Transkription: Der Krieg in der Ukraine Lehrmeister für die Innere Führung?

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Die Bundeswehr leistet der Ukraine Erhebliches an Unterstützung. In der Truppe wird das akzeptiert als ein Ausdruck lebendiger Solidarität. Einbußen im ohnehin knappen Waffen- und Materialbestand, bei Ausbildung und Einsatzbereitschaft werden in Kauf genommen. Übersehen werden sollte nicht, dass es dafür einen Ausgleich gibt – die Kriegserfahrungen der Ukraine. Sie sind von unschätzbarem Wert für eine Rückbesinnung auf die Innere Führung.

Der Ukraine-Krieg ist kein trockenes Bildungsthema für Freitagnachmittage. Die Auswertung und Vermittlung der dortigen Erfahrungen liefert ein lebendiges Anschauungsmaterial und eine nützliche Orientierungshilfe für die Zukunft der Bundeswehr. Nach langer Vernachlässigung stehen die Streitkräfte vor einer regelrechten Neuaufstellung, die Jahre andauern wird. Um dabei Kurs zu halten, kommt es jetzt darauf an, den Impuls der „Zeitenwende“ zu nutzen. Der Krieg in der Ukraine zeigt, wo wir richtig liegen, wo Bedarf an einer Neubesinnung besteht und wo gravierende Fehlentwicklungen korrigiert werden müssen. 

Die Innere Führung, so ist immer wieder zu hören, habe am ukrainischen Beispiel eine Bestätigung erfahren. Was für eine? Zunächst hat der russische Angriffskrieg der Landesverteidigung, dem Schutz der selbst gewählten Staats- und Lebensform, enorm zur Legitimität verholfen. Von ebenso großer Bedeutung wie dieser ideelle Impuls im Hinblick auf die Frage „Wofür kämpfen?“ ist der Anstoß, nach dem „Wie kämpfen und dienen?“ zu fragen. Auf den Prüfstand gerät durch das Kampfgeschehen in der Ukraine zudem die Frage „Wie führen?“: Sind die Strukturen und Prozesse der Bundeswehr der professionellen Entfaltung von Schlagkraft, Einsatzbereitschaft und Selbstverständnis förderlich? Beim Übergang von einer „Schrumpfarmee“ (Brigadegeneral Robert Sieger, Beauftragter des Generalinspekteurs für Erziehung und Ausbildung) zu einer einsatzfähigen Abschreckungsarmee sollte die Innere Führung nicht für Toleranz gegenüber anhaltenden Defiziten stehen, sondern sie muss vielmehr ein zur Veränderung auffordernder unbequemer Stachel sein.

Innere Führung ausbuchstabieren

Die Konfrontation mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine zwingt dazu, den Kerngehalt der Inneren Führung herauszuarbeiten und auszubuchstabieren – von der soldatischen Haltung über das Berufsethos bis zu den Erfordernissen militärischer Einsatzbereitschaft und des zivil-militärischen Zusammenhalts, von der Führungspraxis bis zu den demotivierenden Auswirkungen der wuchernden Militär- und Zivilbürokratie. Die jährlichen Berichte der Wehrbeauftragten geben einen Eindruck, wie weit der Radius der Inneren Führung zu ziehen ist. Die Ukraine-Erfahrung bestätigt diese Herangehensweise, denn sie fordert die Bundeswehr in ihrer Gesamtheit heraus. Man braucht die Frage nur so zu stellen: Wie würden wir mit einer militärischen Konfrontation wie dem Ukraine-Krieg fertig, dessen Belastungen die der Coronapandemie oder der Flutkatastrophe an der Ahr weit übertreffen? 

Die Ukraine gibt ein großartiges Beispiel für die Klammer zwischen dem nationalen Willen zur Selbstbehauptung und der soldatischen Kampfmotivation. Das alles geschieht unter einer extremen Existenzbedrohung und zugleich in einer Gesellschaft, die auf der Suche nach sich selbst ist. Die deutsche Öffentlichkeit, auch die Streitkräfte, blicken aus einem anderen Erfahrungsraum auf diesen Krieg an den Grenzen des Bündnisses. Nach Jahrzehnten des Friedens, des wirtschaftlichen Wohlstands und stabiler demokratischer Strukturen, sind die Deutschen mit einem hohen und noch zunehmenden Veränderungsdruck konfrontiert, der sich durch alle gesellschaftlichen und staatlichen Bereiche hindurchzieht. 

Demokratie – der gemeinsame Nenner

Umso wichtiger wird der Austausch zwischen der deutschen und der ganz anders geprägten ukrainischen Erfahrung. Der gemeinsame Nenner findet sich in dem Willen, fällige Herausforderungen auf demokratischer Grundlage zu bewältigen. Um die tragenden Grundüberzeugungen zu bewahren, braucht es die Bestätigung durch die praktische und alltägliche Erfahrung. Die Ukraine lebt das vor, auch in ihren Streitkräften. Die Truppen- und Frontberichte in den Medien zeigen das Bild eines in höchstem Maße geforderten, hellwachen und engagierten Militärs. Die allabendlichen Ansprachen des ukrainischen Präsidenten werfen ein Schlaglicht auf die enge Verbindung zwischen Politik, Gesellschaft und Streitkräften. Die gesellschaftliche Solidarität mit den Truppeneinheiten ist bewundernswert. Können wir uns in punkto Offenheit, Teilhabe und Mitwirkung, Informationsaustausch und Kommunikation damit messen?

