Am 14. Juli 2021 kommt es im Ahrtal zu einer Flutkatastrophe mit unvorstellbarem Ausmaß. Das, was vorher nicht denkbar und vorstellbar war, ist zur brutalen Realität geworden.
Vielen Menschen wird die Lebensgrundlage von der Flut weggerissen, mindestens 133 Menschen sterben in den Wasser
massen. Wer oben in den Weinbergen und hochgelegenen Dörfern unterwegs ist, denkt, er ist im Urlaub, der Blick ins Tal zeigt einen Alptraum. Aus ganz Deutschland machen sich Menschen auf den Weg, um zu helfen – auch die Bundeswehr ist dabei.

Aus meinem Bereich werden Kräfte mit Bergepanzern in Marsch gesetzt. Der Notstand wird ausgerufen. In der Artillerieschule gibt es ein Lagezentrum, in das ich mich begebe. Ich bin katholischer Militärpfarrer in Idar-Oberstein. Im Moment werde ich noch nicht gebraucht, halte mich aber bereit.

Am 19. Juli geht es mit dem Kollegen von den Fallschirmjägern aus dem Saarland los. Unser Ziel sind die Luftlandepioniere in Kreuzberg. Die Pioniere arbeiten dort mit kleinen Baggern und manpower. Im Ort Kreuzberg hat die sonst kniehohe Ahr alles in Reichweite zerstört: Wohnwagen eines Campingplatzes in der Nähe hängen an einer Brücke, es ist apokalyptisch. Viele Helfer sind schon eingetroffen. Wir machen uns ein Bild von der Lage, reden dann mit unseren Soldatinnen und Soldaten. Das Ausmaß der Zerstörung ist unfassbar. Die Einzelschicksale, mit denen unsere Leute konfrontiert werden, sind grausam. Gut, wenn so etwas in Worte gefasst werden und „raus“ kann. Der Pfarrer vom benachbarten und schwer betroffenen Altenahr ist unser Semesterkollege. Seine Kirche ist hoch gelegen und diente in der Nacht schon als Notunterkunft und jetzt als Kleiderlager. Um das Pfarrhaus herum sind Stationen aufgebaut, an denen sich alle mit Essen und Getränken versorgen können. Alle, die mir begegnen, wollen reden. Alle haben dir etwas zu sagen: Eine Frau erzählt mir, wie sie ihre Eltern in der Flut versinken und wegschwimmen sah. Sie würde sich schon freuen, wenn nur die Leichen gefunden würden in dem Chaos. Ich höre zu, versuche ihren Schmerz mitzufühlen und sichere ihr mein
Gebet zu – das ist das, was ich im Moment tun kann. Vom 19. auf den 20. Juli sind wir im Ort Grafschaft in der Turnhalle untergebracht. Am Abend lädt uns die Dorfgemeinschaft ein. Wir haben zwischendurch immer wieder Zeit für Gespräche. Mit zwei Pfarrern sind wir vor Ort und haben bei den Soldatinnen und Soldaten einen guten Platz gefunden – wir
gehören dazu.

Am 22. Juli bekomme ich den Auftrag, die Schwarzenborner Jäger seelsorglich zu betreuen. Sie sind am Flugplatz von Ahrweiler untergebracht. Dort ist die zentrale Leichensammelstelle. Der Auftrag der Soldaten und Soldatinnen ist es, die geborgenen Leichen zur Sammelstelle zu transportieren. Sie arbeiten zusammen mit der Polizei und werden immer mehr in die Bergung mit einbezogen. Konkret sieht das so aus: Die Polizei meldet einen Leichenfund und die Soldaten setzen sich in Begleitung eines Polizisten in Marsch, um die Leiche zu bergen. Das Technische Hilfswerk (THWTechnisches Hilfswerk) hatte im Keller eines Hauses eine angeschwemmte Leiche gefunden und gemeldet. Unsere Soldaten sind mit einem Pritschenwagen, ausgerüstet mit Schutzausrüstung, Leichensäcken und einer Leichenwanne losgefahren. Vor Ort waren schon zwei Polizistinnen. Die Leiche hatte ja nun schon ein paar Tage dort gelegen. Glücklicherweise waren noch zwei erfahrene Sanitätssoldaten aus Rennerod vor Ort. Die Männer stiegen mit ihrem Stirnlampenlicht in den Keller, verbrachten die Leiche in den Sack und trugen sie hoch. Der Keller war eng und die Leiche außergewöhnlich schwer. Unsere Soldaten haben das durchgezogen und somit dem verstorbenen Menschen und seiner Familie einen großen Dienst erwiesen. Nachdem wir die Leiche ins Auto verbracht hatten, sprachen wir ein kurzes Gebet. In der Leichensammelstelle stand mitten unter uns ein Kühlcontainer. Mit Holz aus dem Wald hatte ich ein Kreuz gebaut, welches wir dort aufhängten. Ein „ewiges Licht“ wurde entzündet und Blumen aufgestellt. Dieses Ritual war wichtig und wurde von allen begrüßt.

