Transkription Wehrhafte Demokratie

Transkription Wehrhafte Demokratie

Lesedauer:
7 MIN

Bei manchen Mobilgeräten und Browsern funktioniert die Sprachausgabe nicht korrekt, sodass wir Ihnen diese Funktion leider nicht anbieten können.

Wehrhaftigkeit in der Krise – Finnland, Schweden und Deutschland im Vergleich

Wehrhaftigkeit muss sich in der Krise bewähren. Beispiele aus dem Ostseeraum zeigen, dass die Vorbereitung auf Krisen Demokratien von innen stärken und nach außen schützen kann. Drei Handlungsfelder scheinen von besonderer Relevanz zu sein: Vertrauen schaffen, Wissen vermitteln, Fähigkeiten aufbauen.

Was Wehrhaftigkeit bedeutet, unterscheidet sich über Raum und Zeit. Krisen können als „Momente der Wahrheit“ eine Reflexion auslösen und Veränderungen bewirken. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine zeigt dies eindrücklich: In Deutschland hat der Überfall das Verständnis von Wehrhaftigkeit seit dem 24. Februar 2022 stark gewandelt. Der Verteidigungsminister betont zunehmend die militärische, nach außen gerichtete Dimension von Wehrhaftigkeit und bereitet einer Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht und der sogenannten Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr den Boden. Zudem richtet sich Deutschlands Blick verstärkt ins Ausland, insbesondere in den Norden, und möchte aus den Erfahrungen anderer Länder lernen. Immer wieder wird in diesem Kontext auf das „schwedische“ beziehungsweise „skandinavische Modell“ der Wehrpflicht oder aber den umfassenden Sicherheitsansatz Finnlands verwiesen. Vor diesem Hintergrund sollen die aktuellen Entwicklungen in den drei benannten Staaten genauer untersucht werden. 

Entwicklungen im Ostseeraum seit 2014

Der Ostseeraum ist seit den 1990er-Jahren sowohl von europäischer Integration, Kooperation und Demokratisierung als auch von einer latenten Bedrohung aus dem Osten geprägt. Mit dem Einmarsch Russlands in die Ostukraine und der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 haben die Spannungen in der Region zugenommen. Nach der russischen Invasion 2022 haben sich Hoffnungen auf ein friedliches Zusammenleben vorerst zerschlagen. Die Ostseeanrainerstaaten haben auf die neue Bedrohungslage reagiert: Finnland und Schweden sind der NATONorth Atlantic Treaty Organization beigetreten, Lettland hat die Wehrpflicht wieder eingeführt, Polen investiert aktuell vier Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in Verteidigung.

Hinzu kommt eine wichtige Erkenntnis: Ohne die innere Stärke einer Demokratie bleibt militärische Stärke ohne Wert. Beides bedingt einander, lässt sich nicht voneinander trennen.

Demokratische Werte werden militärisch verteidigt – und die Verteidigung des Landes kann nur gelingen, wenn sie von der breiten Gesellschaft getragen wird. Dies spiegelt sich auch in „totalen“, „umfassenden“ oder „integrierten“ Politikansätzen im Ostseeraum wider, die zivile und militärische Verteidigung, innen und außen, Militär, Wirtschaft und Gesellschaft zusammendenken

Finnland, Schweden und Deutschland im Vergleich

Wehrhaftigkeit lässt sich nicht eins zu eins in andere Sprachen übersetzen. Widerstandskraft (schwedisch: motståndskraft) und Verteidigungsbereitschaft (schwedisch: Försvarsvilja, finnisch: Maanpuolustustahto) treten an die Stelle der Wehrhaftigkeit. Neben der Sprache unterscheiden sich auch die Mittel und Wege, die gewählt beziehungsweise beschritten werden, um Demokratien gegen innere und äußere Bedrohungen zu wappnen.

Finnlands „umfassendes Sicherheitskonzept“ setzt voraus, dass alle in der Gesellschaft als Sicherheitsakteure einen Beitrag für das Gemeinwohl leisten. Kernfunktionen der Gesellschaft müssen in Krisen aufrechterhalten werden. Zu den Kernfunktionen zählen unter anderem psychologische Resilienz und Verteidigungsfähigkeit. Finnlands Wehrpflicht, die für alle gesunden Männer gilt, und der ausgeprägte Wille, das Land zu verteidigen, sind eine Stütze des umfassenden Sicherheitssystems. Die Vorbereitung auf Krisen wird als tagtägliche, auf Dauer angelegte Aufgabe aller verstanden. Bis heute verfängt die Erzählung, dass ein kleines, geografisch exponiertes Land imstande sein muss, sich selbst zu versorgen und zu verteidigen, um das eigene Überleben zu sichern.

