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Putins Brüder im Geiste
Gestürzt, ermordet, vertrieben –
wie Diktatoren der Nachkriegszeit endeten
Werden die Verbrechen des russischen Präsidenten Wladimir Putin jemals juristisch aufgearbeitet? Die Geschichte zeigt, dass viele Gewaltherrscher gewaltsam gestürzt wurden, sich teils auch vor Gerichten zu verantworten hatten.
Anfang Januar 1994 empörte sich die damals noch auflagenstarke „sozialistische Tageszeitung“ Neues Deutschland in einem kleinen Zweispalter unter der Überschrift „Pinochet als Vorbild“ über einen russischen Kommunalpolitiker: Vor deutschen Wirtschaftsvertretern von BASFBadische Anilin- & Soda-Fabrik und Dresdner Bank skizzierte dieser für die Außenbeziehungen zuständige Zweite Bürgermeister St. Petersburgs seine Vision eines künftigen Russlands – die so gar nichts zu tun hatte mit dem demokratischen Umbau, den Russlands damaliger Präsident Boris Jelzin gerade seinem Land aufnötigte: Angesichts des schwierigen privatwirtschaftlichen Weges billige er die Herbeiführung einer Diktatur nach Pinochet-Vorbild ausdrücklich, so der 41-jährige Russe im guten Deutsch.
30 Jahre später weiß die Welt, dass jener Wladimir Putin von damals es ernst meinte. Weiter gehend als Chiles Diktator Augusto Pinochet verwandelte Putin nicht nur sein Land in eine Diktatur, sondern überzog auch noch Nachbarstaaten
mit Kriegen.
Deutschlands Position im Fall Putin ist klar: Seine Kriegsverbrechen sollen vom Internationalen Strafgerichtshof in
Den Haag geahndet werden, der Mitte März 2023 Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten erlassen hat. Mutmaßlich sei der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte verantwortlich für die Deportation ukrainischer Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland, hieß es in der Begründung. Doch können die Verbrechen des russischen Präsidenten tatsächlich jemals juristisch aufgearbeitet werden? Wie enden diktatorische Regime? Putins Vorbild, Chiles Diktator Pinochet, machte freiwillig der Rückkehr zur Demokratie Platz. Andere Diktatoren der Nachkriegszeit wurden gestürzt, flohen ins Ausland oder hatten sich vor nationalen oder internationalen Gerichten zu verantworten. Viele blieben unbehelligt.
Mao Zedong, 1893–1976/China
Nur seine Gefolgsleute wurden bestraft
Gemessen an den Zahlen der Todesopfer war Chinas Führer Mao Zedong der wohl grausamste Diktator der Nachkriegszeit: Mao wird insgesamt für 40 bis 80 Millionen Tote verantwortlich gemacht, die aufgrund von vermeidbaren Hungersnöten, Bestrafungsaktionen und politischen Säuberungen vor allem während der sogenannten Kulturrevolution (1966 bis 1976) starben.
Bestraft für das Grauen, dessen Ausmaß sich erst nach Maos Tod 1976 allmählich abzeichneten, wurden aber lediglich die politischen Erben des Diktators – vor allem seine Witwe Jiang Qing und ehemalige Weggefährten. Eine wirkliche Distanz zum roten Terror unter Mao gibt es in der Volksrepublik China bis heute nicht.
Francisco Franco, 1892–1975/ Spanien
Unbehelligt bis ans Lebensende
1936 putschte General Francisco Franco gegen die demokratische Regierung der spanischen Republik – mit tatkräftiger militärischer Unterstützung durch den deutschen Diktator Adolf Hitler und den Italiener Benito Mussolini. Nach Francos Sieg in einem mehrjährigen Bürgerkrieg errichtete er eine faschistische Diktatur, die sich am Wesen seiner deutschen und italienischen Mentoren ausrichtete: Zunächst ließ er mehrere Hunderttausend vermeintliche und tatsächliche Gegner exekutieren. Rund 1,5 Millionen politische Häftlinge verschwanden in 190 Konzentrationslagern. Am Weltkrieg beteiligte sich Spanien aber nicht, was der Diktatur das Überleben sicherte.
Erst mit dem Tod des 82-jährigen Diktators am 20. November 1975 schlug die Stunde der spanischen Demokratie.
Bis heute streitet Spanien über den Umgang mit dem Erbe der Diktatur – zu einer juristischen Aufarbeitung kam
es allerdings nie.
Pol Pot, 1925–1998/Kambodscha
Gestorben im Buschversteck
Der Abzug der Amerikaner aus Indochina und der Sieg des kommunistischen Nordens in Vietnam Mitte der 70er-Jahre lösten ein Beben in der gesamten Region aus.
