Russlands Krieg in der Ukraine: alte Konflikte eskalieren im postsowjetischen Raum
Russlands Krieg in der Ukraine: alte Konflikte eskalieren im postsowjetischen Raum
- Datum:
- Lesedauer:
- 7 MIN
Vom Südkaukasus bis nach Tadschikistan brechen alte Konflikte neu auf, weil sich nationalistische Kräfte im Windschatten des Ukraine-Krieges ermutigt fühlen - und weil Moskau als selbsternannte Ordnungsmacht überfordert ist, mäßigend einzugreifen.
Was am 14. Oktober 2022 auf dem Gipfeltreffen von Staats- und Regierungschefs der ehemaligen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in Kasachstans Hauptstadt Astana passierte, war ziemlich neu für Russlands Präsidenten Wladimir Putin: „Wir erwarten, dass ihr uns achtet“, begann der tadschikische Präsident Emomali Rahmon seine siebenminütige Wutrede, die auf YouTube bereits nach wenigen Tagen mehr als 4 Millionen Mal aufgerufen wurde. „Ich bitte Sie, die zentralasiatischen Länder nicht so zu behandeln, als wären sie die ehemalige Sowjetunion. Jedes Land hat seine eigenen Probleme, Traditionen.“
Man spürte während des Wortschwalls Putins Unbehagen. Selbst unter Verbündeten weht Moskau, dessen Krieg das fragile postsowjetische Staatenkonstrukt gefährdet, ein eisiger Wind entgegen. Denn die GUS, der auf zehn Staaten geschrumpfte Bund ehemaliger Sowjetrepubliken, in dem Russland sich als Garantie- und Schutzmacht sieht, ist zu einer Zone politischer Instabilität geworden: der gesamte postsowjetische Raum wird von Konflikten überlagert, die im Windschatten des russischen Überfalls auf die Ukraine neu aufzubrechen drohen.
Kirgistan und Tadschikistan
„Entlang der gesamten kirgisisch-tadschikischen Grenze finden schwere Kämpfe statt“, teilte der kirgisische Grenzschutz am 16. September mit. Das bestätigte auch die tadschikische Seite.
Kirgistan berichtete von mehr als 30 Verletzten in den eigenen Reihen. Der kirgisische Grenzschutz erklärte, tadschikische Sicherheitskräfte hätten das Feuer eröffnet. Die tadschikische Seite setze dabei auch Panzer ein. Außerdem warf der kirgisische Grenzschutz Tadschikistan den Beschuss des Flughafens in der Stadt Batken und angrenzender Gebiete im Südwesten Kirgistans vor. Bereits Ende 2021 kam es zu schweren Gefechten mit 23 Toten und 224 Verletzten.
Kirgistan berichtete von mehr als 30 Verletzten in den eigenen Reihen. Der kirgisische Grenzschutz erklärte, tadschikische Sicherheitskräfte hätten das Feuer eröffnet. Die tadschikische Seite setze dabei auch Panzer ein. Außerdem warf der kirgisische Grenzschutz Tadschikistan den Beschuss des Flughafens in der Stadt Batken und angrenzender Gebiete im Südwesten Kirgistans vor. Bereits Ende 2021 kam es zu schweren Gefechten mit 23 Toten und 224 Verletzten.
Um fast die Hälfte der beinahe 1000 Kilometer langen Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan gibt es aber immer wieder Streitigkeiten. Der Grenzverlauf ist nicht eindeutig markiert. Zuletzt bot sich Russland als Vermittler in dem Konflikt an. Als Hintergrund der aktuellen Gewalteskalation wird angenommen, dass Russland wegen des Krieges in der Ukraine in der Region nicht mehr sehr präsent ist.
