Oberstleutnant Frank Palmgren
Oberstleutnant Frank Palmgren
Tiefe Dankbarkeit: Aus dem Braunkohletagebau zum Artilleriestabsoffizier der Bundeswehr
„Ich muss im Sommer 1989 beginnen.“ Frank Palmgren rückt die Aufzeichnungen auf seinem Schreibtisch zurecht. Kurz vor dem Abschluss seiner 1986 begonnenen Ausbildung zum Offizier stand er damals. Einer Zeit, in der die Demonstrierenden auf dem Leipziger Nikolaiplatz auch in der Bevölkerungswahrnehmung keine verblendeten Spinner mehr waren, sondern zu Zehntausenden überall in den Großstädten der DDR auf die Straße gingen. Es war die Zeit als einige Kameraden Palmgrens plötzlich nicht mehr aus dem Urlaub zurückkamen. An eine in Wien abgesendete Ansichtskarte erinnert er sich. Die dem System entfleuchenden Kameraden meldeten sich nicht ohne Hohn noch vor der Wende aus „der Liste der Verpflegungsteilnehmer“ ab. Die Grenze nach Ungarn war zu diesem Zeitpunkt bereits offen.
Was macht das mit einem Menschen, der sich schon von Berufswegen mit seinem Staat und dessen Ideologie identifiziert und arrangieren muss, der Staatsdiener ist.
Die „Unruhen“, wie Palmgren sie nennt, waren natürlich Thema. Diejenigen in Dresden führten dazu, dass seine Männer und er in volle Gefechtsbereitschaft versetzt wurden. „Es schrillte der Alarm, wir Offiziersschüler empfingen unsere Waffen. Und, was für uns absolut überraschend war, auch die Munition, die zu unseren Kalaschnikows gehörte. Die Veränderungen in der Gesellschaft wurden für uns […] nachvollziehbar.“
„Die militärische Disziplin und Ordnung lag am Boden“
Die Härten seiner Ausbildungsjahre in der Nationalen Volksarmee (NVANationale Volksarmee) kann nachempfinden, wer sich in die damalige Zeit zurückversetzt. Die angespannte politische Situation, die mitunter menschenverachtende Behandlung durch die Vorgesetzten inmitten einer gedanklich im Umbruch befindlichen Gesellschaft. Regelmäßige Alarmierungen in Erwartung einer jederzeit möglichen Eskalation. Sei es durch die eventuell mögliche, aber nicht wirklich erwartete, militärische Intervention des „Gegners“ jenseits des Eisernen Vorhangs oder ausgelöst durch die Demonstrationen auf dem Staatsgebiet der DDR. Beeinflusst durch noch regimetreue Vorgesetzte, die mitunter bis zur letzten Minute für Hammer und Sichel eingestanden hätten und die in den Momenten vor der Wende doch genauso ratlos waren, wie die Offiziersschüler um den Kameraden Palmgren selbst.
Seine Ausbildungsjahre führen den 23-jährigen Frank Palmgren an absonderliche Einsatzorte. Kohletagebaue und Brikettfabriken zum Beispiel, in denen „Braunkohle gefördert wurde, die nicht ausreichte, um die Maschinen mit Energie zu betreiben, die notwendig war, um die Kohle zu fördern.“ Es sind Stationen, wie sie für Auszubildende in der Bundeswehr damals wie heute nicht denkbar gewesen wären und die den jungen Offizieranwärter an allen möglichen Stellen die Missstände des vor dem Zusammenbruch stehenden Staats- und Wirtschaftssystems der DDR erkennen ließen.
Palmgren baut mit seiner – der Auflösung geweihten – Einheit in seiner letzten Verwendung der NVANationale Volksarmee die einstmals durch dessen Vater aufgebauten Grenzsicherungsanlagen ab.
