Transkription: suum cuique Ein Plädoyer für Gerechtigkeit und Würde
Transkription: suum cuique Ein Plädoyer für Gerechtigkeit und Würde
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Im Jahr 2022 wurde sowohl durch den Zentralrat der Juden als auch von der Gedenkstätte Buchenwald gefordert, das Motto der Feldjäger von den Uniformen entfernen zu lassen. Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, schrieb an das Verteidigungsministerium: „Es ist nach meinem Dafürhalten höchst problematisch, dass ein Teil der deutschen Streitkräfte ein Motto hat,
das den Nationalsozialisten als Todesformel diente. Die Aufschrift ist für die Opfer der Shoah und deren Angehörige zutiefst verletzend und schwer aushaltbar.“
Diese Forderung wurde eingehend überprüft und diskutiert. In einem Gespräch mit Klein legte die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht dar, dass sich die Wertegebundenheit des Spruchs „suum cuique“ im Sinne einer normativ abgeleiteten Wertschätzung „aus der römischen und preußischen Geschichte speist“: Demnach stehe die Bedeutung des Mottos der Feldjägertruppe ausdrücklich im Einklang mit den gültigen Richtlinien zum Traditionsverständnis und der Traditionspflege der Bundeswehr.
Nichtsdestotrotz hat das Verteidigungsministerium versichert, öffentlichkeitswirksame Maßnahmen zu ergreifen und eine Sensibilisierung und Kontextualisierung vorzunehmen, um den Missbrauch der Formel durch den Nationalsozialismus offen zu thematisieren und in der politischen Bildung der Bundeswehr darzustellen. Dieser Zusage wird hiermit nachgekommen: Eine fatale Hinterlassenschaft der NSNationalsozialismus-Zeit ist die Verunglimpfung alter und wertvoller Begriffe. Dabei wurden mit dem Wort verbundene Werte oft aus dem ursprünglichen Bedeutungskontext gerissen und für die eigenen, ideologischen Zwecke instrumentalisiert. Notwendig wird diese Klarstellung am alten Rechtsbegriff des suum cuique („Jedem das Seine“), der in der Antike und im Barock eine wichtige Rolle spielte, im KZ Buchenwald zu trauriger Berühmtheit gelangte, dann im internationalen Film (z.B. „To each his own“ von 1946 und „A ciascuno il suo“ von 1967) und nicht zuletzt in der Feldjägertruppe der Bundeswehr wieder aufgegriffen wurde.
Das Seinige tun – Die Ursprünge
Den Ausgang nimmt das suum cuiqueuum cuique im „idealen Staat“ des griechischen Philosophen Platon etwa 430 v.Chr. Dieser Staat ist deswegen ideal, weil dort die individuellen Ziele und die Interessen der Gemeinschaft zusammentreffen: Alle wollen – so Platon – den Staat erhalten, den man sich gemeinschaftlich geschaffen hat, und so gebieten es Vernunft und Praktikabilität, dass jeder das Seinige zum Erhalt und umfassenden Wohl des Ganzen beiträgt. Das Seine tun ist deswegen gleichbedeutend mit gerechtem Handeln, da immer die Gemeinschaft im Blick des Einzelnen ist, der ausschließlich an dem ihm gebührenden Platz tätig ist und sich in die Bereiche anderer nicht einzumischen hat. Im Vordergrund steht also nicht die individuelle Freiheit, sondern das Gelingen des Ganzen. Für Platon ist dies nicht tragisch, weil die einzelnen Bürger ohnehin das Wohl aller (eudamonion, dt.: = Glück) als persönliches Ziel haben. Individuelle Fähigkeiten spielen dennoch eine Rolle und müssen berücksichtigt werden. Zwar porträtiert Platon keine mittelalterliche Ständeordnung, die qua Geburt den Platz zuweist, sondern einen Staat, der Fähigkeiten und Talente individuell berücksichtigt.
„Denn wir haben ja festgesetzt (…), dass jeder sich nur mit einem Teil befassen müsse von dem, was zum Staate gehört, wozu nämlich seine Natur sich am geschicktesten eignet. (…) Das Seinige tun, bedeutet auch, sich nicht in Vielerlei einzumischen, weil dies keine Gerechtigkeit hervorbringt. Wenn jeder das Seine verrichtet, dann ist es Gerechtigkeit.“ (Der Staat IV, 433)
Offen bleibt die Frage, wer diese Einteilung nach dem jeweiligen Talent vornimmt. Platons Haltung ist, dass es sich schon durch das Schicksal und die Ordnung der Natur so fügt, wie es sein soll. Entscheidend ist aus heutiger Sicht, dass zum Seinen drei Dinge gehören: Das Wesen des Einzelnen, seine Möglichkeiten und die äußeren Umstände. Wenn auf diese Weise jeder das Seine, den Umständen entsprechend, einbringen kann, geht es gerecht zu.
