Gewissen, Mut und Widerstand. Zum 130. Geburtstag von Martin Niemöller

Gewissen, Mut und Widerstand. Zum 130. Geburtstag von Martin Niemöller

Datum:
Ort:
Koblenz
Lesedauer:
9 MIN

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Martin Niemöller, vor 130 Jahren in Lippstadt geboren, stritt als Marineoffizier, Pfarrer und Pazifist geradlinig und unbeugsam für seine Überzeugungen. Die junge Bundeswehr hinterfragte er kritisch und kompromisslos. Was trieb ihn an?

Martin Niemöller sitzt an einer Schreibmaschine und zieht an einer Zigarre.

„Gewissen vor Staatsräson!“ - Martin Niemöller (1892 - 1984)

ullstein bild - Sven Simon

Als Martin Niemöller im Herbst 1934 seine Autobiografie „Vom U-Boot zur Kanzel“ veröffentlicht, ist er 42 Jahre alt. Ein vor Selbstbewusstsein strotzender Mann in der Mitte seines Lebens, damals Gemeindepfarrer in Berlin-Dahlem. Der prägnante Buchtitel lässt die erzählerische Darstellung einer Lebenswende erwarten: Ein junger Marineoffizier erfährt die Schrecken des Kriegs, findet im Glauben Trost, zweifelt am Soldatenberuf und sieht sich statt zum Kriegs- nun zum Pfarrdienst berufen. Niemöllers Geschichte aber geht anders. Er erzählt weder von innerer Umkehr noch von einem religiösen Erweckungserlebnis. Er berichtet vor allem vom Kriegsalltag der Jahre 1916–1918, in denen er als Offizier seinen Dienst zunächst auf dem Unterseeboot U 73, dann auf U 39, U 151 und schließlich, im letzten Kriegsjahr, als Kommandant auf UC 67 versah. Am 14. Januar 1892 wurde er im westfälischen Lippstadt geboren. Den evangelischen Glauben hat Niemöller, der als zweites von sechs Kindern in einem westfälischen Pfarrhaus aufwächst, schon im Gepäck, als er nach dem Abitur 1910 Seekadett der Kaiserlichen Marine wird. Der Glaube an Gott begleitet ihn ebenso selbstverständlich in den Krieg wie der Glaube ans Vaterland. Zwischen den vielen nationalkonservativen Tönen in Niemöllers Erinnerungsbuch finden sich nur wenige nachdenkliche Zeilen, dort, wo die Seegefechte einen Moment pausieren: „[…] die Gedanken sind unterwegs, […] weit, weit drüben in der Heimat, weit jenseits der Heimat, in einem Land, wo Frieden ist. Gibt es das denn; wird es das denn je wieder geben? Oder werden wir fahren wie der Fliegende Holländer, jahraus, jahrein, ohne Ruh, ohne Rast? Und wieder sind wir alle – ohne daß auch nur ein Wort darüber gesprochen wird – bei den letzten Fragen: Leben, Welt, Gott?!“

Hörfassung des Beitrages

Das beeindruckende Leben von Martin Niemöller: Was trieb den Marineoffizier, Pfarrer und Pazifisten an?

Die Sorge um eine friedvolle Zukunft und die Suche nach Antworten auf die letzten Fragen treiben den jungen Marineoffizier um, doch an seinem Tun zweifelt er wenig bis gar nicht. Nach dem Versenken eines feindlichen Truppentransporters aber meldet sich sein Gewissen. Gemeinsam mit den anderen Offizieren an Bord überlegt er: War es richtig, die Rettungsaktion eines Zerstörers, der die Ertrinkenden aufzunehmen suchte, zu behindern?

