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Hybrider Krieg – Mehr als Cybersicherheit und Fake News

Hybrider Krieg – Mehr als Cybersicherheit und Fake News

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Der Begriff „hybrider Krieg“ erscheint vor allem seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine in der medialen Debatte omnipräsent. Was dieser jedoch genau meinen soll, bleibt hingegen oft unklar.

Dunkle Silhouette einer iranischen Kamikazedrohne vor orangerotem Himmel

Iranische Kamikazedrohne Shahed-136 Geran-2

IMAGO/Pacific Press Agency/Aleksandr Gusev

Hybridität als feststehender Terminus wird ursprünglich im Zusammenhang mit landwirtschaftlicher Züchtungsforschung, Botanik und Biologie verwendet. Dort bedeutet es, dass hybride Pflanzen aus mindestens zwei verschiedenen Arten oder Gattungen entstanden sind. Diese genetische Rekombination kann natürlichen Ursprungs sein oder durch Züchtung stattgefunden haben.

Wer etwas als „Hybridkrieg“ oder „hybriden Krieg“ bezeichnet, meint häufig feindliche Aktionen außerhalb des konkreten, als konventionell wahrgenommenen Schlachtfelds. Mitunter ist hybrid alles außerhalb des eigenen Erwartungshorizonts, des rein orthodox verstandenen Militärischen; es ist das Unkonventionelle und verdeckt Stattfindende, manchmal auch nur irgendetwas mit Cybersicherheit. Diese unklare und weite Interpretation des Begriffs muss aber kein Nachteil sein, deutet es doch daraufhin, wie grundlegend neue Erklärungsansätze ausfallen können und wie offen der Begriff „hybrider Krieg“ für Betrachtungsweisen und Ausdeutungen noch ist.

Ist es nicht so, dass unser Zeitgeist noch einer Ausdeutung bedarf, jetzt wo wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen; in all seiner Gewalttätigkeit des Krieges und alle Hoffnungen und Illusionen auf den ewigen Frieden fahren lassen müssen?

Jeder neue Krieg wird dann als „hybrider Krieg“ bezeichnet werden müssen, denn das beschreibt die gewaltsame Seite der Zeitenwende. Die komplexe und oft nicht „einfach“ zu deutende Jetztzeit bekommt dadurch einen Ausdruck beigeordnet. Der Begriff „hybrider Krieg“ wird zu einer geschichtlichen Erzählung, der Bezeichnung eines Typus oder einer historischen Ereignisabfolge.

Nachdenken über das Unbekannte

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Hybrider Krieg - Mehr als Cybersicherheit und Fake news
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Der Ursprung des Begriffs ist 1995 bei Thomas Mockaitis zu suchen, verwendet in dem Beitrag „A Hybrid War: The Indonesian Confrontation“. Mockaitis beschreibt den Kampf britischer Streitkräfte gegen indonesische Aufständische als hybrid, da sich der Konflikt als eine Mischung konventioneller Kriegsführung niedriger Intensität und Partisanenkriegsführung gestaltete. Mockaitis möchte mit dieser ­Interpretation verdeutlichen, dass zwischen sogenannter konventioneller und unkonventioneller sowie regulärer und irregulärer Kriegsführung kein Widerspruch besteht, sondern diese ineinander übergehen können und sich vermischen. Das trifft noch nicht ganz das Verständnis von „hybrider Kriegsführung“ im 21. Jahrhundert, wenngleich der Zusammenhang in die richtige Richtung zeigt. Mockaitis’ Beschreibung ist ein schöner, aber unnützer Pudel, da ihm noch der falsche Kern innewohnt.