Knapp 1000 Jahre später finden wir den Begriff des suum cuique in einer Gesetzesnovelle des byzantinischen Kaisers Justinian wieder. Dieser erlässt im Jahre 534 n.Chr. ein Gesetzbuch zum öffentlichen und privaten Recht: den Corpus Iuris Civilis.
Dies ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens, weil dieses Buch juristische Studiengrundlage im gesamten Mittelalter war und damit eine etwa 900-jährige Wirkungsgeschichte nachweisen kann. Und zweitens, weil die Zubilligung „Jedem das Seine“ im Buch I Kapitel 1 an herausgehobener Stelle steht und deswegen nicht eine Rechtsbestimmung unter vielen ist, sondern ein entscheidender Rechtsgrundsatz. „Die Gebote des Rechts sind diese: Ehrenhaft leben (honeste vivere), den anderen nicht beschädigen (non laedere) und jedem das Seine gewähren (suum cuique tribuere).“ Es lohnt sich daher, diesen Rechtsursprung des Feldjägermottos näher zu betrachten: Zum einen ist das suum cuique an das Verb „tribuere“ angebunden. Anklang findet hier der pflichtschuldige Tribut. Und dies in der doppelten Bedeutung: Tribut zollen durch den Untertanen und Tribut gewähren durch den Herrscher. Damit ist der Schritt aus der Ideenwelt Platons hinein in die praktische Rechtsprechung getan. Wer das Seine bekommt und erhält, ist im benannten Corpus Iuris Civilis klar geregelt und in ein hierarchisches System gegossen. Zum anderen steht das suum cuique in einem Dreiklang mit Ehrenhaftigkeit und dem Verbot, andere zu beschädigen. Dadurch wird deutlich, dass auch der Anwender des Gesetzes an klare Vorgaben gebunden ist. – Wenn sich die Feldjäger als Ausübende einer polizeilichen Exekutivgewalt auf ihr Motto suum cuique (tribuere) berufen, ist immer die Ehrenhaftigkeit (honeste vivere) und die Unversehrtheit des anderen (non laedere) mitzudenken. Damit wird deutlich, dass das Motto der Feldjägertruppe auf seinen ursprünglichen – auch rechtlichen – Entstehungskontext zurückzuführen ist, bevor dessen Missbrauch herausgestellt werden kann. Wer zwei Töne aus einem Dreiklang entfernt, nimmt den Akkord aus der Harmonie heraus und lässt den verbleibenden Ton missverständlich allein. Eingebettet in Ehrenhaftigkeit und das Verbot, anderen zu schaden, ist eine fatale Fehldeutung des suum cuique ausgeschlossen. Dieser unbeschädigte Dreiklang hätte es in seiner puren Form nie bis Buchenwald geschafft, weil er anzeigt, worum es bei der Zuteilung und Gewährung des jeweils eigenen geht: um Rechtssicherheit, individuelle Entfaltungsmöglichkeit und den Schutz der Person.
Die Würde des Menschen – vom Barock bis heute
Dem Barock ist das – eindeutig die Würde des Menschen unterstreichende – Verständnis des suum cuique noch geläufig. Johann Sebastian Bach (1685 –1750) dokumentiert dies in seiner aus dem Jahr 1715 stammenden Motette „Nur jedem das Seine“. Dies ist zugleich auch der historische Entstehungs- und Bedeutungskontext des Schwarzen Adlerordens als höchster Orden der preußischen Krone, von dem sowohl Sinnspruch als auch Abzeichen der Feldjägertruppe der Bundeswehr entlehnt wurden. Inhaltlich geht es Bach um zwei Aspekte: Die drückenden weltlichen Aufgaben, nämlich das Anerkennen der Obrigkeit und das Zahlen von Steuern und Abgaben, sollen pflichtschuldig erledigt werden. Melodieführung und Tonart verraten unmissverständlich, dass es hier um ein schweres Joch geht, das jeder zu tragen hat – leicht fällt dies niemandem. Erträglich wird es durch den zweiten Aspekt, nämlich die Zusage, dass jeder das Seine im Herzen behalten darf. Und dies nicht nach menschlichem Zumessen, sondern „der Höchste alleine (…) gibt jedem das Seine“. Das Seine ist damit der Wesenskern des Menschen, das unveräußerlich Eigene, das über die Welt und ihre Pflichten hinausweist. Der Mensch wird persönlich angesprochen, was dem Gläubigen den Austausch und die Gemeinschaft mit Gott schenkt. Zur antiken Betrachtung des suum cuique als Anspruch auf eine rechtssichere, ehrenhafte und Beschädigung vermeidende Gerechtigkeit kommt im Barock also noch die Verbindung des im Herzen und in der Würde mit einem Höheren verbundenen Menschen.