Kambodscha, ein von König Norodom Sihanouk in einem extrem schweren Umfeld lange Zeit klug regiertes und intaktes Land war als Folge des Vietnam-Krieges und amerikanischer Bombardierungen zur leichte Beute kommunistischer Rebellen geworden. Mit ihrem Sieg etablierten die sogenannten Roten Khmer zwischen 1975 bis 1979 in Kambodscha eine Schreckensherrschaft, die in der Menschheitsgeschichte ihresgleichen sucht: Zwischen 750.000 und mehr als zwei Millionen Menschen kamen durch Hinrichtung in den sogenannten Killing Fields und durch Zwangsarbeit, Hunger und mangelhafte medizinische Versorgung ums Leben – bei einer Gesamtbevölkerung von lediglich acht Millionen.
Bereits wer eine Brille trug, galt als intellektuell, was einem Todesurteil gleichkam. An der Spitze der als Steinzeitkommunisten bezeichneten Bewegung stand ein Mann, der einst in Frankreich Radioelektronik studiert hatte: Pol Pot, in seinem Reich auch „Bruder Nummer eins“ genannt.
Eine Invasion durch den ebenfalls kommunistischen Nachbarn Vietnam beendete Anfang 1979 das Schreckensregime. Die UNUnited Nations hatten erst in den 1990er-Jahren mit der juristischen Aufarbeitung begonnen und einen Strafgerichtshof eingerichtet.
Pol Pot starb im April 1998 im thailändisch-kambodschanischen Grenzgebiet, wo er fast 20 Jahre lang einen Guerillakrieg gegen die neue Regierung geführt hatte, unter ungeklärten Umständen. Seine Auslieferung stand unmittelbar bevor.
Slobodan Milosevic, 1941–2006/Serbien
Herzinfarkt in Haft
Der aus sechs Teilrepubliken bestehende sozialistische Einparteienstaat Jugoslawien begann Anfang der 90er-Jahre zu zerfallen. In Slowenien, Kroatien, später auch Bosnien-Herzegowina beriefen sich die Menschen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Der damalige Präsident der größten und mächtigsten Teilrepublik Serbien ließ als Reaktion darauf die Panzer der von ihm kontrollierten jugoslawischen Volksarmee rollen – zunächst gegen Slowenien, das aber aufgrund seiner ethnischen Homogenität und der ökonomischen Stärke schnell die Unabhängigkeit erreichte.
Dramatischer waren die Situationen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, weil gemischt-ethnische Gebiete eine einvernehmliche Trennung verhinderten. Es kam zu schrecklichen Kriegsverbrechen, vor allem durch serbische Täter, zum Beispiel im ostbosnischen Srebrenica. Als Ähnliches auch im Kosovo zu drohen schien, griff die Nato 1999 ein und beendete die Serie der jugoslawischen Nachfolgekriege – der ersten Kriege in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Im Oktober 2000 führte ein Aufstand in Serbien zum Sturz von Diktator Milosevic. Reformpräsident Zoran Đinđić lieferte den gestürzten Diktator an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag aus und wurde kurze Zeit später ermordet. In Den Haag wurde gegen Milosevic wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verstößen gegen die Genfer Konventionen sowie zahlloser Deportationen verhandelt. Am 11. März 2006 erlag der damals 64-Jährige in seiner Zelle einem Herzinfarkt.
Nicolae Ceaușescu, 1918–1989/Rumänien
Erschossen nach kurzem Prozess
Innerhalb der Riege der grauen Ostblock-Apparatschiks galt der Rumäne Nicolae Ceaușescu als bizarre Erscheinung. Denn er regierte sein bettelarmes Land von 1965 bis 1989 wie ein royaler Despot.
Er plünderte das Land aus, verfolgte gnadenlos Kritiker und ließ sich mit Wendungen wie „Titan der Titanen“ oder „unversiegbarer Quell der Weisheit“ huldigen. Gegen die nicht mehr zu verleugnenden Auflösungserscheinungen des Ostblocks infolge des Tauwetters Ende 1989 wollte sich Ceaușescu gemeinsam mit seiner selbstsüchtigen Frau Elena noch einmal von einer organisierten Menge von etwa 100.000 Menschen in Bukarest feiern lassen.
Als sie registrierten, dass die Stimmung der Massen kippte, ließen sie sich von bereitstehenden Helikoptern in eine vermeintlich ruhigere Region evakuieren. Doch im Land tobten längst bürgerkriegsähnliche Kämpfe, die sich Ceaușescus gefürchteter Geheimdienst Securitate mit Aufständischen lieferte. Nach seiner Festsetzung durch aufständische Soldaten und einem Schnellverfahren wurde das Regentenpaar am 25. Dezember 1989 hingerichtet, öffentlich und im TV ausgestrahlt als Signal an die Verteidiger, dass die Zeit der Diktatur vorbei sei.
Augusto Pinochet , 1915–2006/Chile
Gestorben im Hausarrest
Mit amerikanischer Hilfe putschte General Augusto Pinochet im September 1973 die demokratisch legitimierte chilenische Regierung des Sozialisten Salvador Allende hinweg und etablierte an dessen Stelle eine brutale Militärdiktatur. Erst im Zuge des „globalen Frühlings“ der Demokratie 1990 räumte der Diktator nach einem gescheiterten Referendum und internationalem Druck freiwillig das Feld.