Bornesische Soldaten in einem einfachen Boot mit Waffen im Anschlag

Soldaten in Borneo während der sogenannten „Konfrontasi“-Kämpfe zwischen Indonesien und Malaysia im März 1965

Getty Images/Stan Meagher

Im Jahr 2002 verfasste William J. Nemeth eine Dissertation mit dem Titel: „Future War and Chechnya. A Case for Hybrid Warfare“. Nemeth betrachtet anhand der Tschetschenienkriege, wie traditionelle Gesellschaften in einer kriegerischen Auseinandersetzung eine große militärische Herausforderung auch für entwickelte Staaten darstellen können. Insofern, dass diese Gesellschaften im Kriegszustand sowohl traditionellen als auch modernen Verhaltensmustern folgen. Nemeth sieht hybride Gesellschaften als schwach, jedoch extrem resilient in der Konfrontation mit modernen Streitkräften, was letztendlich zu einem Sieg über diese führen kann.

Eine wegweisende und bisher fast letztgültige Definition erlangte der Begriff durch James N. Mattis und Frank G. Hoffman in ihrem gemeinsamen Artikel „Future Warfare: The Rise of Hybrid Wars“ aus dem Jahr 2005. Hier wird der hybride Krieg als Kombination von Techniken und Praktiken skizziert, welche eine Vielzahl von Bedrohungsszenarien annehmen können. Diese Bedrohungsszenarien sind für Mattis und Hoffman in einem weiten Erwartungshorizont zu verorten und können zusammen in unterschiedlichster Kombination auftreten. Hierunter fallen unter anderem ethnisch motivierte Konflikte, Wirtschaftskriege, Cyberkriegsführung oder Angriffe auf den Transport- und Energiesektor.

US-Präsident Carter und der Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Breschnew, grüßen in die Kamera

USUnited States-Präsident Jimmy Carter und der Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Leonid Breschnew, nach der Unterzeichnung des SALT Strategic Arms Limitation Talks II-Vertrages in Wien im Juni 1978

Getty Images/Keystone

Der Gemeinschaftsartikel von Mattis und Hoffman führte nach seinem Erscheinen zu einer regen und breiten Fachdiskussion und fand darüber Eingang in die öffentliche Debatte. Diese kurz skizzierte Begriffsgeschichte über den „hybriden Krieg“ lässt sich auch als eine Zusammenfassung des Nachdenkens vor allem USUnited States-amerikanischer Wissenschaftler und Militärstrategen der Jahre 1996 bis 2005 verstehen.

Die Konfrontation mit der Sowjetunion war zu Ende und neue, noch unbekannte, Bedrohungen warfen ihre Schatten bereits voraus. Mit dem Untergang der Sowjetunion verbindet sich nicht nur das Ende der bipolaren Weltordnung, sondern auch das einer militärischen Machtsymmetrie. Eine Machtsymmetrie, welche sich paradoxerweise durch asymmetrische Kriegshandlungen am Rande ihrer Einflusszonen zeigte. So wird es einleuchtend, dass die erste Erwähnung des Begriffs bei Mockaitis in Verbindung mit der Aufstandsbekämpfung stattfindet. Der Kalte Krieg war glücklicherweise primär nicht durch eine direkte Konfrontation der beiden Bündnissysteme geprägt, sondern durch sekundäre und indirekte Auseinandersetzungen sowie Geheimdienstoperationen und sogenannte Stellvertreterkriege.

Kombination, Rekombination und Komplexität

Diese Art der asymmetrischen Konfrontation hat die Möglichkeit des direkten Staatenkriegs niemals ganz ausgeschlossen, diesen jedoch zeitweilig aus der Wahrnehmung verdrängt und schaffte somit die inhaltliche Grundlage für zukünftige „hybride Kriege“. Das Konzept „Hybridkrieg“ ist wie ein Mosaik und setzt sich aus einer Vielzahl von Strategien, Taktiken und Aktionen zusammen. Als Grundlage dieses Mosaiks verhält es sich mit „hybriden Kriegen“ dann doch ganz ähnlich wie in der Botanik. Der „hybride Krieg“ ist vor allem geprägt von seiner potenziell unendlichen Möglichkeit zur Kombination und Rekombination der eingesetzten Mittel, Strategien, Taktiken und Ziele. Der amerikanische Präsident Joe Biden drohte im Juli 2021 auch mit einem echten Krieg, sollten die Vereinigten Staaten Opfer eines virtuell stattfindenden Hackerangriffs werden. Welches genaue Ausmaß dieser Cyberangriff annehmen müsste, um die Schwelle zur militärischen Eskalation zu überschreiten, blieb derweil im Unklaren.