Die Planungen für Schwedens „totale Verteidigung“ wurden 2015 reaktiviert, um das Land auf einen Krieg vorzubereiten. Militärische und zivile Kräfte wirken im Kriegsfall zusammen. Prioritäten der totalen Verteidigung haben sich während des 20. und 21. Jahrhunderts verschoben. Nach dem Ende des Kalten Krieges wichen nukleare und militärische Szenarien modernen Risiken und Verwundbarkeiten. Mit den wiederaufgenommenen Kriegsvorbereitungen vermischen sich alte und neue Bedrohungen. 2017 wurde die Wehrpflicht – in modernisierter Form – wieder eingesetzt. Schwedens Wehrpflicht ist selektiv, geschlechtsneutral und berücksichtigt individuelle Interessen.

Deutschland verfolgt seit 2023 einen integrierten Ansatz. Die Erkenntnis, dass Sicherheit durch Zusammenarbeit erreicht wird, ist nicht neu. Im Weißbuch aus dem Jahr 2016 wurde bereits ein umfassender beziehungsweise vernetzter Ansatz beschrieben. Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) führt Wehrhaftigkeit – neben Resilienz und Nachhaltigkeit – als „Dimension von Sicherheit“ ein, die den Schutz vor äußerer Gewalt sicherstellt. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien schließen daran an. Sie beschreiben die Bundeswehr als „Kerninstrument unserer Wehrhaftigkeit gegen militärische Bedrohungen“. Resilienz beschreibt in der NSS wiederum die Verteidigung der Demokratie nach innen. Über Ländergrenzen hinweg scheinen drei Handlungsfelder von besonderer Relevanz zu sein: Vertrauen schaffen, Wissen vermitteln, Fähigkeiten aufbauen.

Vertrauen schaffen

Ohne Vertrauen kann eine Gesellschaft nicht bestehen. Dies betrifft sowohl (horizontales) Vertrauen in die Mitmenschen als auch (vertikales) Vertrauen in staatliche Institutionen. Vertrauensbildung ist ein langwieriger Prozess und bedarf der tagtäglichen Interaktion. Soziale Ausgrenzung, sozio-ökonomischer Status und negative Erfahrungen schmälern das Vertrauen. Vertikales Vertrauen entsteht, wenn sich institutionelle Prozesse an gesellschaftlichen Normen orientieren, wie Integrität, Offenheit und Fairness. Zudem ist entscheidend, ob Menschen mit der Leistung staatlicher Institutionen zufrieden sind.

Horizontales und vertikales Vertrauen sind in Finnland hoch. Die meisten Finnen und Finninnen vertrauen einander, fühlen sich sicher und glücklich. Es fällt auf, dass – selbst in den nordischen Wohlfahrtsstaaten – Vertrauen vom sozio-ökonomisch Status abhängt. In Deutschland kommen Unterschiede zwischen Ost und West hinzu. Wenn Vertrauen ungleichmäßig verteilt ist, schadet dies potenziell der Demokratie. Entscheidungen können schwerer getroffen und umgesetzt werden. Vertrauen könnte zudem ein entscheidender Faktor sein, um zu erklären, warum Menschen sich in der Krise für ihre Mitmenschen und ihr Land engagieren.

