Krieg und Zeitenwende
Krieg und Zeitenwende
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Der Forderungskatalog hatte es in sich: Russland verlangte u. a. von der NATONorth Atlantic Treaty Organization, keine weiteren osteuropäischen Staaten aufzunehmen. Dies lehnte der Westen ab. Am 24. Februar 2022 griffen russische Streitkräfte die Ukraine von mehreren Seiten an. Was will der Kreml erreichen? Was steht für den Westen auf dem Spiel? Wie reagiert Deutschland?
Der Überfall auf die Ukraine hängt mit der in zwei Jahrzehnten gewandelten inneren Verfasstheit Russlands und den korrespondierenden außen- und sicherheitspolitischen Folgen zusammen. Bereits im Februar 2007 signalisierte der russische Präsident Wladimir Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz, dass er den Weg der Kooperation mit dem Westen verlassen wolle. Das seit den 90er-Jahren gewachsene Gefühl, der Zerfall der Sowjetunion sei eine Demütigung gewesen, die NATONorth Atlantic Treaty Organization-geführten Balkan-Interventionen hätten sich gegen russische Interessen gerichtet und eine feindlich gesonnene Allianz wolle sich gen Osten ausdehnen, entlud sich. Es folgten der Georgien-Krieg 2008, 2014 die Annexion der Krim und die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine, das Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg ebenfalls 2014, das Einmischen in Libyen seit 2017 und zuletzt das Erscheinen von russichen Söldnern der Gruppe Wagner in Mali.
Das globale Ausgreifen und die Interventionen in der unmittelbaren Nachbarschaft fußen auf einer russischen Herrschaftsordnung sui generis, dem Putinismus. Dieser ideologiebezogene Erklärungsansatz in Teilen der internationalen sicherheitswissenschaftlichen Literatur erklärt, wie es Wladimir Putin gelang, mit Hilfe einer Trias aus Kremlverwaltung, loyalen Führern der Sicherheits- und Nachrichtendienste („Silowiki“) und Oligarchen ein System von Abhängigkeiten, Kontrolle und gegenseitigem Nutzen zu schaffen. Der gesellschaftliche Rückhalt wird einerseits von einer Wiedereinbindung der orthodoxen Kirche in tages- und moralpolitische Fragen flankiert. Andererseits revitalisierte die Führung die territoriale Expansion von Iwan dem Schrecklichen bis Zar Nikolaus II. Daraus wird ein Exzeptionalismus gegenüber anderen Staaten oder Völkern abgeleitet, der Einfluss oder Okkupation gestatte. Den Schlüsselstaaten Ukraine, Georgien, Moldawien und Belarus gesteht Putin dabei – wenn überhaupt – begrenzte Souveränität zu. Die orthodoxe Glaubensnähe, aber auch das Bestreben, eine Pufferzone gen Westen einzurichten, erklären die nachdrücklichen Reintegrationsanstrengungen des Kremls. Der Ukraine fällt dabei geschichtlich, mythologisch und geostrategisch eine besondere Rolle zu.
Des Weiteren wurde in den vergangenen Dekaden die sowjetische Vergangenheit verklärt: Die Verdienste des Zweiten Weltkriegs oder andere Errungenschaften stehen im Vordergrund, der Terror Stalins hingegen wird ausgeblendet. Die russische Wahrnehmung unterscheidet sich hier ganz grundsätzlich von anderen Gesellschaften des früheren Warschauer Paktes oder ehemaliger Sowjetrepubliken. Die Überwindung des Kalten Krieges und des Kommunismus wurde nicht als Sieg der Freiheit empfunden, sondern als Auslöser von wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Chaos und Gebietsverlusten.
Zwar haben sich die Lebensumstände der meisten Einwohner Russlands in den vergangenen Jahrzehnten verbessert. So sind Löhne und Renten gestiegen und das Bruttoinlandsprodukt (BIPBruttoinlandsprodukt) wuchs zwischen 1999 und 2013 um 150 Prozent. Allerdings führte der Aufschwung lediglich zu einem mit Italien vergleichbaren Bruttoinlandsprodukt. Das Land erwirtschaftet etwa 20 Prozent seines BIPBruttoinlandsprodukt durch den Handel mit Öl und Gas, die zirka 60 Prozent aller Exporte ausmachen. Russland kann sich weder nennenswerter Verbraucherprodukte auf dem Weltmarkt made in Russia rühmen, noch verfügt es über eine „soft power“, die global wahrgenommen wird. Die von Putin angekündigten Reformen wurden nicht umgesetzt. Dennoch scheint es einen „contrat social“ zwischen Führung und Volk zu geben, der gesellschaftliches Stillhalten mit nationalem Ruhm kompensiert. Folgerichtig nimmt das einheimische Publikum Nachrichten über die erfolgreiche Zurückdrängung des westlichen Auslands aus angeblichen Einflusssphären zufrieden auf.
