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Dilemma der nuklearen Abschreckung
Zur Erinnerung an General a. D.außer Dienst Wolfgang Altenburg (1928–2023)
Kurz nachdem Deutschland 1955 der NATONorth Atlantic Treaty Organization beitrat, verkündete diese als strategisches Konzept die „Massive Vergeltung“. Militärs und Politiker der Allianz glaubten, dass die Androhung des sofortigen und umfassenden Nuklearwaffeneinsatzes als Reaktion auf jede Form militärischer Aggression des Warschauer Paktes gegen die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Mitgliedsstaaten einen Dritten Weltkrieg verhindern würde. Einen Ernstfall im Sinne eines Angriffs aus dem Osten, der eine Antwort mit Atomwaffen provoziert hätte, gab es nie.
In der Kuba-Krise 1962 erreichten die USA mit einer Seeblockade und Drohungen von Luftschlägen und Invasion den Abzug sowjetischer Mittelstreckenraketen von der Karibikinsel. Aber was wäre gewesen, wenn die Sowjets nicht nachgegeben hätten? Wie konnte man glaubwürdig seine Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft ausdrücken? Wie würde das an der Nahtstelle der Bündnisse, am Eisernen Vorhang funktionieren können? Und vor allem: Wie funktioniert die nukleare Abschreckung?
Henry Kissinger, damals Professor für Politikwissenschaften an der Harvard University, verstand die Abschreckung als eine Multiplikationsrechnung:
Abschreckung = Fähigkeiten x Mittel x politischer Wille zum Einsatz
Sie funktioniert nur, wenn eine Nuklearmacht ihre vorhandenen Nuklearwaffen (Mittel) einsetzen kann (Fähigkeiten), und dies auch mit dem politischen Willen kommuniziert wird, es notfalls wirklich zu tun. Und überdies muss die Gegenseite dieses auch so verstehen! Wenn einer dieser Faktoren gleich Null ist, bricht die ganze Abschreckung zusammen.
Der damalige USUnited States-Verteidigungsminister Robert McNamara trieb gemeinsam mit dem Generalstabschef der USUnited States-Streitkräfte, General Maxwell D. Taylor, den Strategiewandel in den USA bereits seit Amtsantritt der Administration John F. Kennedys voran. Die Kuba-Krise 1962 hatte gezeigt, dass die Existenz amerikanischer Nuklearwaffen die Sowjetunion nicht davon abhalten konnte, machtpolitisch zu agieren und auch eigene Raketen auf Kuba zu stationieren. Die Krise hatte USUnited States-Präsident John F. Kennedy ebenso aufgezeigt, dass ein Nuklearwaffeneinsatz nicht um jeden Preis zweckmäßig war. Hat Kennedy nun mit dem Verzicht auf einen solchen Einsatz die Abschreckung aufgegeben? Nein, er und seine Berater suchten eine andere Antwort auf die sowjetische Provokation, ohne gleich den Krieg zu wählen. Ab 1963 galt für die USA die Strategie der „Flexiblen Antwort“. Ein Konflikt sollte künftig auf der Eskalationsstufe beantwortet werden, die der Aggressor vorgibt, um den Status quo ante wieder herzustellen. Aber zweifellos würden sich die USA die nukleare Eskalation – stufenweise, und nicht gleich mit dem ganzen Arsenal! – vorbehalten.
Die NATONorth Atlantic Treaty Organization musste zwangsläufig ihrem größten und wichtigsten Mitglied 1968 mit dem neuen strategischen Konzept folgen – es gilt in seinen Grundaussagen mit Erweiterungen bis heute fort, wenngleich der Nuklearwaffeneinsatz allenfalls „only under extreme circumstances“ denkbar ist.
