Dienen aus Einsicht
Dienen aus Einsicht
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Deutschland steht vor großen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Die Innere Führung hat ihren Beitrag zur vollständigen Einsatzbereitschaft zu leisten und den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr die Überzeugung zu vermitteln, auf der richtigen Seite zu stehen.
Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Zeitenwende und Innere Führung?
Bundeskanzler Olaf Scholz hat es am 27. Februar 2022 auf den Punkt gebracht: Er konstatierte eine „Zeitenwende“. Die Bundeswehr soll mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro besser ausgerüstet werden, um auch materiell die volle Einsatzbereitschaft wiederherzustellen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verwendete in seiner Rede zur Lage an die Nation am 28. September 2022 den Begriff „Epochenbruch“, um die aktuelle Lage zu beschreiben. Er sieht eine „Epoche im Gegenwind“ vor Deutschland liegen. Mit den Operativen Leitlinien für die Streitkräfte vom 19. September 2022 ist durch den Generalinspekteur der Bundeswehr das Ziel klar vorgegeben: „Der Angriff Russlands hat uns gezeigt, dass Deutschland, eingebunden in die Bündnisse der kollektiven Sicherheit, die Fähigkeit und Bereitschaft besitzen muss, sich auch gegen offene Feindschaft und Aggression zu behaupten. (…) Soldatinnen und Soldaten benötigen ein gefestigtes Selbstverständnis, eine sichere Orientierung, tiefe emotionale Bindung und belastbare Prägung durch organisationale Sozialisation im Sinne der Inneren Führung auf dem Boden der Werte und Normen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“
Es geht also nicht nur um neu zu beschaffende Kampfflugzeuge und eine bessere materielle Ausrüstung, sondern letztlich um die Stärkung der Motivation der Soldatinnen und Soldaten gegenüber den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen mithilfe der Inneren Führung. Manche sprechen von einem „Mindset LV/BVLandes- und Bündnisverteidigung“ als konstruktiver Einstellung zur Landes- und Bündnisverteidigung. Wie können wir dieses Ziel erreichen?
Hörbeitrag: Dienen aus Einsicht
Einsatzbereitschaft
Es ist mehr als berechtigt, dass in den Operativen Leitlinien, einem zentralen Dokument des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVgBundesministerium der Verteidigung), die Innere Führung als ein klarer Bezugspunkt genannt wird. Denn die Innere Führung stand in der Vergangenheit immer wieder als angeblich zu weich, zu verkopft und für die Anforderungen einer Einsatzarmee als nicht praxistauglich in der Kritik. Angesichts unkalkulierbarer Bedrohungen geht es der Inneren Führung in der Vergangenheit wie heute schlicht um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Es geht um die Motivation der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, im äußersten Fall zum Schutz der Menschen in Deutschland und Europa gemeinsam mit den Verbündeten ihre Gesundheit und ihr Leben einzusetzen.
Innere Führung
Die Konzeption der Inneren Führung liefert seit der Gründung der Bundeswehr und der Veröffentlichung des Handbuches Innere Führung 1957 ein geistiges Rüstzeug aus Werten und Normen. Nach dem verbrecherischen Krieg der Wehrmacht gibt es die zeitgemäße Antwort auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit des soldatischen Dienens. Die neuen deutschen Streitkräfte wurden entsprechend in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verankert und in die durch die Erfahrung des Krieges geprägte Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland integriert. Der „Staatsbürger in Uniform“, der in sich den mündigen Staatsbürger, den einsatzbereiten Soldaten und die freie Persönlichkeit jedes Einzelnen vereint, löst das Spannungsverhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Armee auf. Bereits das erste Handbuch stellte die Frage „Wie kann die deutsche Bundeswehr in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Instrument höchster Schlagkraft gestaltet werden?“ Neben das soldatische Handwerk sollte die innere Überzeugung treten. Der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, General Heusinger, formulierte im dortigen Vorwort: „Der Geist, das Innere Gefüge der jungen deutschen Bundeswehr, entscheidet über das Recht, diese Waffen nach dem parlamentarisch manifestierten Willen des Volkes zu tragen und im Verteidigungsfall auch zu führen. Es geht um die Rechte und Würde jener Menschen, zu denen wir gehören. Es geht um das Land, das wir lieben, um seine Freiheit und um die Freiheit eines jeden einzelnen von uns.“
Sicherheitspolitische Herausforderungen
Auch wenn die heutige sicherheitspolitische Situation auf den ersten Blick einiges mit der Zeit der Blockkonfrontation im Kalten Krieg gemeinsam haben mag, würde die Annahme zu kurz greifen, die Bundeswehr müsste lediglich das alte bipolare Denken reaktivieren. Niemand kann heute vorhersagen, welche Herausforderungen auf die westliche Wertegemeinschaft beispielsweise aus der Entwicklung in China und aus dem Klimawandel, durch fortschreitende Digitalisierung, Migration und mögliche Pandemien erwachsen. So stellte bereits das Weißbuch 2016 fest:
„Insgesamt wird das Gefährdungspotenzial für unsere Sicherheit breiter, vielfältiger und unberechenbarer.“ Landes- und Bündnisverteidigung finden deshalb schon jetzt in unterschiedlicher Form statt, ob im Baltikum oder in der Abwehr von Cyberangriffen. Gleichzeitig bleiben die Verpflichtungen Deutschlands in den Auslandseinsätzen weiterhin bestehen. Dies stellt eine gewaltige Herausforderung sowohl für die Organisation Bundeswehr als auch persönlich für alle Soldatinnen und Soldaten dar.