„Und plötzlich breitete sich das ganze Rätsel ,Krieg‘ vor unsern Augen aus; mit einemmal [sic] wussten wir aus einem Stückchen eigenen Erlebens um die Tragik der Schuld, der zu entgehen der einzelne kleine Mensch einfach zu schwach und zu hilflos ist.“

Die „Tragik der Schuld“ erfährt Niemöller im Ersten Weltkrieg ganz unmittelbar, näher reflektiert er sie nicht. Andere, wie etwa Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), holen dies Jahre später nach. Vier Jahre Krieg lassen Niemöller nicht von den alten Idealen, die sich für ihn mit dem Soldatenberuf verbinden, abrücken. Er erkennt, dass es auf den Schlachtfeldern in den letzten Kriegstagen 1918 weder um Erfolg noch um Ehre geht, gleichwohl sieht er in den Gemetzeln „das eiserne Gebot der soldatischen Pflicht“ erfüllt. Noch weit ist Niemöllers Weg zum Pazifismus.

Die Kriegsniederlage stürzt Niemöller in eine tiefe Krise. Als er im November 1918 nach Kiel zurückkehrt, fühlt er sich als Fremder. Die anbrechende neue Zeit, die Demokratie der Weimarer Republik, wird ihm fremd bleiben. Während andere vom nationalkonservativen, völkischen Denken abrücken und für ein neues, demokratisches Deutschland streiten, zieht sich Niemöller zurück. Er verdingt sich zunächst als Knecht auf einem Bauernhof im Tecklenburger Land, der Heimat seiner Großeltern. Dann entscheidet er sich, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, Pfarrer zu werden. Durch Verkündigung des Evangeliums will Niemöller seinem Volk dienen, offen und frei will er seine Meinung sagen dürfen. Während seines 1920 aufgenommenen Studiums gilt sein Engagement nicht allein der Theologie: Er ist Mitglied einer deutschnationalen Studentengruppe und unterstützt als Kommandeur eines Bataillons der Akademischen Wehr Münster die Niederschlagung einer Arbeiterrevolte im Ruhrgebiet. Nach Studium und Vikariat in Münster und einer anschließenden Tätigkeit als Geschäftsführer der Inneren Mission Westfalens wird Niemöller im Juli 1931 Gemeindepfarrer in Berlin-Dahlem. Der Weg „Vom U-Boot zur Kanzel“ führte ihn in ein verändertes Land, zu einem anderen Menschen machte er ihn nicht.

Von der Kanzel ins KZ

Niemöller betritt die Kanzel der St.-Annen-Kirche in Dahlem 1931 nicht als Gegner des Nationalsozialismus. Im Gegenteil. Er wählt seit 1924 die NSDAP und teilt mit den Nationalsozialisten die Vision einer erstarkenden, zu neuem Stolz zurückfindenden Volksgemeinschaft. In einer Rundfunkansprache fragt er 1931: „Wo ist der Führer? […] Wann wird er kommen?“ Als zwei Jahre später Adolf Hitler Reichskanzler wird, erkennt Niemöller allerdings bald die Gefahr, die für die Freiheit der Kirche von der nationalsozialistischen Bewegung und ihrem Führer ausgeht. Die Gefährdung kirchlicher Unabhängigkeit durch die NSNationalsozialismus-Gleichschaltungspraxis ist für ihn inakzeptabel. Er protestiert gegen den sogenannten Arierparagrafen, der zu einer Entlassung von Pfarrern und Kirchenbeamten jüdischer Herkunft führt und zählt zu den ersten Mitgliedern des Pfarrernotbundes, eines wichtigen Vorläufers der Bekennenden Kirche.  

Im Januar 1934 begleitet Niemöller eine Gruppe von Kirchenführern in die Reichskanzlei zu einem Gespräch mit Hitler. Gegen Ende des Empfangs kommt es zu einem kurzen aber folgenreichen Wortwechsel zwischen Hitler und Niemöller. Darin widerspricht der Pfarrer Hitler offen, der allein die Sorge für das deutsche Volk übernehmen will. Die Verantwortung für das eigene Volk lasse sich den Christen nicht abnehmen, so Niemöller.

