Neues Handbuch Innere Führung

Fit für das 21. Jahrhundert

Der Drang, alles „neu“ zu machen, ist nicht immer einer Sache dienlich. Einsatzbereitschaft
beruht oft auf Erfahrung und Wissen. Doch das Handbuch Innere Führung aus dem Jahr 1957 ist nicht nur sprachlich in die Jahre gekommen. Viele Themen, die uns heute umtreiben, waren damals noch nicht relevant. Manche gab es schlichtweg noch nicht. Das damalige Handbuch kann aber auch an einer zweiten Stelle den heutigen Ansprüchen nur bedingt genügen: Es stellt fest. Es erklärt nicht. Um Orientierung zu geben, braucht es aber heute, anders als damals, das erklärende Moment.

Um es vorwegzunehmen: Wer das alte Handbuch und das neue Handbuch liest, der vergleicht Äpfel mit Birnen. Außer dem Titel haben beide Werke wenig miteinander gemein, auch wenn sie sich um den gleichen Themenkreis drehen.

Den Vätern der Inneren Führung ging es um eine einzige Sache: Wie kann man in einer deutschen Demokratie kriegsbereite Streitkräfte aufbauen? Begriffe wie „Gefecht“, die in der Vorschrift zur Inneren Führung keine Verwendung mehr gefunden haben, sind im Handbuch Innere Führung von 1957 zentral.

Man bekommt schon bei diesem Hinweis eine leise Ahnung, dass mit der Zeitenwende auch eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Gedanken der Inneren Führung notwendig erscheint, wenn es wieder darum gehen muss, dass Innere Führung einem übergeordneten Zweck dient und nicht ein bloßes Führungshilfsmittel für die einen und eine leicht verquaste Militärphilosophie für die anderen ist.

Nochmal: Beide Einordnungen waren den Vätern der Inneren Führung fremd. Heute wie damals muss es allein um eine Sache gehen: einsatzbereite Streitkräfte. Die Messlatte für ein neues Handbuch liegt also hoch.

Der Auftrag und die Idee

Als ich gefragt worden bin, ob ich an einer neuen Ausgabe des Handbuchs Innere Führung mitarbeiten will, habe ich leichtfertig und spontan zugesagt. So sehr ich die militärisch kurze und knappe Sprache des „Originals“ von 1957, die dadurch inhaltlich präzise, wenn auch inhaltlich nicht weniger anspruchsvoll ist, schätze, so notwendig scheint mir eine Neufassung. Das liegt auch daran, dass viele Themen, die heute wichtig sind, im alten Handbuch logischerweise nicht auftauchen. Sie waren damals einfach nicht „dran“.

Doch schon bei den ersten Zeilen ging es los. Ein Handbuch, dass zudem den Anspruch einer gewissen Verbindlichkeit hat, ist eben keine Aufsatzsammlung und schon gar kein Kommentar, der meiner persönlichen Meinung Raum gibt.

Ich habe mich an den Themen „Innere Führung und Reserve“ sowie „Innere Führung und Gesellschaft“ abgearbeitet. Beide Themen fordern aber geradezu die Kontroverse und die Debatte heraus. Trotzdem muss es der Anspruch des Handbuchs bleiben, Orientierung zu geben. Und damit sind wir mitten im Thema.

Ich möchte Ihnen die Perspektive eines Autors des neuen Handbuchs vermitteln. Die Federführung bei der Erstellung des Handbuches Innere Führung lag beim Kompetenz-Zentrum Innere Führung. Die Autoren wurden begleitet – sie kommen allesamt aus der Truppe –, auch ein Austausch untereinander wurde ermöglicht.

Die Arbeit am Text 

Die mir anvertrauten Themen waren (mir) nicht neu. Als ehemaliger Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär sowie als Reserveoffizier und Bürger habe ich Erfahrungen, Wissen und eine Haltung, aus denen ich meine niedergeschriebenen Gedanken schöpfe. Ich wollte weder eine persönliche Erzählung vorlegen, noch einen Lehrtext verfassen. Zudem war der Umfang mit vier bis fünf Seiten und 1500 Wörtern klar umrissen. Da ich zum Zeitpunkt des Schreibens als Reservist am Zentrum Innere Führung beordert war, hatte ich den Vorteil, dass ich ein klares Bild davon hatte, was der Text leisten soll und auch, was er nicht leisten kann.

Das Idealbild war: Es soll ein gut verständlicher Text entstehen, den vom Obergefreiten bis zum General jeder lesen kann, vielleicht sogar gerne lesen möchte. Sprache und Inhalt dürfen daher nicht wissenschaftlich verquast, aber auch nicht banal sein. Wer gerne mit der Schönheit der deutschen Sprache arbeitet, der wird die Grenzen des Möglichen schnell erkennen.

Unterschiede alt zu neu

Wenn wir das Handbuch von 1957 und die aktuelle Vorschrift („Innere Führung – Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr“, A-2600/1) in die Hand nehmen, dann fällt sofort ins Auge, dass es große Unterschiede nicht nur in der Form und der Sprache, sondern in der Gewichtung von Themen gibt.

Begriffe wie multinational, Auslandseinsatz, Rules of Engagement oder Integration tauchen im Handbuch von 1957 naturgemäß nicht auf. Aber prüfen wir einmal gemeinsam, ob es Werte und Tugenden gibt, die heute anders gewichtet werden als in der Gründungszeit unserer Armee.

Interessant ist, dass beispielsweise Schlagworte wie Menschlichkeit oder Freiheit und Demokratie schon 1957 einen ähnlich hohen Stellenwert hatten wie heute. Generell kann man feststellen: Die Werte, für die deutsche Soldaten eintreten sollen, haben in dem alten Handbuch und der noch relativ neuen Vorschrift eine ähnlich hervorgehobene Bedeutung.