Armenien und Aserbaidschan
Am 13. September 2022 kehrte der Krieg in den Südkaukasus zurück. Ministerpräsident Nikol Paschinjan sprach von mehr als 100 getöteten Armeniern, zudem hätten die Aserbaidschaner 50 Quadratkilometer armenisches Gebiet besetzt. Die aserbaidschanische Seite sprach von 54 Toten in ihren Streitkräften. Die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach wurde zu Sowjetzeiten Aserbaidschan zugeschlagen. Nach Auflösung der Sowjetunion erklärte sich Bergkarabach als „Republik Arzach“ für unabhängig von Baku und wurde dabei von Eriwan unterstützt. Der Krieg endete 1994 - vorläufig mit einem Sieg Armeniens. International wurde die Unabhängigkeit der „Republik Arzach“ jedoch nicht anerkannt. 2020 eroberte Aserbaidschan in einem Revanchekrieg große Teile Bergkarabachs zurück.
Das mit Armenien verbündete, aber an beide Staaten Waffen verkaufende Russland handelte einen Waffenstillstand aus und installierte eine sogenannte Friedenstruppe. Das diktatorisch regierte Aserbaidschan wird vor allem von der Türkei, dem Erzfeind Armeniens, militärisch und politisch unterstützt und hat sich obendrein als Erdgaslieferant für die EUEuropäische Union in eine komfortable Position manövriert. Beobachter sehen in der punktuellen Eskalation, wie auch schon im August, als mehrere Höhenzüge handstreichartig besetzt und armenische Kämpfer getötet wurden, einen möglichen Test Aserbaidschans, inwieweit Russland bereit und imstande ist, Armenien beizustehen.
Georgien und Russland
Mitten im Ukraine-Krieg rückt ein Konflikt in einem anderen Nachbarland Russlands in den Blick: Georgiens Separatistenregion Südossetien hat ein Referendum über einen Beitritt zur russischen Föderation angesetzt. Am 2. August 2022 deutete der frühere russische Präsident und Ministerpräsident Dmitri Medwedew auf Telegram eine mögliche Annexion von Georgien und Kasachstan an, die er als „künstliche Staaten“ bezeichnete.
Nach einem kurzen militärischen Konflikt mit Georgien im Jahr 2008 hatte Russland Südossetien und die Küstenregion Abchasien als unabhängig anerkannt. Beide Regionen unterstützt Russland finanziell und hat dort Tausende Soldaten stationiert. Der Bevölkerung wurde die russische Staatsbürgerschaft angeboten. Eine Volksabstimmung in Südossetien könnte nun dem Muster in der Ukraine folgen, wo 2014 nach einem international nicht anerkannten Referendum die Krim von Russland annektiert wurde.
In der gezielten Veränderung der Landkarte sahen viele Beobachter eine Bestrafung des in NATONorth Atlantic Treaty Organization und EUEuropäische Union strebenden Georgiens durch Moskau. Es war wie ein Vorspiel dessen, was Jahre später in der Ukraine geschah.
Republik Moldau und Transnistrien
Die prorussischen Separatisten in Transnistrien sehen wegen des Strebens der moldauischen Regierung in die EUEuropäische Union keine Chance für eine weitere Zusammenarbeit. Moldau habe sich bei seinem Beitrittsantrag nicht mit den Separatisten abgesprochen, sagte der Außenminister der international nicht anerkannten Regierung Transnistriens, Vitali Ignatjew, am 22. Juli 2022 in Moskau. „Moldau hat daher einen gewissen Rubikon überschritten, als es den Status eines EUEuropäische Union-Beitrittskandidaten erhalten hat“, fügte er hinzu.
Ignatjew sagte, niemand könne für Transnistrien sprechen, Ziel sei jetzt eine unabhängige Entwicklung und später ein Beitritt zur Russischen Föderation. Transnistrien liegt an der Grenze zwischen Moldau und der Ukraine. Separatisten hatten die Region Anfang der 90er Jahre für unabhängig erklärt, dies ist aber von keinem Staat anerkannt worden. Russland hat allerdings Soldaten dort stationiert, die es offiziell als Friedenstruppe bezeichnet.
Kasachstan und Russland
Wie angespannt das Verhältnis zwischen Russland und seinem zentralasiatischen Nachbarn Kasachstan ist, zeigte sich auf dem Internationalen Wirtschaftsforum Ende Juni 2022 in Sankt Petersburg. Erst sprach Wladimir Putin - nicht zum ersten Mal - den Namen seines kasachischen Amtskollegen Quassim-Schormat Tokajew falsch aus.