McNamara kritisierte den militärischen Nutzen der Atomwaffen später: „Those fancy nuclear weapons are completely useless!“ – obwohl die USA danach mehrere Tausend von ihnen in Europa stationierten, und obwohl das strategische Konzept der NATONorth Atlantic Treaty Organization nach der Flexiblen Antwort an einem bestimmten Punkt einer militärischen Eskalation den Nuklearwaffeneinsatz vorsah. Die USA verfügen seit den frühen 1950er-Jahren über die Fähigkeiten und die Mittel hierzu, und sie haben in den einschlägigen sicherheitspolitischen Dokumenten wiederholt den politischen Willen formuliert, sie einzusetzen, wenn es nötig wäre. Offensichtlich vertrauen Regierungen gerade in „NATONorth Atlantic Treaty Organization-Europa“ auf die Wirksamkeit der nuklearen Abschreckung der USA – im Kalten Krieg und bis heute – insbesondere im aktuellen Ukraine-Krieg.
In der frühen Bundeswehr glaubten einige Militärs tatsächlich, mit Nuklearwaffen eine Verteidigung in Mitteleuropa führen zu können. Wenn es sie, auch in taktischen Größen, schon gab, sollte man sie auch für die Operationsführung als „Battlefield Artillery“ berücksichtigen. Welche Rolle die Nuklearwaffen in den tatsächlichen Verteidigungsplanungen der NATONorth Atlantic Treaty Organization in Mitteleuropa besaßen, ist jedoch wenig erforscht. Nach einem Schriftwechsel zwischen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und USUnited States-Präsident Lyndon B. Johnson 1968 sollte ein Atomwaffeneinsatz mit deutschen Trägermitteln allein nach Zustimmung durch die Bundesregierung erfolgen. Dieses Agreement war weniger militärpolitisch zweckmäßig als vielmehr eine politische Willenserklärung.
1969 etablierte die NATONorth Atlantic Treaty Organization die „Provisional Political Guidelines for the Initial Defensive Tactical Use of Nuclear Weapons by NATONorth Atlantic Treaty Organization“ (kurz PPGs). Ihre Consultation Guidelines sahen vor, dass der defensive Nuklearwaffeneinsatz der NATONorth Atlantic Treaty Organization unter vier Auflagen erfolgen könne. Zustimmung muss vorhanden sein von dem Land:
- von wo aus die Waffen eingesetzt werden;
- auf dessen Territorium sie eingesetzt werden,
- das die Trägermittel bereitstellt und schließlich
- der „Nuclear Power“, die diese Waffen liefert.
Um es zu veranschaulichen: Im ungünstigsten Falle hätte die Bundesrepublik Deutschland von ihrem Territorium aus dem Einsatz von amerikanischer Nuklearwaffen unter Einsatz britischer Kurzstreckenraketen zustimmen müssen, wobei deren Ziele vielfach eben in der Bundesrepublik lagen.
Es ist auf den damaligen Verteidigungsminister Helmut Schmidt zurückzuführen, dass dieser „Konsultationsprozess“ in der NATONorth Atlantic Treaty Organization etabliert wurde und damit ein Atomwaffeneinsatz nicht alleinige Angelegenheit der USA war. Vor allem aber war es Schmidt, wie vielen anderen aus der Politik und Regierung ebenfalls, wichtig, dass Nuklearwaffen ausschließlich als „politische Waffen“ zu verstehen seien. Man sollte sie, so sagte General Wolfgang Altenburg, 1983 bis 1986 Generalinspekteur der Bundeswehr, nicht als „Battlefied Artillery“ verwenden. Sie würden im schlimmsten Fall zur Kriegsbeendigung, aber grundsätzlich vor allem zur Kriegsverhinderung durch Abschreckung dienen.
Der 1928 geborene und 1956 in die Bundeswehr eingetretene Wolfgang Altenburg war Artillerieoffizier, als er 1961 die Einführung der taktischen Atomrakete „Honest John“ erlebte. Diese hatte eine Sprengkraft von 5 bis 40 Kilotonnen und eine Reichweite – bei gutem Wetter – von bis zu 40 Kilometern. Altenburg wusste also, dass man mit dieser Rakete zwangsläufig das zerstören würde, was die Soldaten der Bundeswehr per Eid zu schützen haben. Als er später in seinem Generalstabslehrgang diesen Widersinn vorstellte und Kritik bei seinen Vorgesetzten hervorrief, er wäre doch viel zu jung, um das beurteilen zu können, wurde der damalige Kommandeur der Führungsakademie und spätere Generealinspekteur Ulrich de Maizière auf ihn aufmerksam. Beiden war gemein, dass sie den politischen Zweck der Nuklearwaffen erkannt hatten – Kriege kann man mit ihnen nicht führen und erst recht nicht gewinnen.