Wissen vermitteln

Damit die Bereitschaft, sich zu engagieren, in der Krise einen Unterschied macht, muss Wissen vermittelt und anwendbar gemacht werden. Informationskampagnen sind ein beliebtes Mittel, um die gesamte Gesellschaft zu erreichen, auch wenn deren Effekte umstritten sind. Finnlands „72 Stunden“-Kampagne gibt Tipps, um sich in den ersten drei Tagen einer Krise selbst versorgen zu können. Die Botschaft ist: Die eigene Vorsorge ist wichtig, damit die gesamte Gesellschaft in der Krise funktionieren kann. Deutschlands „Ratgeber für Notfallvorsorge und richtiges Handeln in Notsituationen“, der vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BBKBundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) herausgegeben wird (siehe auch „Impuls“, S. 14–15), ist umfangreich und enthält viele technische Informationen. Naturkatastrophen stehen im Fokus. Die 2021 angelaufene Kampagne „Für alle Fälle vorbereitet“ versucht, mit surrealen Szenarien Aufmerksamkeit zu erregen. Die Videos mit fliegenden Ufos, angreifenden Kaninchen und regnenden Donuts haben gemischte Reaktionen hervorgerufen. Inzwischen ist die Beschäftigung mit realen Konflikten, wie dem Krieg in der Ukraine, in den Vordergrund gerückt.

In Schweden informiert die Broschüre „Wenn Krise oder Krieg eintreten“ über das totale Verteidigungssystem. Die Broschüre enthält unter anderem Hinweise zum richtigen Verhalten während eines Terroranschlags, bei Falschinformationen und Warnsignalen. 2022 hat Schweden eine Behörde für psychologische Verteidigung geschaffen, um über Falschinformationen aufzuklären. In der Informationskampagne „Lass dich nicht täuschen!“ zeigen bekannte Magier, wie sich menschliches Denken und Handeln mit einfachen Tricks beeinflussen lassen.

Finnland verfolgt eine umfassende Strategie, um Medienkompetenz zu stärken – von der lokalen bis zur nationalen Ebene, von der Schule bis zur Universität. Daraus entsteht ein Netzwerk, das einen kritischen Umgang mit Informationen vorlebt. In Ranglisten zur Medienkompetenz belegen die nordischen Länder die ersten Plätze, während Deutschland im Mittelfeld liegt.

Fähigkeiten aufbauen

Um Wissen anwendbar zu machen, sind Informations- und Trainingsangebote in Finnland und Schweden verzahnt. Auf der Webseite von Finnlands „72 Stunden“-Kampagne können Interessierte nach Trainings in ihrer Nähe suchen – oder sich selbst zum Trainer oder zur Trainerin ausbilden lassen. Zusätzlich nehmen etwa 50.000 Finnen im Jahr freiwillig an militärischen Trainings teil, für die sie sich ohne großen Aufwand registrieren können. In Schweden können sich alle Bürger und Bürgerinnen online zu einer zweiwöchigen militärischen Grundausbildung in ihrer Nähe anmelden. Zudem bieten freiwillige Verteidigungsorganisationen spezialisierte Trainings an, beispielsweise im Bereich der Funktechnik, Tierversorgung oder Logistik.

Die persönliche Vorbereitung auf Krisen ergänzt, verstärkt oder entlastet staatliche Strukturen, kann diese aber nicht ersetzen. Investitionen in eine funktionierende Warninfrastruktur, gesundheitliche Versorgung oder militärische Ausrüstung gewährleisten, dass diejenigen in der Krise Hilfe erhalten, deren Kapazitäten erschöpft sind. Die Einbettung nationaler Fähigkeiten in multilaterale Strukturen, etwa auf EUEuropäische Union- und NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ebene, macht das System belastbarer. Wehrhaftigkeit im Verbund zu erzeugen, ist eine drängende Herausforderung unserer Zeit, die an dieser Stelle nur angerissen werden kann.

Fazit

Eine Gesellschaft, die in Werten geeint ist, sich vertraut und füreinander in der Krise einsteht, ist auf einem guten Weg, wehrhaft zu werden. Wehrhaftigkeit setzt zusätzlich voraus, dass Menschen wissen, was in einer Krise zu tun ist und dieses Wissen anwenden können. Das gilt für alle Menschen in einer Gesellschaft – in Kasernen, Schulen, Krankenhäusern oder zu Hause. Was in ruhigen Zeiten eingeübt wird, kann sich in der Krise bewähren. Die Vorbereitung auf Krisen signalisiert nach innen, dass jeder ein Teil der Gesellschaft ist, sich nicht sorgen muss, und nach außen, dass Demokratien sich verteidigen können.

von Alexandra Friede

 

Bei manchen Mobilgeräten und Browsern funktioniert die Sprachausgabe nicht korrekt, sodass wir Ihnen diese Funktion leider nicht anbieten können.