Obwohl bis zu 4000 Menschen ermordet wurden, etliche davon bis heute spurlos verschollen sind, zudem etwa 20.000 Menschen außer Landes vertrieben wurden, tut sich Chile mit der juristischen Aufarbeitung des Diktaturerbes schwer. 2001 wurde ein Prozess gegen den damals 86-jährigen Pinochet eröffnet, dem aus gesundheitlichen Gründen jedoch Verhandlungsunfähigkeit attestiert wurde. In seinem privaten Haus in Chiles Hauptstadt Santiago stand er fortan unter Hausarrest. Im Dezember 2006 starb Pinochet, als Senator auf Lebenszeit geehrt, ohne dass er für die Verbrechen während seiner Herrschaftszeit je verurteilt wurde. Für einen Teil der Chilenen ist er bis heute ein Teufel, für den anderen der Retter Chiles vor dem Kommunismus.
Saddam Hussein, 1937–2006/Irak
Von Irakern gerichtet
Anfang 2023 jährte sich die Invasion einer von den USA geführten Koalition im Irak zum 20. Mal. Schon damals war eine Mehrheit in der deutschen Politik und Öffentlichkeit davon überzeugt, dass der Krieg den Prinzipien des Völkerrechts widersprach und zudem auf offensichtlichen Lügen basierte. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass der irakische Herrscher Saddam Hussein ein Massenmörder und Kriegsverbrecher war. Er überfiel die Nachbarstaaten Iran und Kuwait, führte Krieg gegen die eigene Bevölkerung (Schiiten, Kurden) und betrieb ein System von Foltergefängnissen. Im Dezember 2003, eineinhalb Jahre nach Beginn der amerikanischen Invasion, wurde der untergetauchte und zur Fahndung ausgeschriebene Ex-Diktator nahe seiner Heimatstadt Tikrit aus einem Erdloch gezogen und anschließend von einem irakischen Gericht zum Tode verurteilt – wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Laut Human Rights Watch hatte er bis zu 290.000 Menschen ermorden lassen. Saddam Hussein starb am 30. Dezember 2006 durch den Strang.
Muammar al-Gaddafi, 1942–2011/Libyen
Vom libyschen Mob gemeuchelt
42 Jahre lang hat Muammar al-Gaddafi an der Spitze der „Großen Sozialistischen libysch-arabischen Volksrepublik“ gestanden. Doch der anfängliche Revolutionär und Sozialreformer wandelte sich im Laufe seiner Herrschaft zum Diktator, der politische Gegner gnadenlos verfolgen ließ. Unzählige Libyer und Libyerinnen verschwanden in den Jahrzehnten von Gaddafis Schreckensherrschaft, entführt und oft wohl auch getötet von den Sicherheitsdiensten oder abgeurteilt von den libyschen „Volksgerichtshöfen“.
Zudem schürte er Aufstände in afrikanischen Nachbarländern, unterstützte internationale Terroristen. Bei mehreren Anschlägen führten die Spuren der Drahtzieher in die libysche Hauptstadt Tripolis: 1986 auf die Berliner Diskothek La Belle, bei Bombenexplosionen 1988 an Bord eines USUnited States-Passagierflugzeugs über dem schottischen Lockerbie und 1989 an Bord eines französischen Flugzeugs über dem Niger.
2011 erreichte der sogenannte Arabische Frühling auch Libyen. Gaddafi gab sich unnachgiebig. In bizarren Reden verteidigte er sein politisches Erbe und lehnte jeglichen Wandel ab. Ein Bürgerkrieg mit dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln drohte. Am 17. März ermächtigten die Vereinten Nationen die internationale Staatengemeinschaft zu militärischen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Zwei Tage später begannen die USA, Großbritannien und Frankreich mit Luftangriffen auf Gaddafis Truppen. Am 20. Oktober 2011 wurde Gaddafi von oppositionellen Rebellen gefangen genommen und zu Tode misshandelt.
Mit Blick auf Russland ist die Position des Westens eindeutig: Eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen des Putin-Regimes vergleichbar dem Fall Ex-Jugoslawien ist erklärtes Ziel. „Wir werden einen langen Atem haben“, kündigte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDPFreie Demokratische Partei) Ende November 2022 an. Derzeit ermitteln neben mehrere Nationen, darunter auch Deutschland, vor allem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) im niederländischen Den Haag, umgangssprachlich auch „Weltstrafgerichtshof“ genannt.
Die Ermittlungen beim IStGH begannen bereits wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine am
24. Februar 2022. „Was ich sehe, sind Anzeichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch das sind sehr schwere Vorwürfe“, sagte Prof. Dr. Christoph Safferling, Inhaber eines Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. „Die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, zum Beispiel Geschehnisse in Orten wie Butscha, legen das nahe.“, so Safferling. Der Internationale Strafgerichtshof kenne zwar auch die lebenslange Freiheitsstrafe, könne aber, anders als das deutsche Strafrecht, auch lange Freiheitsstrafen von bis zu 30 Jahren verhängen. Für die Hauptverantwortlichen solcher Straftaten in der Ukraine könnten also durchaus 20 bis 30 Jahre Gefängnis drohen.