksgruppen unabhängig vom Aufenthaltsort in den Genuss autonomer Rechte kommen könnten; das Land müsste nicht (wie nach den Bestimmungen des Dayton-Vertrags) in einer geopolitisch höchst irrationalen Weise nach (quasi) ethnischen Gesichtspunkten territorial untergliedert werden. Falls es nun gelingen sollte, das nach wie vor vorhandene Misstrauen zwischen den „Konfessionsnationen“ Bosnien-Herzegowinas zu reduzieren, könnte ein derartiges Autonomiemodell also auch in gemischtnationalen Gegenden ein funktionierendes Zusammenleben von Angehörigen der ehemaligen Kriegsgegner gewährleisten. Dass die Angehörigen aller genannten „Konfessionsnationen“ ihren legitimen Platz in Bosnien-Herzegowina haben, sollte anerkannt sein.

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung hat der Krieg in Bosnien-Herzegowina vielerorts zu neuen Reflexionen über den Umgang mit regionalen Konflikten sowie auch generell über Friedenssicherung geführt. Auch die Bundesrepublik Deutschland steht dafür beispielhaft: Die Diskussion über die Zulässigkeit von Bundeswehreinsätzen außerhalb des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Vertragsgebiets, die unter anderem auch mit dem Kriegsgeschehen in Bosnien verknüpft war, bildet einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einem politischen Paradigmenwechsel Berlins, der sich im Kontext des späteren Kosovokrieges der Jahre 1998 und 1999 noch verstärkte. Ein „Umgang mit regionalen bewaffneten Konflikten“, der minimal auf eine Verhinderung gewaltsamer Eskalationen und maximal auf eine dauerhafte Be­­seitigung der Spannungen abzielt, scheint insbesondere dort schwer, wo die (potentiellen) Konfliktparteien von unterschiedlichen Großmächten unterstützt werden, die auf der weltpolitischen Bühne divergierende Ziele verfolgen. Ein solcher Konfliktherd ist heute Bosnien-Herzegowina. Ein rascher EUEuropäische Union-Beitritt des Landes, der allen Staatsangehörigen der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik mittel- bis langfristig eine ökonomische Prosperität verspricht, könnte den Frieden in Bosnien-Herzegowina sichern. Aber dazu müssten noch einige Voraussetzungen erfüllt werden.

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