Als ein führender Kopf der Bekennenden Kirche wird Niemöller nicht müde zu betonen, dass allein Jesus Christus Haupt der Kirche sei. Mutig weist er den umfassenden Führungsanspruch der Nationalsozialisten zurück und gerät so ins Visier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo). Im Juli 1937 wird er verhaftet. Erst sieben Monate später beginnt sein Prozess u. a. wegen angeblicher Gefährdung des öffentlichen Friedens vor einem Sondergericht. Niemöller wird zu einer Geldstrafe sowie Festungshaft verurteilt. Letztere gilt unter Anrechnung der Untersuchungshaft bereits als verbüßt. Das Gericht aber kann Niemöller nicht als freier Mann verlassen. Er wird von der Gestapo in das KZ Sachsenhausen verschleppt, wo er als „persönlicher Gefangener des Führers“ bis 1941 in Haft sitzt. Anschließend wird er nach Dachau verlegt. Seine Freiheit erlangt er erst bei Kriegsende zurück. In der Haft erkennt Niemöller, „daß ich mich als Christ nicht nach meinen Sympathien oder Antipathien zu verhalten habe, sondern daß ich in jedem Menschen, und wenn er mir noch so unsympathisch ist, den Menschenbruder zu sehen habe […]!“

Vom Schuldbekenntnis zum Pazifisten

Hatte Niemöller schon im Ersten Weltkrieg als Soldat die „Tragik der Schuld“ erfahren, hält er es nach dem Zweiten Weltkrieg für seine Pflicht, die Schuld seiner Kirche am Krieg offen und laut zu bekennen. Er ist im Oktober 1945 an der Abfassung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses beteiligt, in dem der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) den in Stuttgart zusammentreffenden Vertretern des Ökumenischen Rats der Kirchen
(ÖRK) erklärt:
„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. […] wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
Niemöller selbst benennt darüber hinaus nicht nur die Schuld der Deutschen am Krieg, sondern auch ihre Verantwortung für den Holocaust.
Die Neuordnung des kirchlichen Lebens, an der er – zunächst als stellvertretender Ratsvorsitzender und Leiter des Außenamtes der EKD, ab 1947 als Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) – maßgeblich beteiligt ist, setzt in seinen Augen eine Einsicht in die schuldhaften Verstrickungen der Vergangenheit voraus.

Niemöller ist kein Diplomat. Er scheut vor Kontroversen nicht zurück, provoziert bewusst. Leidenschaftlich kämpft er für die deutsche Einheit. Ihretwegen lehnt er die Westbindung der Bundesrepublik ab, weil er fürchtet, dass dadurch die Konfrontation zwischen West und Ost weiter verschärft und die deutsche Teilung zementiert wird. Auf Einladung der russisch-orthodoxen Kirche reist er 1952 nach Moskau. Breite öffentliche Kritik schlägt ihm entgegen. In der Bundesrepublik gilt er manchen von nun an gar als „Agent Moskaus“. Doch Niemöller will weder für den West- noch für den Ostblock Partei ergreifen. Es ist die Sorge um die Deutschen jenseits des Eisernen Vorhangs, die ihn antreibt. Auf einer Tagung in Budapest wirbt er 1953 für Dialogbereitschaft:
„Wer den Frieden will, muss die Verständigung mit dem Gegner wollen.“  

Gewissen vor Staatsräson

In der Rüstungspolitik der Alliierten sieht Niemöller eine Gefahr für den Frieden. Zu Beginn der 1950er Jahre warnt er eindringlich vor der Wiederbewaffnung Westdeutschlands – um der deutschen Einheit willen. Militärisches Engagement löst in seinen Augen die politischen Probleme nicht: „Wir können im Augenblick mit Gewalt nichts besser machen. Ja, wenn es so wäre, daß ich Aussicht hätte, wir könnten die Brüder im Osten heraushauen, weil es gar keine andere Möglichkeit gäbe, ich glaube, da ginge der alte Soldat wieder mit mir durch, oder nicht der alte Soldat, sondern die Liebe Christi für meine Brüder da drüben.“