Die Frage „Wofür dienen wir?“ verdient deshalb eine nähere Betrachtung. Als „Armee in der Demokratie“ stehen wir für die freiheitliche demokratische Grundordnung ein. Die gemeinsame Basis kann deshalb nur der Wertekanon des Grundgesetzes sein. Besonders deutlich wird dies in der Eidesformel, die uns Soldatinnen und Soldaten in einer würdevollen Form in ein besonderes Bindungsverhältnis zu unserem Land, seinen Werten und seiner Bevölkerung stellt. Wir verteidigen die freiheitlichste Verfassung und Lebensform, die Deutschland je hatte. Bereits in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten war dies tägliche Realität für die Soldatinnen und Soldaten in den unterschiedlichen mandatierten Einsätzen – von den ersten Kontingenten auf dem Balkan, über EUTMEuropean Union Training Mission Mali und UNIFILUnited Nations Interim Force in Lebanon bis hin zu Resolute Support. Die unmittelbare Erfahrung von Gewalt und Leid, die Herausforderung, sich mit anderen kulturellen und historischen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen, hat das Bewusstsein geschärft, wofür unser Land als freiheitliche Demokratie steht und welch wichtige Bedeutung uns als Soldatinnen und Soldaten als Mittler dieser Werte zukommt. Diese Erfahrung haben die Soldatinnen und Soldaten reifen lassen. Die Bundeswehr hat sich in diesen Jahren nicht nur in ihren technischen Fähigkeiten, sondern auch in ihrer inneren Verfasstheit verändert. Dies stellt einen wertvollen Erfahrungsschatz mit Blick auf zukünftige Herausforderungen dar, den es immer im Blick zu halten gilt.
Frage des Zusammenhalts
Die Frage, wofür Soldaten dienen, kämpfen, ihr Leben einsetzen, töten und sterben, stellte sich in der Geschichte zu jeder Zeit neu. In seinem Buch „Deutsche Krieger“ nimmt Prof. Neitzel hierzu auf den Begriff der „Kohäsion“ als Erklärungsmodell Bezug. Dabei steht die zentrale Frage im Fokus, welches die entscheidenden Faktoren für die „Kampfbereitschaft“ von Soldaten sind. Die aktuelle Forschung der Militärsoziologie verwendet in diesem Zusammenhang auch die Begriffe „Kampfmoral, Einsatzmotivation, militärische bzw. soldatische Kohäsion und Zusammenhalt bzw. Kameradschaft“. Im Idealfall bilden weltanschauliche Wertegebundenheit und die Überzeugung, „auf der richtigen Seite zu stehen“ (vertikale Ebene) mit dem Zusammenhalt in den sogenannten Primärgruppen, wie der „kleinen Kampfgemeinschaft“, und dem Vertrauen in Vorgesetzte (horizontale Ebene) eine Kombination. In die Sprache der Vorschrift Innere Führung übersetzt, betrifft dies die Ziele der Inneren Führung: Legitimation (Vermittlung des geistigen Rüstzeugs und Beantwortung der Frage nach der Sinnhaftigkeit des Dienens) und Motivation (Bereitschaft zur gewissenhaften Pflichterfüllung sowie den Zusammenhalt der Truppe zu bewahren). Dieser Zusammenhang und damit die Einsatzrelevanz des Konzeptes wurden zuletzt durch Brigadegeneral Arlt im Interview (siehe IF 3|22) vor dem Hintergrund der Evakuierungsoperation in Kabul 2021 bekräftigt.
Theorie und Praxis
Der theoretische Rahmen ist somit beschrieben. Gleichzeitig erfahren Soldatinnen und Soldaten im Truppenalltag oder auf Ämter- und Kommandoebene jedoch oft, wie Anspruch und Wirklichkeit der Inneren Führung auseinanderklaffen. Sie erleben Mikromanagement statt „Führen mit Auftrag“ Absicherungsdenken und Sorge um die eigene Karriere statt Mut zu Flexibilität und einem verantwortungsvollen Umgang mit Fehlern unter dem gerne verwendeten Begriff „Fehlerkultur“.
