Brennpunkt Kosovo

Aktuelle Eskalationen im Konflikt um die Staatlichkeit

Seit etwa einem Jahr ist die sicherheitspolitische Lage im Kosovo wieder angespannt. Sie hatte mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Serben im Nordkosovo und der KFORKosovo Force-Truppe der NATO im Mai 2022 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Doch was steckt hinter dem jüngsten Konflikt, und wo liegen seine Wurzeln?

Angesichts der Spannungen zwischen Serbien und Kosovo, stellt sich die Frage, welche Chancen es für eine friedliche Zukunft in der Region gibt.

Aktuelle Lage

Spätestens seit dem Sommer 2022 bestehen erhöhte Spannungen vor allem im mehrheitlich von Kosovo-Serben bewohnten Nordkosovo. Kern des Streits sind gegensätzliche Ansichten über die Staatlichkeit des Kosovo. Kosovo sieht sich als unabhängiger Staat, während Serbien Kosovo als eine Provinz im eigenen Land betrachtet. Im Jahr 2008 erklärte Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien und wird mittlerweile von mehr als der Hälfte aller Staaten als souverän anerkannt. Serbien weigert sich jedoch, dies ebenfalls zu tun. Dies führt zu zahlreichen bilateralen Disputen auf internationaler Ebene – wie Serbiens Widerstand gegen die Mitgliedschaft Kosovos in internationalen Organisationen – als auch auf nationaler Ebene – wie dem Streit um KfzKraftfahrzeug-Kennzeichen im Sommer 2022.

Sehr oft beziehen sich die Dispute auf die Situation im Nordkosovo, einer Region, die sich seit Kosovos Unabhängigkeitserklärung weigert, sich in die staatlichen Strukturen Kosovos zu integrieren und in dieser Haltung von Serbien unterstützt wird. Im Nordkosovo existieren momentan zwei staatliche Systeme parallel: das kosovarische System, dem die Polizei und die Justiz unterstehen; und das serbische System, dem das Bildungs- und Gesundheitswesen unterstehen. Die lokalen Verwaltungen agieren in beiden Systemen.

Die jüngste Krise im Nordkosovo begann Ende Juni 2022, als die kosovarische Regierung anfing, Reziprozitätsmaßnahmen gegenüber Serbien umzusetzen. Serbien erkennt von Kosovo ausgegebene KfzKraftfahrzeug-Kennzeichen nicht an, und Kosovo beschloss, dieselben Maßnahmen für in Serbien ausgegebene KfzKraftfahrzeug-Kennzeichen für Städte in Kosovo einzuführen. Die betroffenen Fahrzeuge sollten umgemeldet und mit kosovarischen Kennzeichen versehen werden. Die von diesen Maßnahmen überwiegend betroffenen Serben aus dem Nordkosovo, die sich in ihrem Alltag eher auf das serbische als das kosovarische System verlassen, protestierten gegen diese Entscheidungen. Diejenigen, die sich für die Ummeldung entschieden hatten, wurden Opfer von Brandanschlägen auf ihre Fahrzeuge und Einschüchterungen durch kriminelle Gruppierungen im Norden, die in enger Verbindung mit dem serbischen Regime stehen.

Unter diesen angespannten Bedingungen traten Anfang November 2022 Serben im Nordkosovo massenhaft aus kosovarischen Institutionen aus, wie der Lokalverwaltung (einschließlich der Bürgermeisterämter), der Justiz und der Polizei. Die Auslöser für den Massenrücktritt waren vielschichtig. Einer davon war die jahrelange Weigerung der Kosovoregierung, den 2013 vereinbarten Gemeindeverband der Kommunen mit serbischer Mehrheit zu etablieren, der den Kosovo-Serben mehr Autonomie auf Lokalebene geben sollte. Der Massenrücktritt wurde von Belgrad unterstützt.

Mitte Dezember 2022 errichtete die serbische Bevölkerung im Nordkosovo systematische Straßensperren. Diese Maßnahmen waren nicht nur auf die Weigerung zur Etablierung des Gemeindeverbands zurückzuführen, sondern auch auf Pristinas Entscheidung, am 18. Dezember 2022 außerordentliche Kommunalwahlen in den nördlichen Gemeinden abzuhalten, nachdem die vorherigen Bürgermeister ihr Amt niedergelegt hatten. Außerdem entsandte die kosovarische Regierung zusätzliche Polizeikräfte in den Norden, um das nach dem Rücktritt der Polizeibeamten entstandene Sicherheitsvakuum zu füllen. Kosovarische Polizei- und Sicherheitskräfte im Nordkosovo waren schon vor 2013 ein Streitpunkt zwischen Kosovo und Serbien und sorgten damals bereits für Proteste.