Austretendes Gas an der Oberfläche der Ostsee

Austretendes Gas an der Oberfläche der Ostsee aufgrund der hier zerstörten Gaspipeline Nord Stream 1, 28. September 2022E

IMAGO/Xinhua/Danish Defence Ministry

Doch nicht nur die Symmetrien der wechselseitigen Bedrohungen verlieren an Bedeutung, sondern auch die klare Zuordnung des Aggressors. Die Verantwortlichkeit für die zuletzt durchgeführten Anschläge auf Gaspipelines in der Ostsee ist noch immer nicht eindeutig aufgeklärt. Vermeintliche Warnungen und Anklagen an den Kriegsgegner wiederum sind eigentlich nur als Drohungen, Ankündigungen oder Rechtfertigungen für das eigene Handeln zu verstehen, wie beispiels­weise die Beschuldigungen Russlands, die Ukraine würde an Bau und Einsatz einer schmutzigen Bombe arbeiten oder mit Giftgas experimentieren und forschen.

Der „hybride Krieg“ führt zu überkomplexen Bedrohungsszenarien, da verschiedene, auch nicht mit rein militärischer Logik zu fassende mögliche Kriegsbilder, sich ineinander verschränken. Nun wurden Kriege auch in der Vergangenheit von Propaganda, Wirtschaftsblockaden und forcierten Flüchtlingsströmen begleitet. Diese Begleiterscheinungen oder Nebenkriegsschauplätze sind nun das Primärmerkmal von „hybriden“ Auseinandersetzungen. Sie treten gleichberechtigt neben dem Schlachtfeld auf und sind ähnlich wie die Dimensionen des Krieges zu Luft, Wasser und Land zu verstehen.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, am Rednerpult

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2020

IMAGO/YAY Images/palinchak

Wolodymyr Selenskyj mahnte 2020 auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit den Worten, dass es in unserer Welt keinen Krieg der Anderen mehr gäbe, keines anderen Katastrophe. Der „hybride Krieg“ findet unter den Bedingungen einer globalisierten Welt statt; ebenso wie die ökonomisch getriebene weltweite Interdependenz ist auch ein Krieg unter ihren Bedingungen getrieben vom Tempo ständiger Transformation, deren hohe Frequenz an Gleichzeitigkeit erinnert.

Das Verständnis von „hybriden Kriegen“ ist eng gekoppelt an Akzeptanz und Verständnis von Undurchsichtigkeit und Unwissenheit. Deshalb verhält sich dieser Begriff zu dem Sachverhalt, welchen er ausdeuten soll, ambivalent. Der Begriff „hybrider Krieg“ ist identisch mit dem paradoxen Kriegsbild, welches wir beobachten können. Es ist ein paradoxer Begriff.

Aufbau, Auflösung und Neuanfang

Was bedeutet dies nun für die Innere Führung und das Verhalten des Soldaten vor Ort? Vieles deutet darauf hin, dass uns wahrscheinlich Dekaden des Unfriedens bevorstehen, in welchen auch ein größerer Krieg mit deutscher Beteiligung nicht ausgeschlossen werden kann. Technische Neuerungen werden das Schlachtfeld der Zukunft weiter dynamisch halten. Auf jede mögliche Bedrohung vorbereitet zu sein, wird zwangsläufig an staatlicher Überforderung scheitern oder die Gesellschaften überbelasten.