In Beurteilungsgesprächen erleben Beurteilte ihre beurteilenden Vorgesetzten oftmals nicht als wahrhaftig und gerecht, insbesondere dann, wenn diese nie oder selten ihre Pflicht zur Dienstaufsicht wahrgenommen haben. Bei den politisch Verantwortlichen nehmen die Soldatinnen und Soldaten oftmals Zögerlichkeit und allenfalls Lippenbekenntnisse zur Bundeswehr, aber wenig Verständnis für die grundsätzlichen Belange einer Armee mit dem Auftrag „Verteidigung“ wahr. Diese Erfahrungen werden dann oftmals dem Konzept der Inneren Führung angelastet.
„Hearts and minds“
Eine Persönlichkeit, die den hohen Ansprüchen des soldatischen Wertekanons – abgeleitet von den Grundsätzen der Inneren Führung – entspricht, entsteht aber nicht auf Befehl. Wir sind alle zunächst einmal aufgefordert, ganz individuell Verantwortung für uns selbst zu übernehmen und uns der eigenen Motivation bewusst zu werden. Was ist mir wichtig? Was treibt mich an? Was lässt mich durchhalten, wenn es mal hart kommt? Was ist mein persönlicher Wertekompass? Wie steht es um meine persönliche Einsatzbereitschaft, meine eigene psychische Fitness und körperliche Robustheit, meine fachliche Kompetenz? Bin ich der Kamerad, die Kameradin, wie ich es mir von anderen wünsche? Auf der Grundlage der Eigenverantwortung sollten wir dann „Mitverantwortung“ für unsere jeweilige Gruppe übernehmen und uns als wertvolles Teammitglied einbringen.
Vorgesetzte, egal auf welcher Ebene, tragen dabei eine entscheidende Verantwortung. Sie fördern oder behindern durch ihr Handeln und Vorleben die Bereitschaft der Frauen und Männer, verantwortungsvoller Teil des Ganzen zu sein. Wir müssen uns fragen, inwieweit wir dieser Rolle gerecht werden. Kümmere ich mich um die Frauen und Männer in meinem Bereich und leiste ich meinen Beitrag zu ihrer Persönlichkeitsbildung? Schenke ich Vertrauen und ermuntere ich, Verantwortung zu übernehmen? Stehe ich zu meinen eigenen Fehlern und lasse ich konstruktive Kritik zu, ohne nachtragend zu sein? Rege ich zur aktiven Mitarbeit an? Binde ich die Vielfalt der unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten, ihr Potenzial, in unsere gemeinsame Arbeit wertschätzend ein? Die Vorschrift Innere Führung gibt in den Leitsätzen für Vorgesetzte Orientierung und regt zur Selbstreflexion an. Die Verantwortlichen für die Ausgestaltung der Inneren Führung sind auch aufgefordert, die gesellschaftlichen, politischen und militär-technischen Entwicklungen in die Weiterentwicklung der Inneren Führung einzubeziehen. Als Beispiele seien Individualisierung und Wertewandel, Künstliche Intelligenz und Führen im digitalen Umfeld genannt. Wie können die gegenwärtigen Entwicklungen in die Weiterentwicklung und Stärkung der Inneren Führung einbezogen werden? Wie können die Interessen der Soldatinnen und Soldaten identifiziert und mit den Anforderungen an eine Armee im 21. Jahrhundert in Einklang gebracht werden? Wie schaffen wir es, die Soldatinnen und Soldaten auch wirklich zu erreichen und ihnen Sinnstiftung und Orientierung zu geben? Die politisch und strategisch Verantwortlichen müssen sich schließlich fragen lassen, inwieweit sie bereit sind, alles in ihrer Verantwortung Stehende zu tun, damit die Bundeswehr ihre volle und umfassende Einsatzbereitschaft erreicht. Das Ziel der Stärkung der Inneren Führung ist ja bereits im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung verankert, aber wie „kaltstartfähig“ und wehrhaft muss die Bundeswehr in der Konsequenz in der Gesamtheit wirklich sein? Angesichts der breiten Herausforderungen, vor denen die Bundeswehr steht, geht es jetzt um die „hearts and minds“ aller in der Bundeswehr. Treten wir dazu in einen echten Austausch, auch über schwierige Fragen, und seien wir ehrlich in der Beantwortung, selbst wenn wir keine einfachen Antworten geben können! Dann kann und wird die Innere Führung, wie in ihrem ursprünglichen Sinne gedacht, ihren existentiellen Beitrag zur Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr leisten.