Zur Ethik des Entscheidens
Abwägungen, Pflichtenkollisionen und Dilemmata

Das Leben besteht aus Entscheidungen. Jede Entscheidung birgt die Freiheit, so oder so entscheiden zu können. Weiß ich nun zu wenig, um eine gute Entscheidung zu treffen? Oder gibt es zu viele Informationen, die schwer zu gewichten sind? Die Ethik hat für dieses Dilemma Regeln entwickelt. Anhand eines Praxisfalls in der Zentralafrikanischen Republik werden diese im Folgenden veranschaulicht.


Ethische Bildung braucht den Praxisbezug. In Lehrgängen am Zentrum Innere Führung arbeiten wir mit einem Fall des amerikanischen Militärethikers George Lucas. Darin hat ein Zug botswanischer Spezialkräfte in der Zentralafrikanischen Republik den Auftrag, den Präsidentenpalast gegen Aufständische zu sichern. Die botswanischen Kräfte werden angegriffen und stellen während des Gefechts fest, dass die Rebelleneinheit auch Kindersoldaten einsetzt. Den Spezialkräften gelingt es, den Rebellenangriff abzuweisen. Ihr Zug hat allerdings dreizehn gefallene Soldaten zu beklagen. Eine Untersuchung ergibt, dass sich die exzellent ausgebildeten Spezialkräfte im Gefecht gegenüber den Kindersoldaten zögerlich verhalten haben. Kommentar ihres Kommandeurs: „Das ist nicht, warum wir hierhergekommen sind. Wir sind nicht gekommen, um Kinder zu töten.“1

Perspektivenwechsel zum Einheitsführer
Im Lehrgang rekonstruieren wir die Entscheidungsmöglichkeiten aus der Perspektive eines Einheitsführers. Selbstverständlich muss das Feuer in der Gefechtssituation erwidert werden. Die Kindersoldaten sind in diesem Fall Kombattanten. Der Einsatz von militärischer Gewalt ist also legal und legitim. Vor die Alternative gestellt, zwischen Selbstschutz und möglichst weitgehender Schonung der „Kinder“ entscheiden zu müssen, sieht die Mehrheit der Lehrgangsteilnehmenden die primäre Verpflichtung im Selbstschutz und in der Verantwortung für die Kameraden. In der Diskussion wird allerdings auch deutlich, dass ebenfalls gegenüber den Kindersoldaten eine Verpflichtung besteht, nämlich militärische Gewalt verhältnismäßig und möglichst schonend einzusetzen. In die Abwägung ist auch einzubeziehen, dass der Einsatz einem hochrangigen Gut gilt: Die Verteidigung des Präsidentenpalastes dient dem Schutz der legitimen politischen Ordnung. Eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände zu dem Schluss kommen, dass zur Durchsetzung des Auftrags Opfer in Kauf genommen werden müssen. Der Einsatz tödlicher Gewalt gegenüber den Kindersoldaten ist in diesem Fall nicht nur legal, sondern auch legitim, also moralisch gerechtfertigt. Und doch bleibt ein schmerzhafter Rest. Der Kommandeur der botswanischen Spezialkräfte bringt es auf den Punkt, indem er sagt, sie seien nicht in die Zentralafrikanische Republik gekommen, um Kinder zu töten. Das ist im Kern ein tugendethisches Argument. Es widerspricht ihrem Selbstverständnis, ihrer soldatischen Identität, Kinder zu töten. Das muss in der Entscheidungsfindung und in der Vorbereitung auf diesen Typus von Einsätzen sowie in der Aufarbeitung solcher Gefechtssituationen in ethischen Reflexionen berücksichtigt werden. Wir wissen, dass sich aus erlebter Gewalt, vor allem gegenüber Kindern, schwerwiegende Einsatzfolgestörungen entwickeln können, wie moralische Verletzungen und Traumatisierungen.

Paradoxie des Entscheidens
Das Leben besteht aus Entscheidungen mit unterschiedlicher Reichweite. Für die allermeisten haben wir Routinen. Bei Entscheidungen in ungewohnten Situationen wird es problematischer.2 Weiß ich vielleicht zu wenig, um eine gute Entscheidung zu treffen? Oder gibt es im Gegenteil zu viele Informationen? Kann ich sie gewichten?