Die Straßensperren wurden Anfang Januar 2023 abgebaut, aber die alten Probleme im Nordkosovo bestehen weiter. Nachdem Pristina im April 2023 Kommunalwahlen im Nordkosovo abgehalten hat, die von Kosovo-Serben mit Unterstützung aus Belgrad boykottiert wurden, wurden in den vier Kommunen kosovo-albanische und bosniakische Bürgermeister bei einer Wahlbeteiligung von nur 3,5 Prozent gewählt. Der anschließende Beschluss der Kosovoregierung, die Verwaltungsgebäude in den Kommunen zu übernehmen, damit die neugewählten Bürgermeister aus den dafür vorgesehenen Gebäuden arbeiten können, ließ die Situation eskalieren. Ein Teil der Kosovo-Serben reagierte mit gewaltsamen Auseinandersetzungen, zuerst mit der kosovarischen Polizei, um den Zutritt der Bürgermeister zu den Verwaltungsgebäuden zu verhindern, und dann mit der KFORKosovo Force-Truppe der NATO, die den Frieden bewahren wollte. Das Resultat waren über 50 verletzte Kosovo-Serben und über 30 verletzte KFORKosovo Force-Soldaten.

Kosovos Regierung geriet infolgedessen in die Kritik der EUEuropäische Union und der USA, da sie diese Handlungen nicht mit ihren westlichen Partnern koordiniert und so die Situation eher verschärft hatte, als zu deeskalieren. Die jüngsten Unruhen ereigneten sich vor dem Hintergrund des im Februar und März 2023 vereinbarten Abkommens zwischen Belgrad und Pristina, das unter EUEuropäische Union-Vermittlung mit dem Ziel der Normalisierung ihrer Beziehungen verabschiedet wurde. Gemäß dem Abkommen sollte Serbien die Staatlichkeitsmerkmale Kosovos wie Dokumente und Symbole anerkennen und Kosovo den Gemeindeverband einrichten. Die Möglichkeiten zur Umsetzung dieses Abkommens sind jedoch angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den beiden Seiten noch offen. Mit Kosovos Ankündigung von Neuwahlen im Herbst 2023 wurde ein erster Schritt zur Deeskalation der Situation im Norden getan, allerdings müsste die Beteiligung der Kosovo-Serben an den Wahlen sichergestellt werden.

Wurzeln des Konflikts

Auch wenn die Wurzeln des Konflikts zwischen Belgrad und Pristina weiter zurückreichen als bis 1999 – das Streben der Kosovo-Albaner nach mehr Autonomie und Unabhängigkeit reicht nicht nur bis in die Zeit Jugoslawiens, sondern auch davor –, haben sich die heutigen Konfliktlinien zwischen beiden Seiten während des Kosovokriegs 1998–1999 verfestigt. Vor 25 Jahren brach der Krieg zwischen den serbischen (damals noch jugoslawischen) Polizei- und Streitkräften und der kosovarischen Befreiungsarmee (UÇK) aus. Die UÇK kämpfte in den 1990er-Jahren gegen die Unterdrückung durch das Milošević-Regime, das schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen an der kosovo-albanischen Bevölkerung beging.

Infolge des Krieges flohen ca. 600.000 albanische Flüchtlinge aus dem Kosovo, weitere 400.000 waren Binnenvertriebene. Etwa 200.000 Kosovo-Serben flohen ebenfalls, überwiegend nach Serbien. Mit der Zuspitzung des Krieges und Serbiens Angriffen auf die albanische Bevölkerung intervenierte die internationale Gemeinschaft. Im März 1999 griff die NATO strategische Ziele in Serbien an, um das serbische Regime zu schwächen und den Krieg zu beenden. Obwohl die NATO-Bombardierung aufgrund der Vetos von Russland und China nicht durch den UNUnited Nations-Sicherheitsrat autorisiert war, betrachteten viele westliche Staaten den Angriff wegen der schwerwiegenden humanitären Lage im Kosovo als legitim. Rund drei Monate später endete der Kosovokrieg mit dem Abkommen von Kumanovo, das Jugoslawien zum Abzug aller Streitkräfte aus dem Kosovo verpflichtete. Die Resolution 1244 des UNUnited Nations-Sicherheitsrates erklärte den Kosovo für statusneutral, bis sein Status international geklärt werden kann. Die Resolution bestätigte auch die Souveränität Jugoslawiens (bzw. Serbiens als Nachfolgestaat) über Kosovo. Jedoch musste Jugoslawien die Verwaltung und Kontrolle des Kosovo an die UNUnited Nations-Verwaltung UNMIKMission der Vereinten Nationen im Kosovo und die KFORKosovo Force-Truppe der NATO abgeben.