Integration – Schlüssel zur Resilienz 

Die Verbundenheit zwischen der ukrainischen Armee und der Gesellschaft, also das, was die Innere Führung als „Integration“ beschreibt, verdankt sich in erster Linie der Existenzbedrohung der Nation. Aber das allein reicht nicht aus, den Zusammenhalt zu erklären. Dieser Gleichklang baut auf einer Voraussetzung auf, die hierzulande als „Gesamtverteidigung“ beschrieben wird – und von der wir noch weit entfernt sind. Die Verzahnung von Freiwilligenverbänden, Streitkräften, Territorialkräften, Reserveeinheiten, zivil-militärischen Kooperationen und zivilgesellschaftlichen Hilfs-und Ausrüstungsinitiativen in der Ukraine liefert den Anschauungsunterricht für die Entwicklung von Resilienz, die in Konfliktlagen unverzichtbar ist. 

Ohne diesen Hintergrund wäre die bewundernswerte Haltung der ukrai­nischen Soldatinnen und Soldaten kaum erklärlich. Sie kämpfen mit hoher Motivation, enormer Einsatzbereitschaft und auf professionellem Niveau. In einem „Krieg der Werte“ zeigen sie ein ethisch überzeugendes Verhalten, das in einem scharfen Kontrast zu den russischen Kriegsverbrechen und der Menschenverachtung der russischen Militärführung steht. Darin lässt sich ein weiterer Grundzug der Inneren Führung erkennen. Darüber hinaus wird deutlich, dass Innere Führung sich nicht zu einem bequemen Alibi, einer bloßen Motivationslehre oder einem akademischen Stoff für Belehrungen verharmlosen lässt. Sie ist eine professionelle Konzeption für den Einsatz und den Kampf. 

Berufsethos und Professionalität

In der geltenden Fassung der Zentralen Dienstvorschrift „Innere Führung“ (A-2600/1) wird der Zusammenhang von „ethischen, rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Grundlagen“ und „militärischen Erfordernissen“ (vgl. Zif. 303) zwar angesprochen, aber nicht überzeugend eingelöst. Soldatisches Berufsethos und militärische Professionalität werden nur lose verknüpft – doch liegt gerade darin ein entscheidender Grund für die ukrainische Kampftüchtigkeit. 

Das „Führen mit Auftrag“, das in der deutschen Militärtradition verwurzelt ist, wurde organisatorisch wie bürokratisch erschwert. Umständliche Melde- und Entscheidungswege lähmen die Eigeninitiative. Absicherungsdenken untergräbt die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Die Diskussionsbeiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Workshop-Serie „Innere Führung – heute“ haben davon Zeugnis abgelegt (auszugsweise nachzulesen im Bericht des Wehrbeauftragten 2019, S. 12–14). 

Mit „militärischen Erfordernissen“ haben diese Mängel nur wenig zu tun. Die ukrainische Armee stünde auf verlorenem Posten, sollte sie sich einem solchem Reglement unterwerfen müssen. Gewiss ist eine Idealisierung nicht angebracht. Im operativen Kampfgeschehen kleiner Einheiten spielt die Auftragstaktik offenbar eine große und positive Rolle. Probleme stellen sich ein, sobald größere Verbände und die höhere Ebene der Truppenführung ins Spiel kommen. Ganz unbekannt ist ­dieses Problem auch für die Bundeswehr nicht, aber die Ausgangspunkte sind unterschiedlich. 

„Führen durch Vorbild“

Die ukrainische Armee hat im Zuge der Mobilisierungswelle zu Kriegsbeginn und im anfänglichen Abwehrkampf starke Initiativen „von unten“ freigesetzt. Die agilen und oftmals improvisierten Führungsstrukturen haben entscheidend zur Widerstandsfähigkeit der ersten Monate beigetragen. Sie stießen an Grenzen, sobald der Mechanisierungsgrad der Truppeneinheiten stieg und größere Operationen („Kampf mit verbundenen Waffen“) synchronisiert und vereinheitlicht werden mussten.

Die deutsche Wehrorganisation hingegen, die nach wie vor einer Friedens- und Kontingentarmee entspricht, krankt an Überzentralisierung und an kopflastigen, aber hohlen Strukturen. Die Verbände haben ihre Autarkie verloren. Sie verfügen nicht mehr über eigene Zuständigkeiten bei der Instandsetzung, der Logistik oder der Materialverantwortung. Auf Divisions-, Korps- oder Bataillonsebene ging die Bündelung der Verantwortung in einer Hand verloren. An ihre Stelle trat eine „Diffusion der Verantwortung“ (Verteidigungsminister Boris Pistorius). Reparaturen an Kopf und Gliedern sind überfällig.

Die Bundeswehr steht unter Zeitdruck, aber sie steht nicht unter der existenziellen Herausforderung eines Krieges. Und doch erkennt man den Lehrmeister Krieg in der „neuen Ernsthaftigkeit“ (Pistorius), mit der nun endlich ein flächendeckendes Umsteuern – nicht nur im Beschaffungswesen – in Angriff genommen wird. Das „Führen durch Vorbild“, das der Verteidigungsminister sich zur Handlungsmaxime gewählt hat, ist entscheidend für die Revitalisierung der Inneren Führung. Nur wenn die Soldatinnen und Soldaten erleben, dass sich „oben etwas tut“, wird sich auch „unten“ etwas bewegen. Gewiss, Berlin ist nicht Kiew, aber was hatte Präsident Selenskyj geantwortet, als man ihm anbot, sich in Sicherheit zu bringen? „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“

von Klaus Naumann

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