Freitags und sonntags habe ich für alle Kräfte, die auf dem Flugplatz waren, einen Gottesdienst gehalten. Es war ein Moment der Besinnung in all dem Chaos, der gut angenommen wurde. Der Zusammenhalt aller auf dem Flugplatz war großartig und von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Abends saßen wir mit der Polizei zusammen und diejenigen, die es wollten, konnten sich das Erlebte von der Seele reden.

So bin ich dann von Donnerstag bis Montag bei der Truppe geblieben, habe gemeinsam mit den Soldatinnen und Soldaten in einem Flugzeughangar übernachtet und war einfach da. Unten im Tal war die Arbeit, die Katastrophe, das Leid, auf dem Flugplatz war das „normale“ Leben. Die Gespräche drehten sich vielfach um das Leben. Nicht um den Tod und das Leid. Ohnehin kommen die Traumata erst, wenn alles vorbei ist. Die Soldatinnen und Soldaten waren froh, dass sie die Möglichkeit hatten, sich auszutauschen. Auch wenn viele das Angebot nicht direkt in Anspruch nahmen. In den Tagen wurden wir auch von der Truppenpsychologin und von Psychotherapeuten des Bundeswehrzentralkrankenhauses (BwZK) Koblenz besucht, informiert und auch betreut. Was ist meine Erfahrung in der Seelsorge?

Zunächst einmal bin ich der Überzeugung, dass wir alle resilienter sind, als wir es uns vorstellen. Der liebe Gott, an den ich nun mal glaube, oder das Leben selbst, haben uns allen Krisenreaktionsmechanismen mitgegeben, von denen wir nichts ahnen. Das merken wir in allen Situationen, in denen wir über uns selbst hinauswachsen, in Situationen, die nicht angenehm sind und sehr fordernd, wo wir dann ohne großes Nachdenken in einer Art und Weise reagieren, die wir uns selbst nicht zugetraut hätten.

An der Ahr mussten unsere Soldatinnen und Soldaten ihre Grenzen überschreiten, indem sie zunächst unangenehme Gespräche führen mussten, mit Menschen, die großes Leid erfahren haben. Sie mussten an Orte gehen, die furchtbar aussahen und eben Dinge sehen, die man normalerweise nicht sehen will. Ganz zu schweigen von dem Geruch …

Und dann waren da die Bergung und der Transport von Leichen. Da wurden Grenzen überschritten. Der eine oder andere nimmt etwas Traumatisches mit nach Hause. Aber auch das wird sich nach Möglichkeit verarbeiten lassen, weil für ein gutes Debriefing gesorgt war. Wir nahmen uns immer wieder die Zeit zum Reden. Da wurde das Unfassbare in Worte gefasst und dadurch ein bisschen erfassbarer. Ich glaube ganz stark an die entlastende Kraft des gesprochenen Worts und somit der Hilfe zur Selbsthilfe. Ich höre dir zu: „Das, was du mir sagst, ist wichtig, weil du mir wichtig bist (Du, mein Kamerad, meine Kameradin); ich kann dich verstehen, weil ich das auch erlebt habe (deshalb war es mir wichtig, zu den Bergungen mitzufahren.) Mir hat dieses und jenes geholfen; sag mir, was hilft dir?“ Die Kraft der guten, kameradschaftlichen Kommunikation ist sehr groß. Wir haben das zusammen erlebt und wir reden es uns zunächst von der Seele. Damit ordnen wir es ein und geben dem Ganzen einen guten Platz in unserer Seele. In solchen Situationen ist es lebenswichtig, „Räume“ zum gemeinsamen Gespräch anzubieten. Und ich als Seelsorger kann und darf dann begleiten. Durch mein „Da sein“ gebe ich die Gelegenheit zum Einzelgespräch. So habe ich als Seelsorger bei der Bundeswehr nur gute Erfahrungen gemacht. Der Soldat denkt sich: Haben ist besser als brauchen. Und man weiß nie, wann man den Pfarrer mal braucht; deshalb kann es nur gut sein, einen dabei zu haben. Auch das gibt schon Stabilität. Meine Präsenz wird von den Soldatinnen und Soldaten geschätzt. Ich glaube an einen Gott, der gesagt hat: Ich bin der, der da ist! In der schlimmen Situation vor Ort einfach da zu sein und mitzuleben, verfügbar und ansprechbar zu sein, da fängt Seelsorge an. Dieses unaufdringliche Angebot wurde und wird von Soldatinnen und Soldaten immer wieder gerne genutzt. Vor Ort gab es eine Fülle von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die anfangs noch nicht gut organisiert waren. Die wirkungsvolle Vernetzung von Kirchen und Katastrophenschutz wird eine wichtige Aufgabe in der Zukunft sein.

Drei Monate nach dem Einsatz rund um die Flut gab es ein Nachbereitungsseminar mit der Truppenpsychologie, zu dem ich auch eingeladen war. Hier konnten wir alle gemeinsam unsere Erlebnisse, Ängste, die Trauer und die Hilflosigkeit verarbeiten. Diesen letzten Teil der direkten Betreuung schließt den Kreis, den die Seelsorge vor Ort im Einsatz begonnen hatte.