Entscheidungen müssen unter den Gesichtspunkten der Effektivität, der Rechtmäßigkeit (Legalität) und der Verantwortbarkeit (Legitimität) getroffen werden.3 Erziele ich mit meiner Entscheidung die beabsichtigte Wirkung? Bewegt sie sich im Rahmen geltender Gesetze und Vorschriften? Und, kann ich sie moralisch verantworten? Kann ich vor allem den Personen, die von meiner Entscheidung betroffen sind, nachvollziehbare Gründe liefern? Sind ihre Rechte berücksichtigt und erfülle ich meine Verpflichtungen ihnen gegenüber?

 

Um entscheiden zu können, brauche ich ausreichend Informationen über Fakten, Wissen über einschlägige Normen und eine Einschätzung der wahrscheinlichen Konsequenzen. Das ist die „Paradoxie des Entscheidens“.4 Wenn ich das alles kenne, ist die Entscheidung eigentlich unnötig, denn es ergibt sich zwangsläufig, wie zu entscheiden ist. Anders ausgedrückt: Wenn eine Entscheidung alternativlos ist, dann ist sie eigentlich keine Entscheidung mehr. Jede Entscheidung birgt die Freiheit, so oder so entscheiden zu können. Freiheit und persönliche Verantwortung sind eng miteinander verbunden. Verantwortung heißt: Ich kann eine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“ geben. Auch derjenige, der von den Konsequenzen meines Handelns betroffen ist, sollte im Grunde seine Zustimmung nicht verweigern können. In moralischer Perspektive gilt: Das, was zu tun ist, müsste in vergleichbaren Situationen − „ceteris paribus“ so die Ethiker − wieder so getan werden.

In den Streitkräften macht diese Unschärfe des moralischen Urteilens diejenigen nervös, die durch Bildung und Ausbildung „Handlungssicherheit“ erwarten. Es wäre illusorisch zu denken, Ungewissheit könne durch detailliertere Vorschriften ausgeräumt werden. Wachsende Komplexität ist ein Merkmal unserer Gegenwart. Lineares Denken, das sich in einfachen Beziehungen von Ursache und Wirkung bewegt, bleibt hinter dieser Komplexität zurück. Das wirkt sich auch auf die Entscheidungsfindung aus. Die Bundeswehr reagiert darauf mit einer Stärkung der „Persönlichkeitsbildung“. Sie soll die Urteilsfähigkeit stärken. In der ethischen Tradition spricht man von der „Billigkeit“. Das ist die Fähigkeit, Allgemeines und Besonderes in Beziehung zu setzen: Entweder vom Einzelfall her zu erkennen, welche Regel anzuwenden ist, oder umgekehrt von einer allgemeinen Regel auf Einzelfälle zu schließen.

Die „Paradoxie des Entscheidens“ wird besonders deutlich, wenn wir zur gleichen Zeit gleichrangigen Verpflichtungen gegenüberstehen oder in unseren Handlungen gleichrangige Ziele (die Ethik spricht von „Gütern“) oder gleichrangige Werte realisiert werden sollen. Eine solche moralische „Zwickmühle“ nennen wir Dilemma. Soll die Ukraine ihre Freiheit verteidigen auch um den Preis, dass viele Zivilisten sterben? Soll die israelische Luftwaffe Kommandozentralen der Hamas zerstören, auch wenn sie unter Krankenhäusern und Schulen verborgen sind? Dilemmata gibt es nicht nur zwischen gleichrangigen Pflichten, sondern auch wechselseitig zwischen Gütern und Pflichten oder zwischen Gütern und Werten. Strenggenommen gibt es gar nicht so viele Situationen rationaler Unauflösbarkeit.

Bei näherem Hinsehen können vermeintliche Dilemmata über Abwägungen aufgelöst werden: Welcher beteiligten Person oder Personengruppe gegenüber besteht eine höhere Verpflichtung? Ist ein Gut oder auch ein Auftrag von so hohem Rang, dass andere Verpflichtungen demgegenüber in die zweite Reihe treten?