Für Oberst Wolfgang Altenburg gehörte ab 1971 als Deputy Chief Nuclear Policy Section im NATONorth Atlantic Treaty Organization-Hauptquartier SHAPESupreme Headquarters Allied Powers Europe und danach 1973 im Bundesministerium der Verteidigung als Referatsleiter im Führungsstab der Streitkräfte „das Nukleargeschäft“ zu seinem „daily business“. Seit dieser Zeit hat er gegenüber maßgeblichen Politikern der Bundesrepublik Deutschland und der mit ihr verbündeten Staaten stets verdeutlicht, dass ein Nuklearwaffeneinsatz in Deutschland selbst in einem möglichen Krieg nur unter ganz besonderen Bedingungen stattfinden könne; prinzipiell aber erst einmal nicht. Sein Credo, dass „Nukes“ viel mehr als militärische Werkzeuge Kriegsverhinderungs- und Kriegsbeendigungswaffen sind, und damit einen hohen politischen Wert besitzen, scheint heute aus der Zeit gefallen zu sein. In Zeiten aber, da auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs noch Politiker tätig waren, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt und erlitten hatten, war Krieg gegen den anderen Block keine Option. Aus den erlebten Schrecken eines umfassenden Krieges mit Millionenheeren speiste sich ihre Abneigung, solche Auseinandersetzungen zu suchen. Durch die Nuklearwaffen, und hier allein ihre Existenz, würde jeder militärische Konflikt zu einem vorhersagbaren Vabanquespiel. Die Verhandlungen der beiden Supermächte USA und Sowjetunion über strategische Rüstungskontrolle in den 1960er- bis 1980er-Jahren belegen, dass beide Seiten eine strategische Stabilität anstrebten, die die Wahrscheinlichkeit eines heißen Krieges und damit eines Nuklearkrieges verringern sollte.
Dieses Denken hat damals die militärisch und politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik Deutschland angetrieben. Ihr Streben, einen Atomkrieg zu verhindern, war erfolgreich. Die nukleare Abschreckung hat (bis heute!) funktioniert. Altenburg hat das alles, zuletzt als Vorsitzender des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Militärausschusses aktiv mitgestaltet. Insbesondere hat er sich 1987 eindeutig für den Verzicht auf nukleare Mittelstreckenwaffen ausgesprochen, der mit dem INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrag zwischen der Sowjetunion und den USA die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Nachrüstung revidierte. In seinem Denken stellte ein Mehr an Waffen nie automatisch ein Mehr an Sicherheit dar. Die kurze Phase des gegenseitigen Vertrauens zwischen der NATONorth Atlantic Treaty Organization und der Sowjetunion in den Jahren 1987 bis 1994 sollte ihm recht geben.
Jetzt, wo russische Truppen eine Spur der Verwüstung in der Ukraine hinterlassen und trotzdem ihrem strategischen Ziel nicht merklich näher kommen, befällt manche die Angst, Wladimir Putin könnte Nuklearwaffen gegen die Ukraine einsetzen. Wie reagieren die Staaten, die die Ukraine bisher unterstützen, wenn er diese rote Linie überschreitet? Folgt dann eine Vergeltung? Die Antwort bleibt im Bereich der Spekulation. Bis jetzt ist wenigstens kein Einsatz von Nuklearwaffen erfolgt. Die Abschreckung zwischen Russland und den Unterstützern der Ukraine scheint zu funktionieren. Bis jetzt. Henry Kissingers Gleichung besteht weiterhin. Wolfgang Altenburgs Credo ist ebenfalls noch in Kraft. Es bleibt zu hoffen, dass sich daran nichts ändert.
Er selbst hat den russischen Überfall auf die Ukraine noch erlebt und Putin in Gesprächen dafür scharf kritisiert. Am 25. Januar 2023 verstarb dieser nüchterne uniformierte Militärpolitiker.