Das Gründungsstatut des Adlerordens aus dem Jahr 1701 hebt hervor, was auch heute noch die Handlungsgrundsätze der bundesdeutschen Feldjäger bestimmt: „Endzweck Unseres Reiches und Ordens [ist es], Recht und Gerechtigkeit zu üben, und jedweden das Seine zu geben.“ Neben dem Leitspruch der Feldjäger trägt auch der Stern im entsprechenden Verbandsabzeichen der Truppengattung eine eigene Bedeutung. Nachempfunden ist dieser Stern ebenso der Symbolik des Schwarzen Adlerordens und soll an die Aufstellung des Feldjägerkorps durch Friedrich II. im Jahre 1740 erinnern. Dem damals berittenen Feldjägerkorps der preußischen Armee wurde gut ein Jahrhundert später, im Jahr 1846, der erwähnte Hohe Orden vom Schwarzen Adler als äußeres Erkennungsmerkmal der Zugehörigkeit zur königlichen Garde verliehen. Er fand seither vielfältig Verwendung in Uniformteilen, Ausrüstung und Fahnen bis hin zu Waffen und Kanonen.
Im Nationalsozialismus wurde der Leitspruch der Feldjäger am Tor des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht, um die Lagerinsassen in zynischer und menschenverachtender Weise zu verhöhnen und zu demütigen. Dies entfachte die eingangs skizzierte Diskussion mit der Forderung, die Inschrift vom Truppengattungsabzeichen der Feldjägertruppe zu entfernen. Es wurde bereits gezeigt, dass die historischen, rechtlichen und ethischen Grundsätze des suum cuique mit der Bedeutung des „Jedem das Seine“ nicht deckungsgleich sind.
Bei der Aufstellung der Feldjägertruppe der Bundeswehr wählte diese den Gardestern des Reitenden Feldjägerkorps der Preußen als Emblem. Im Oktober 1955 stellte der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, General Adolf Heusinger, die erste Militärpolizei-Kompanie in Dienst, die fortan den preußischen Gardestern als Symbol führte. Damit knüpfte die Truppe unmittelbar an die preußische Überlieferung an, da diese Symbolik nachweislich weder in der Wehrmacht noch der Waffen-SS als offizielles Abzeichen genutzt wurde. Die Soldaten der Militärpolizei der Wehrmacht trugen als Erkennungszeichen eine große Metallplakette um den Hals, auf der die Aufschrift „Feldgendarmerie“ zu lesen war. In der Truppe kursierte daher der verächtliche Spitzname „Chain Dogs“, zu Deutsch: „Kettenhunde“.
Die Wahl des Gardesterns mit der Inschrift suum cuique bedeutete also einen bewussten Bruch mit der Militärpolizei der Wehrmacht.
Ab 1955 trugen Feldjäger einen stilisierten preußischen Gardestern am Revers des Uniformrocks, der jedoch bereits im Folgejahr durch den charakteristischen Kragenspiegel in der Waffenfarbe ersetzt wurde. Bis zur Einführung des Baretts in der Bundeswehr fand der Gardestern in der Uniformierung also keine Verwendung mehr. Seit 1963 wurde der Gardestern als historische Nachbildung einheitlich für alle Feldjägertruppenteile und -dienststellen befohlen. Zu Beginn der 1970er-Jahre wurden die heute bekannten Verbandsabzeichen der Truppengattungen eingeführt – im Falle der Feldjägertruppe wurde das fortan getragene Barettabzeichen in den 1980er-Jahren noch durch die schwarz-rot-goldene Nationalflagge ergänzt.
Schlussbetrachtung
Die Legitimation des Leitspruchs suum cuique liegt weit früher in der Vergangenheit als es dessen zynische Aneignung durch den Nationalsozialismus tut. Die Feldjäger verstehen den Leitspruch suum cuique als Handlungsmaxime für ihre Aufgabenwahrnehmung.
In dieser bündelt sich zudem Platons Grundsatz der allgemeinen Gerechtigkeit, die der Militärpolizist jedem entgegenbringen muss und wofür er intensiv ausgebildet wurde. Insgesamt kann festgehalten werden, dass ein bewusster und souveräner Umgang mit historisch sensiblen Themen im Sinne einer umfassenden soldatischen wie zivilgesellschaftlichen Persönlichkeitsbildung auch als Chance verstanden werden sollte. Die bloße Streichung einer insbesondere in der bundesrepublikanischen Geschichte durch die Feldjägertruppe geprägten Tradition wäre nicht zielführend, der edukative Mehrwert bestenfalls gering. Vielmehr bietet es sich an, Rechtssicherheit, individuelle Entfaltungsmöglichkeit und Schutz der Person als Werte jetzt schon im suum cuique der Feldjägertruppe hochzuhalten. Deswegen ist und bleibt dieser Leitspruch traditionswürdig und gilt als sinnstiftende Handlungsmaxime der Aufgabenwahrnehmung, nicht nur für die Feldjäger, sondern für die gesamte Bundeswehr. Um dies noch zu unterstreichen, wäre es eine Überlegung wert, suum cuique in seinen ursprünglichen Kontext mit honeste vivere und non laedere zurückzuführen, aus dem es in der bewegten Geschichte des Sinnspruches im Laufe der Jahrhunderte bedauerlicherweise entrissen wurde.
von Florian Schreiner und Thomas Wanninger