Dann ließ dieser selbst eine diplomatische Bombe platzen: Kasachstan erkenne weder die abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien als eigenständige Staaten an noch die „Quasi-Staaten“ Luhansk und Donezk.
Zuvor hatte Kasachstan das russische Kriegssymbol „Z“ verboten. Dann wollte es zum 9. Mai 2022 keine Sieges- und Militärparade abhalten und kündigte an, sich an die EUEuropäische Union-Sanktionen gegenüber Russland halten zu wollen. Seitdem mehren sich verbale Attacken des Kremls gegen das zentralasiatische Land, sie gipfelten in Medwedews Bemerkung. Die Situation ist hochexplosiv: Im Norden Kasachstans leben über zwei Millionen Russen. Schon lange fordern die russischen Nationalisten einen Anschluss dieser Gebiete an Russland. Viele Kasachen haben nun die Befürchtung, dass nach dem Krieg in der Ukraine Putin gegen ihr Land vorgehen könnte.
Kosovo und Serbien
Zwar gehört diese Region nicht zum Gebiet der ehemaligen Sowjetunion – doch der Konflikt zwischen dem Westen und Moskau findet auch auf dem Balkan seinen Niederschlag. Es ist zwischen dem Kosovo und Serbien erneut zu Spannungen gekommen.
Wütende Menschen hatten Anfang August im überwiegend serbisch bevölkerten Norden des Kosovos Barrikaden errichtet. Es sollen auch Schüsse in Richtung kosovarischer Polizisten abgegeben worden sein. Auslöser waren neue Reiseregeln für im Kosovo lebende Serben. An den Grenzübergängen sollen keine serbischen Personaldokumente mehr anerkannt werden. Stattdessen sollten sich Serben dort von nun an ein provisorisches Dokument ausstellen lassen. Die kosovarischen Behörden begründen dies mit einem identischen Vorgehen serbischer Behörden beim Grenzübertritt kosovarischer Bürger.
Russland hat dem befreundeten Serbien seinen Rückhalt versichert. „Wir unterstützen Serbien absolut“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag. „Wir unterstützen die friedliche und konstruktive Position Belgrads in diesem Zusammenhang.“
Das heute fast ausschließlich von Albanern bewohnte Kosovo hatte sich 1999 mit NATONorth Atlantic Treaty Organization-Hilfe von Serbien abgespalten und 2008 für unabhängig erklärt. Mehr als 100 Länder, darunter Deutschland, erkannten die Unabhängigkeit des Kosovos an - Russland nicht. Obwohl Serbien offiziell Beitrittskandidat der EUEuropäische Union ist, gilt der nationalistische Präsident Aleksandar Vučić als enger Verbündeter Moskaus, sein Kurs im Kosovo ist eng mit dem Kreml abgestimmt.
Fazit
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine droht die ohnehin fragile Ordnung im postsowjetischen Raum nachhaltig zu destabilisieren. „Es ist schwer voraussehbar, welche Auswirkungen Russlands Krieg gegen die Ukraine auf die künftige Ordnung im postsowjetischen Raum haben wird. Im Südkaukasus sah sich das Regime in Aserbaidschan mit Rückendeckung der Türkei offensichtlich ermutigt, Moskaus Schwächephase zu nutzen. In Georgien hielt sich die Regierung bislang mit dem Versuch zurück, die verlorenen Gebiete Abachasien und Südossetien zurückzuerobern“, sagt Wolfgang Richter, Oberst a.D. und Sicherheitsexperte an der Stiftung für Wissenschaft und Politik. „Gut möglich, dass dieser Krieg weltweite Standards unterminiert, zum Beispiel auch, was bisherige Tabus wie nukleare Optionen betrifft. Vor allem muss beim Blick in die Zukunft die Frage gestellt werden, was passiert, wenn in Russland als Folge einer Niederlage die Staatsmacht erodiert – wenn sich bei ethnischen Minderheiten, in Tschetschenien oder Inguschetien etwa, nationale Tendenzen verstärken? Dann wäre der Zusammenhalt des Landes bedroht.“