Wenige Jahre später, im Juni 1954, trifft Niemöller in Wiesbaden die Kernphysiker Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker. Sie erläutern ihm und zwei weiteren Theologen die verheerende Wirkung von Atomwaffen. Das Gespräch verändert Niemöllers Sicht auf Kriege grundlegend: Wenn der Mensch durch Nuklearwaffen die Fähigkeit gewinnt, den Planeten, Gottes Schöpfung, auszulöschen, dann wird der Krieg zur „Verneinung aller Menschenwürde“ und zur „totale[n] Absage an Gott und […] den Menschen“. Von nun an ist Niemöller, der Marineoffizier von einst, ein radikaler Pazifist. Sein kompromissloses Eintreten gegen die nukleare Teilhabe bleibt auch innerkirchlich nicht ohne Widerspruch. Für ihn aber ist sein pazifistisches Engagement Ausdruck dessen, was den Mensch zum Menschen macht, Ausdruck des Gewissens. Andere lässt er darüber nicht verfügen: „Wenn die Staatsräson von uns etwas anderes fordert, etwas von dem wir überzeugt sind, daß es nicht dem Frieden dienen kann, dann dürfen wir ihr nicht folgen, dann geht es nur noch nach der Parole: Gewissen vor Staatsräson!“

Niemöller, seit Oktober 1954 Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft, streitet couragiert für seine pazifistische Überzeugung. Er lehnt den 1957 zwischen EKD und Bundesrepublik geschlossenen Militärseelsorgevertrag ab und warnt mit Blick auf die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr vor einer „Kirche in der Kirche“ und einer „Militärkirche“. Nicht ohne Spannung dazu steht seine Forderung, dass Gottes Wort allen gepredigt werden müsse, weil es für alle Bereiche menschlichen Daseins Relevanz beanspruche. Der von ihm selbst eingeforderten Verständigungsbereitschaft wird Niemöller durch seine polarisierende Art nicht gerecht, als er im Januar 1959 in einer Rede in Kassel die Ausbildung zum Soldaten als „die Hohe Schule für Berufsverbrecher“ bezeichnet. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und zahlreiche Wehrpflichtige erstatten Strafanzeige. Die hessen-nassauische Kirchensynode distanziert sich von den in Kassel getätigten Äußerungen ihres Kirchenpräsidenten. Niemöller zeigt sich unbeeindruckt. Das Verfahren gegen ihn wird eingestellt.

Niemöller unterstützt die Anti-Atom-Bewegung und begleitet Ostermärsche. Er hadert nicht nur mit der Bundeswehr und der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Politik, sondern auch mit der westdeutschen Parteiendemokratie und den bürokratischen Strukturen seiner Kirche. 1964 scheidet er aus dem Amt des Kirchenpräsidenten aus, woraufhin er sich ganz dem Einsatz für die Friedensbewegung verschreibt. Als einer der Präsidenten des Ökumenischen Rats der Kirchen unternimmt er zahlreiche Reisen in die ganze Welt und versucht, zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern zu vermitteln. Er gehört zu den Erstunterzeichnern des Krefelder Appells und protestiert so 1980 gegen den NATONorth Atlantic Treaty Organization-Doppelbeschluss.

Historisches Foto, Martin Niemöller spricht vor Demonstranten.

Rund 6.000 Demonstranten beteiligten sich am 26. Oktober 1980 in Kaiserslautern an einer Kundgebung der Friedensbewegung gegen neue Atomraketen. Martin Niemöller (links) gibt dem Protest eine Stimme.

picture alliance / Klaus Rose

Am 6. März 1984 stirbt Niemöller in Wiesbaden. Längst ist er für jüngere Generationen zu einer Symbolfigur der westdeutschen Friedensbewegung geworden.

Als 71-Jähriger schloss Niemöller ein Interview mit dem Hinweis, dass er zu jeder Zeit und Stunde zugebe, irren zu können. Er war weder Held noch Heiliger, keineswegs frei von Fehl und Tadel. Aber in seiner Geradlinigkeit und Entschlossenheit, für die Freiheit des Gewissens zu kämpfen, in seiner Beharrlichkeit zu fragen, was dem Frieden dient und in seiner Bereitschaft, in jedem Menschen den Mitbruder zu sehen, ist er heute noch ein Vorbild.

von Sven Behnke

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