Dieses System wird durch innere und äußere Gewaltanwendung oder -drohung aufrechterhalten. Oppositionspolitiker werden unter ungeklärten Umständen ermordet oder in fragwürdigen Gerichtsverfahren zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Bei spektakulären Auslandsmorden, wie im Berliner Tiergarten 2019, werden die Grenzen der „plausible deniability“ ausgereizt.
Wladimir Putin scheint drei Ziele zu verfolgen: die Unterwerfung fremder Gebiete, da sie Prestige und Respekt bescheren, aber eben auch Zugriff auf Rohstoffe oder Energieversorgungsleitungen. Sogenannte Farbenrevolutionen, die zu Regierungsumstürzen, Gerichtsverfahren und dem Verlust aller Privilegien führen, dürfen nicht stattfinden. Insofern können Moskaus Machtzirkel freie und wirtschaftlich erfolgreiche Staaten und Gesellschaften in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht dulden, wenn sie einen potenziellen Spillover-Effekt auf Russland verhindern wollen.
Die Ukraine und der Westen
Angesichts der Invasion russischer Streitkräfte steht für die Ukraine als souveränem Land mit transatlantischem Ehrgeiz im östlichen Europa die Existenz auf dem Spiel.
Der zähe Abwehrkampf der Ukrainer verdeutlicht, dass es für die Bevölkerung nicht nur um Freiheit und Einbindung in eine euro-atlantische Gemeinschaft geht, sondern ums Überleben. Die westlich gesinnte Elite ist sich angesichts sogenannter „Entnazifizierungslisten“ gewahr, welche Zukunft ihr bei einer erfolgreichen Besetzung blüht. Zwar war schon vor der Invasion eine Entfremdung zu Russland aufgrund der 14.000 Toten seit 2014 festzustellen, verbunden mit dem massiven Wunsch, mit der Tradition sowjetischer und zaristischer Bevormundung zu brechen. Jedoch bestanden kulturelle, familiäre und freundschaftliche Bande zu Russen in der Föderation und in der Ukraine. Der jetzige Krieg wird dazu führen, dass eine okkupierte Ukraine nur durch eine militärisch unterstützte Marionettenregierung an Russland gebunden werden kann.
Von grundlegender Bedeutung ist, dass eine Vereinnahmung der Ukraine die globale Nachkriegsordnung begraben wird. In der Satzung der Vereinten Nationen ächteten die Siegermächte Krieg als Form der Auseinandersetzung mittels des absoluten Gewaltverbots. Zudem sollen die Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker geachtet werden. Nach Beendigung des Kalten Kriegs wurden diese Prinzipien 1990 von den seinerzeitigen KSZE -Mitgliedsstaaten (Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) in der Charta von Paris bekräftigt. Die OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa -Gipfeltreffen in Lissabon 1996 und 2010 in Astana wiederholten – Russland eingeschlossen –, dass Staaten in der Wahl von Systemen kollektiver Sicherheit frei seien. Der NATONorth Atlantic Treaty Organization und den westlichen Hauptstädten blieb daher gar keine Wahl, als dem Kreml mitzuteilen, dass diese Säulen der europäischen und globalen Sicherheit nicht verhandelbar sind. Mit dem russischen Einmarsch wurde die Sicherheitspolitik ohnehin in das 19. und frühe 20. Jahrhundert zurückgeworfen: Ständige Aufrüstung und der jederzeitige Einsatz militärischer Gewalt könnten die kommenden Jahrzehnte prägen.