Ethische Regeln der Abwägung 
Für die Abwägung in Güterkonflikten und Pflichtenkollisionen hat die Ethik Regeln entwickelt. Die Regeln sind als Anleitung für das Gespräch zu sehen: für das innere Gespräch des Gewissens und für das so wichtige Gespräch zwischen Kameraden.

Ein erster Aspekt ist das Handlungsziel. Welche Bedeutung und welches Gewicht hat es, mit welchen Konsequenzen für die beteiligten Personen ist es verbunden? Je höher die Zahl der Betroffenen ist und je tiefer die Handlungsfolgen reichen, desto höher ist die Rechenschaftspflicht. Je grundlegender ein Gut ist, desto wichtiger wird es in der Abwägung sein. Allgemeinster Maßstab für den Rang eines Handlungsziels ist die Menschenwürde. Das heißt: Den anderen Menschen nicht zu instrumentalisieren, sondern als Person mit eigenem Recht zu behandeln. Der Philosoph Immanuel Kant hat dies mit seinem „Kategorischen Imperativ“ so ausgedrückt: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

Ein zweiter Aspekt ergibt sich aus den Beziehungen, in die ich als Handelnder gestellt bin. Derjenige, der am meisten auf mich angewiesen ist, verpflichtet mich im höchsten Maße. Für den militärischen Kontext ist die besondere Verantwortung für die unterstellten Soldaten und Kameraden wichtig. Verantwortungsverhältnisse bzw. Nähebeziehungen sind abgestuft. 
Nur ein Beispiel: Für meine eigenen Kinder bin ich in besonderer Weise verantwortlich, aber ich trage auch eine gewisse 
(Mit-)Verantwortung für jedes andere Kind dieser Welt.

 

 

 

Ein dritter Aspekt betrifft die Möglichkeiten und die Fähigkeiten, eine Absicht zu verwirklichen und das Handeln zum Erfolg zu führen. Ein Handlungsziel kann von überragendem Gewicht sein, wenn aber keine Aussicht auf Erfolg besteht, ist es meist nicht sinnvoll, das Ziel anzustreben. Für eine Entscheidung ist es wichtig, Wahrscheinlichkeiten und Risiken realistisch einzuschätzen.

An diesen dritten Aspekt schließt sich die Verpflichtung an, die unerwünschten Nebenfolgen von Handlungen zu bedenken. Im militärischen Kontext spricht man von Kollateralschäden. Es gilt zu prüfen, ob der Schaden an Leib, Leben und Gut, der durch den Einsatz militärischer Gewalt entsteht, in einem verantwortbaren Verhältnis zum angestrebten Nutzen steht. Militärische Berufsethik richtet sich vielfach auf derartige Verhältnismäßigkeitserwägungen. Auch im humanitären Völkerrecht spielen die Verpflichtung auf einen verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt und das „Exzessverbot“, also die Untersagung eines übermäßigen Gewaltgebrauchs, eine wichtige Rolle. Welche nichtbeabsichtigten Nebenfolgen sind vertretbar? Als Antwort auf diese Frage wurde, zurückgehend auf Thomas von Aquin, die Lehre der „Doppelwirkung“ entwickelt. Schaden für Unbeteiligte darf nur im unbedingt nötigen Umfang zugefügt werden. Er muss verhältnismäßig gegenüber dem eigentlichen Handlungsziel sein und darf Unbeteiligte nicht instrumentalisieren.

Fazit
Die ethische Bildung in den Streitkräften steht vor der Aufgabe, diese grundlegenden „tools“ der Abwägung und Entscheidungsfindung anhand von realitätsnahen Fallstudien einzuüben. Das darf nicht nur intellektuell geschehen. Ethische Bildung umfasst Kopf, Herz und Hand. Sie muss Wissen bereitstellen, die moralische Wahrnehmungsfähigkeit stärken und praxisnah sein. Im Gefecht wird man keine langen Reflexionsschleifen drehen können. Umso wichtiger ist die intensive Vorbereitung auf die moralische Dimension von Entscheidungen in Handlungstypen wie im Fall der botswanischen Spezialkräfte. Die Frage der Verantwortung wird dann im Debriefing zu stellen sein. Das ist Aufgabe der militärischen Führer in Zusammenarbeit mit Seelsorgern und Psychologinnen.