Während der UNUnited Nations-Verwaltung des Kosovo fanden unter UNUnited Nations-Vermittlung Statusgespräche zwischen Serbien und Kosovo statt. Da sich beide Seiten nicht einigen konnten – einerseits wollte Serbien seine Herrschaft über Kosovo nicht aufgeben, andererseits wollte sich Kosovo für unabhängig erklären – empfahl der UNUnited Nations-Sondergesandte für den Kosovo, Martti Ahtisaari, 2007 eine „beaufsichtigte Unabhängigkeit“ als wünschenswerte Lösung. Die internationale Gemeinschaft und auch Kosovo waren der Meinung, dass Serbien nach den Kriegen sowohl das moralische als auch das politische Recht auf Verwaltung des Gebiets verloren hatte. Da die Kosovo-Albaner die Oberhoheit Serbiens nicht akzeptieren wollten, erklärte sich Kosovo im Februar 2008 schließlich für unabhängig. Serbien akzeptierte dies nicht und ersuchte den Internationalen Gerichtshof (IGH), die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zu bewerten. Der IGH entschied 2010, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstoße. Der IGH entschied jedoch nicht darüber, ob Kosovo ein Staat ist oder nicht.

Nach diesem Urteil begrüßte die UNUnited Nations-Generalversammlung die Bereitschaft der EUEuropäische Union, bei der Normalisierung der Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien zu vermitteln. So wurde der Brüsseler Dialog (oder Normalisierungsprozess zwischen Belgrad und Pristina) ins Leben gerufen, der 2011 begann. Die erste wichtige Vereinbarung dieses Prozesses wurde im April 2013 getroffen – das sogenannte Brüsseler Abkommen. Im Rahmen dieses Abkommens sollten die parallel bestehenden serbischen Institutionen in Kosovo abgebaut und in den kosovarischen institutionellen Rahmen integriert werden. Damit sollte auch die Integration der Kosovo-Serben erreicht werden, die seit Kriegsende in einer Art Parallelgesellschaft im Kosovo lebten, finanziell abhängig von den Arbeitsplätzen in serbischen Institutionen wie Schulen, Krankenhäusern, Kommunalverwaltungen. Ziel des Brüsseler Abkommens war es also, die Souveränität des Kosovo im gesamten Territorium, einschließlich des Nordens, zu festigen, und den Kosovo-Serben mehr Autonomie in der Selbstverwaltung zu gewähren, was als Integrationsanreiz dienen sollte. Die Fortschritte bei der Integration der Kosovo-Serben in die kosovarischen Institutionen sind im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen im Nordkosovo infrage gestellt.

Chancen für eine friedliche Zukunft

Angesichts dieser polarisierenden Lage stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine Befriedung des Kosovo möglich ist.

Unter der derzeitigen politischen Führung wird Serbien ein unkonstruktiver Akteur bleiben, wie die Entwicklungen der letzten zehn Jahre zeigen. Serbien hat die Kosovo-Serben konsequent instrumentalisiert, um die Staatlichkeit des Kosovos zu untergraben. Zudem haben die jüngsten Ereignisse viel politisches Vertrauen zwischen der kosovarischen Regierung und der serbischen Gemeinschaft im Norden zerstört, da viele Nordkosovo-Serben die derzeitige Führung in Pristina nicht unterstützen. Auch die Umsetzbarkeit des neuen Abkommens ist fraglich, da der Deal sowohl in Belgrad als auch in Pristina unpopulär ist.

Die Implementierung des neuen Abkommens könnte jedoch zur nachhaltigen Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina beitragen, da es einerseits Serbien ermöglichen würde, sein Gesicht zu wahren, indem es Kosovo nicht formell anerkennt, und andererseits Kosovo helfen würde, seine Staatlichkeit auf seinem gesamten Territorium sowie auf internationaler Ebene zu konsolidieren. Zusätzlich würde es auch das Leben der serbischen Bevölkerung im Nordkosovo erleichtern, da institutionelle Überlappungen beseitigt werden würden. Die volle Implementierung des Abkommens könnte den Weg für eine vertiefte wirtschaftliche und regionale Kooperation zwischen Serbien und Kosovo ebnen und zu einem späteren Zeitpunkt auch Serbien dazu bewegen, seine Position gegenüber Kosovo als Staat zu reevaluieren. Auch eine formelle Anerkennung wäre nicht ausgeschlossen, wenn das Abkommen den Frieden bringt, den es verspricht. Nur unter der Bedingung einer vollständigen Normalisierung ihrer Beziehungen können Kosovo und Serbien zukünftig Teil der EUEuropäische Union werden.

Auf gesellschaftlicher Ebene gibt es eine wichtige Voraussetzung für die Normalisierung der Beziehungen, und sie lautet: Aufarbeitung der Vergangenheit. Hiermit muss sich vor allem Serbien auseinandersetzen und Wege finden, die Kriegsverbrechen an der kosovo-albanischen Bevölkerung anzuerkennen. Reparationen sollten nicht ausgeschlossen werden. Beide Seiten müssen die Debatte über die Opfer des Krieges entpolitisieren und an einer empathischen Kommunikation über den anderen arbeiten, wofür die überwiegende Verantwortung – als Haupttäter der Kriegsverbrechen – auf Serbiens Seite liegen muss.