Der Angriff auf die Ukraine sendet zudem ein weiteres globales Signal, welches das russische – und teilweise auch chinesische – Narrativ füttert: Westliche Demokratien haben als dominante Akteure der Weltordnung ausgedient. Demnach sind ihre Gesellschaften schwach, zerstritten und schlecht geführt. Ohnehin verschiebe sich die wirtschaftliche Dynamik in die östliche Hemisphäre und die Zeit sei reif, die regelbasierte Ordnung durch Vorgaben autokratisch geführter Systeme zu ersetzen, die die kollektiven Wohlfahrtsbelange besser wahrnähmen. Bereits der unglückliche Abzug aus Afghanistan veranlasste Eliten auf der ganzen Welt zu Überlegungen, welche Mächte künftig den Ton angeben.
Inzwischen hat sich in Europa die Ansicht durchgesetzt, dass die Abhängigkeit von Energielieferungen aus Russland beendet werden muss. Für die EUEuropäische Union war es ohnehin bitter, dass Russland und die USA ohne sie über eine europäische Krise verhandelt hatten. Putin wollte jedoch seit Jahren ein neues Jalta erzwingen und so an die größte russisch-geführte Ausdehnung der Geschichte und die darauffolgende Teilung der Welt in Einflusssphären zwischen zwei Großmächten anknüpfen. Deshalb sprach der Kreml mit dem Sicherheitsgaranten des westlichen Bündnisses, den USA – auf Augenhöhe. Die EUEuropäische Union wurde dabei zum zweitrangigen Akteur, der am Tisch der Großen störte. Inwieweit sich die Union trotz ihrer Wirtschaftsmacht und ihrer ideellen Strahlkraft im Vorfeld des Kriegs unnötig selbst verzwergte, steht auf einem anderen Blatt.
Ausblick
Eine Beurteilung der militärischen Lage kann hier nicht getroffen werden. Viele sicherheitspolitische Analysten zeigen aber auf, dass Wladimir Putins Risikokalkulation drei Schwächen barg.
Erstens hat der Kreml die Moral der Ukrainer und ihrer Streitkräfte offenbar grob unterschätzt. Verwöhnt von früheren Interventionen, wo russische Truppen von – mehr oder minder – begeisterten Bevölkerungsteilen freudig in den Straßen willkommen geheißen wurden, unterlag man im Kreml offenbar der Vorstellung, dies würde sich in der Ukraine wiederholen.
Zweitens erhoffte sich Putins Entscheidungszirkel wohl einen schnellern Sieg. Dabei wurden aber die Schwierigkeiten langer Logistikwege und die geringe Moral der eingesetzten russischen Soldaten übersehen.
Und drittens sprechen einige Anzeichen dafür, dass Präsident Putin nicht nur die westliche Reaktion, sondern die eines Großteils der internationalen Staatengemeinschaft unterschätzte. Letzteres wurde überdeutlich, als die Generalversammlung der UNUnited Nations den russischen Angriff mit einer Mehrheit von 141 Stimmen verurteilte. Zwar hat er mit dem OPEC-Kartell noch einen wichtigen Verbündeten, der den Westen mit Ölverknappung unter Druck bringt. Dennoch dürfte die heftige Reaktion der EUEuropäische Union Putin überrascht haben. Die jahrelangen Bemühungen, die Union intern zu spalten, scheinen einstweilen vergebens. Selbst ein Eilantrag des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf Aufanhme in die EUEuropäische Union wird in Brüssel diskutiert.
Auch Deutschland hat den transatlantischen Test bestanden. Es hat sich dem gemeinsamen Vorgehen mit wirtschaftlichen Sanktionen und Waffenlieferungen – wahrscheinlich zum Erstaunen des russischen Regimes – nun angeschlossen. Mehr noch: Im Deutschen Bundestag verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 nicht weniger als eine sicherheits- und militärpolitische Zeitenwende. Mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro und einem Verteidigungshaushalt von künftig über zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes soll die Bundeswehr besser für die Landes- und Bündnisverteidigung aufgestellt werden.
Wie immer der Krieg gegen die Ukraine ausgeht, Russland ist wirtschaftlich, weitgehend politisch, aber auch kulturell isoliert. Der Westen und seine verbündeten Staaten werden sich im Hinblick auf Energiesicherheit, Wirtschaft, Wehrhaftigkeit und Diplomatie neu ordnen. Die Abkoppelung von Russland ist das Gebot der Stunde. Bis der Putinismus überwunden wird.