Bildcollage: Empowering Innovation in Defence

Die Vision des Cyber Innovation Hub der Bundeswehr: Empowering Innovation in Defence

Cyber Innovation Hub der Bundeswehr

Drei kurz skizzierte Bausteine könnten zur Milderung, nicht zur Beherrschung der Problematik beitragen. Die politischen Führungen der europäischen Nationen müssen ihre Verteidigungspolitiken deutlich stärker harmonisieren und jedwede Doppelstrukturen abschaffen. Für die kommenden Aufgaben sollten die eingesetzten Mittel zielgenauer verwendet werden und Entscheidungen auf der politischen Ebene deutlich stärker zentralisiert werden.

Außenhandelspolitik muss viel stärker unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung des feindlichen Zugriffs stattfinden und mehr noch, den Aufbau von Unternehmen fördern, welche den Verteidigungssektor stärken. Das Entstehen eines europäischen Unternehmensnetzwerks, das tief in die nationale und europäische Verteidigungsstruktur integriert ist, verspricht neben steigender Innovationsfähigkeit vor allem fallweise abrufbares Potenzial. Strukturen werden in Zukunft davon leben, dass sie schnell aufgebaut werden können, sobald sie gebraucht werden und sich ebenso schnell wieder auflösen. Unsere derzeitige ständige Krisenwahrnehmung ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass vorhandene Möglichkeiten und Lösungen zu spät oder keine Anwendung finden. Staatliche Strukturen sollten diese Problemlösung steuern, nicht notwendigerweise institutionell ständig bereitstellen.

Für die militärische Führung wird sich oftmals ein ungeordnetes und widersprüchliches, teils diffuses Lagebild ergeben. Die Fülle an Informationen stellt strikt hierarchische Organisationen vor kaum lösbare Aufgaben. Auch auf Kosten der Binnenkohärenz der Truppe sollte der Führungsstil flache Hierarchien bevorzugen und auf allen Ebenen selbstständiges Handeln präferieren.

Lob der Vielfalt

Schnelligkeit, Risikobereitschaft und hohe Eigeninitiative waren eigentlich Kennzeichen der schwächeren Kriegspartei, die so ihrer organisatorischen, zahlenmäßigen und materiellen Unter­legenheit begegnen musste. Nun handelt der Stärkere nach der Funktionslogik der Schwächeren und beweist somit seine Flexibilität und Wendigkeit. Der militärische Führer wird in dieser Position eher zum Koordinator des in seiner Truppe vorhandenen Potenzials, weniger der strenge Befehlsgeber sein. Die Pluralität der militärischen Einheiten in Ausbildung, Spezialisierung und Fähigkeiten sollte nicht als Hindernis der Einsatzfähigkeit betrachtet werden, sondern vielmehr als Grundlage für den Kampf gegen einen unberechenbaren Feind. Die Akzeptanz von wahrhaftiger Pluralität wird für das künftige Funktionieren der Streitkräfte maßgeblich sein. Das Konzept Innere Führung wird vor allem gefordert sein, um gegenseitiges Verständnis zu fördern, nicht unbedingt um Gleichförmigkeit herzustellen. Schwierigkeiten der Interoperabilität der Truppenteile werden ein beständiger Risikofaktor bleiben, dabei wird gegenseitige Toleranz nur umso wichtiger, denn vom Cyberhub zur Mehrbettstube klaffen die Kulturunterschiede weit auseinander. Die ukrainischen Streitkräfte leben das in Ansätzen und im kleinen Maßstab vor. Soldaten werden nach Fähigkeiten und Problemen abgestellt und umgruppiert. Es bilden sich Einheiten von Drohnenbauern, Programmierern oder Panzerjägern und wiederum andere werden an komplexen Systemen westlicher Staaten fortgebildet. Das anarchische Treiben erinnert stark an das einer Universität oder eines Forschungsinstituts, mit Auftragstaktik hat das nur am Rande zu tun. Freilich kann das keinen Modellcharakter für andere, entwickelte Armeen besitzen. Es zeigt jedoch klar auf, dass starre Strukturen derzeit keine Zukunft haben.


von Matthias Kaiser

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