Wie ist es nun mit Begriffen wie Härte, Disziplin und Tapferkeit? Die notwendige Härte in Ausbildung und Erziehung, Disziplin als Grundlage der militärischen Ordnung und Tapferkeit im Handeln finden wir in beiden Schriften, aber unterschiedlich akzentuiert.

Auffällig ist allerdings, dass der Begriff des Gefechts und der Kampf in der aktuellen Vorschrift kein einziges Mal genannt werden. Allein im Handbuch von 1957 wird der „Kampf“ aber 40 Mal erwähnt. Auch soldatische Werte, die wir heute oft mit Begriffen der modernen Managementsprache umschreiben, weil wir glauben, das klinge gut, finden sich in der Vorschrift kaum.

Als die Innere Führung erdacht wurde, stand aber genau das im Mittelpunkt: Wie kann man soldatische Werte und Tugenden, die für das Bestehen im Kampf unerlässlich sind, vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte mit einer freiheitlich verfassten Gesellschaft verbinden und daraus einsatzbereite Streitkräfte generieren?

Man bekommt eine leise Ahnung, dass es mit dem neuen Handbuch nicht getan ist. Da wird sich „jemand“ die Vorschrift unter der Überschrift „Zeitenwende“ und einer Rückbesinnung auf die Ziele der Inneren Führung noch einmal anschauen müssen.

Reserve

Grundsätzlich gilt: Der Auftrag der Reserve ergibt sich aus dem Auftrag der Bundeswehr. Die Reserve ist also nicht nur von haushaltspolitischen Gegebenheiten, sondern bestenfalls von sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in ihrer Struktur und Verfasstheit abhängig. Davon unbenommen bleiben aber grundsätzliche Fragen zum Selbstverständnis der Reserve und der in ihr organisierten Männer und Frauen. Da kommen wir an der Inneren Führung nicht vorbei.

Wichtig war die klassische Perspektive der Reserve als „Wanderer zwischen beiden Welten“, als Mittler in der Gesellschaft. Auch die Frage, ob die Reserve ein „Stiefkind“ der Inneren Führung ist, musste beantwortet werden. Wie wird Innere Führung in der Reserve vermittelt? Das ist hingegen eine Frage an die Reserve selbst! Appelativ ist die Reserve gefordert, sich als „Träger“ der Inneren Führung zu sehen. Sie kann so einen Beitrag zur Einsatzbereitschaft der Streitkräfte selbst und zur Resilienz der Gesellschaft leisten.


Gesellschaft

Ich habe den Versuch gewagt, den Blick über die Streitkräfte hinaus zu richten und Innere Führung als ein Angebot der Bundeswehr an die Gesellschaft zu beschreiben. Ausgehend von der These, dass die Bundeswehr in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, will der Text eine Annäherung an den Umgang mit gesellschaftlichem Wandel und unterschiedlichen Erwartungen aufzeigen, sensibilisieren und zugleich „Schlagworte“ hinterfragen. Ein „Zaubermittel“ gegen Schlagworte, so der 1936 verstorbene deutsche Generaloberst und Politiker Hans von Seeckt, sei klares Denken.

Wir erzählen solche Schlagworte auch mit Blick auf Bundeswehr und Gesellschaft oft unreflektiert: Das „freundliche Desinteresse“ ist so ein Schlagwort. Man könnte fast meinen, die Bundeswehr und ihre Gegner sind darin vereint, dass sie sich beide wünschten, es stimme.

Ein weiterer Gedanke: Die Bundeswehr ist heute in ihrer Struktur viel eher ein Abbild der Gesellschaft, als es die Wehrpflichtarmee je war. „Diversität“ als Selbstzweck ist im politischen Raum opportun, in einer Armee ist sie so verstanden jedoch tödlich. Wie bringen wir das zusammen?

Der Text soll weniger Definitionen liefern, als vielmehr Anregung zur Diskussion sein. Will die Armee überhaupt „jeden“? Wer passt zu den Streitkräften? Was erwartet die Gesellschaft von der Bundeswehr? Aber genauso: Was erwartet die Bundeswehr von der Gesellschaft?

Die Bundeswehr in der Gesellschaft stellt sich dem Diskurs um Wesen und Zweck der Streitkräfte. Dabei muss die Bundeswehr gesellschaftliche Veränderungen so adaptieren, dass ihre Integration in die Streitkräfte vereinbar ist mit dem Prinzip der Einsatzbereitschaft. Die Gesellschaft stellt im Gegenzug der Bundeswehr die Ressourcen zur Verfügung, die sie zur Erfüllung ihres Auftrags benötigt. Das ist komplex und eine wiederkehrende, nicht abzuschließende Debatte.

Meine Zusammenfassung

Das neue Handbuch wird „im Gefecht der verbundenen Waffen“ nur wirken, wenn man es richtig einordnet. Es ist an alle Angehörigen der Bundeswehr richtet.

Entscheidend wird es sein, die Inhalte des Handbuchs adäquat zu übersetzen, andere Vermittlungsformen neben dem Buch zu finden. Zu einem solchen „Baukasten“ kann übrigens durchaus der Rückgriff auf das Handbuch von 1957 gehören. Aus meiner Sicht bleibt es eine inspirierende Quelle. Das neue Handbuch löst das alte nicht ab, es tritt neben das „Original“.

Ein neues Handbuch muss dabei vor allem einem Anspruch genügen und sich eine Frage gefallen lassen: Ist das, was wir hier tun, was jeder jeden Tag tut, ein Beitrag zur Einsatzbereitschaft oder nicht?