Voll aufgerüsteter Gefechtspark schockiert das Bundeswehraufbaukommando
Unter Verteidigungsminister Stoltenberg werden Bundeswehraufbaukommandos in den Osten geschickt, erreichen Frank Palmgren in seinem damaligen Verband: „Das war für mich überraschend. Die standen vor meiner Tür, vor unserem Unterkunftsgebäude und waren da. Der damalige Abteilungskommandeur, ein Hauptmann, nahm sie in Empfang, die trugen vor“, erinnert sich Palmgren. Shakehands und ein Lagevortrag zur Unterrichtung im Herbst 1990. Was sich hinter dem Kasernenzaun der Oranienburger Kaserne verbirgt, versetzt die Bundeswehrdelegation in Staunen. „Der Gefechtspark unserer Artillerieabteilung: Ein Kulturschock für den Westen.“ Hier stand eine Artilleriebatterie, voll ausgerüstet, voll aufmunitioniert, voll ausgestattet, an Stromerhaltungsanlagen angeschlossen. Jederzeit bereit ins Gefecht gefahren zu werden. Munition mit Gefechtsfahrzeugen in einer militärischen Liegenschaft, unvorstellbar für westdeutsche Verhältnisse.“
„Was passiert jetzt mit uns?“
Die von manchen kaum für möglich gehaltene Wiedervereinigung kam über Nacht. Was macht das mit einer Persönlichkeit? Wenn der mit Schweiß und Müdigkeit bezahlte Einsatz inmitten der Selbstfindungsphase eines Menschen sich über Nacht in Rauch auflöst? Sinnfragen am Sonntagabend auf Autobahnen auf dem Weg zu den ersten Truppenpraktika in den „Westen“. Was bewegt jemanden dazu weiterzumachen in den jetzt gemeinsamen Streitkräften? Mit welcher Aussicht, angesichts der nur geringen Übernahmequote? Abgesehen davon: Wie erfüllend konnte das Neu-Erlernen des militärisch längst Bekannten für einen Anfang Zwanzig-Jährigen noch sein?
Während für viele andere das „Intermezzo“ Bundeswehr nach zwei Jahren wieder endete, entschied sich Frank Palmgren zu bleiben. Wohl wissend, dass es um mehr ging, als eine Ehrenrunde Truppenabenteuer mit Durchschlageübungen in einem für ihn „völlig fremden Kulturkreis und in einer Region“ die er nur aus dem Geografieunterricht kannte. Er suchte seine Chance auch in dem Wissen um die Möglichkeit des Scheiterns. Nur 2.100 der 1990 vorläufig übernommenen 23.155 Offiziere wurden letztlich in die Bundeswehr übernommen.
Kameraden „West“
Der deutlich entspanntere Umgangston unter gleichzeitiger Beibehaltung der militärischen Disziplin und Ordnung. Die „Offenheit gegenüber Meinungen. Diese auch offen aussprechen zu dürfen. Vorgesetzte kritisieren zu dürfen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Offizieren und Unteroffizieren zu erleben, welches er in der NVANationale Volksarmee so nie kennengelernt hatte.
Die Aufzeichnungen, aus denen er vorliest, sind gespickt von lobenden Worten über die Motivation der Menschen, vom Mannschaftsdienstgrad aufwärts. Begeistert berichtet er von der Professionalität der Bundeswehraufbaukommandos. Lehrreich sei es gewesen. Er erlebte Menschen, die ihm „offen entgegentraten, Hilfe und Unterstützung anboten“.
„Veränderungswille, Initiative und Tatkraft wurden aus meiner Sicht in der alten Bundeswehr deutlich höher bewertet, wie es in der NVANationale Volksarmee die Realität war. Und wenn wir immer behauptet haben, bei uns würde der Mensch im Mittelpunkt stehen, so wie man versuchte uns zu `überzeugen´, so war die Realität eine komplett andere.“
Es sind vielleicht genau diese Unterschiede, die Frank Palmgren dazu bewogen haben, sich dem neuen System zu öffnen und die ihn eine nach 35 Jahren Dienstzeit in beiden Uniformen eine tiefe Dankbarkeit gegenüber den Kameraden „West“ der ersten Stunde spüren lassen.