Kreativität ist gefragt

Das Kontingent „Null“ - Aufbau für die Zukunft

Das Kontingent „Null“ - Aufbau für die Zukunft

Datum:
Ort:
Slowakei – eVA
Lesedauer:
5 MIN

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Einsätze und Missionen der Bundeswehr stellen jede Soldatin, jeden Soldaten vor Herausforderungen. Täglich entwickeln sich neue Lagen. Dabei gibt es auch Überraschungen, die zum Umdenken zwingen. Besonders herausfordernd sind diese für diejenigen, die als Erste in den Einsatz oder in die Mission kommen. Das Kontingent „Null“ erfordert daher viel Kreativität und Motivation.

Unterkunftszelt

Innenansicht eines Unterkunftszelts des Einsatzkontingents während der NATO Mission enhanced Vigilance Activities (eVAenhanced Vigilance Activities) in der Slowakei

Bundeswehr/Tom Twardy

Der Spieß, mit dem ich im Lager der verstärkten Jägerkompanie stehe, zeigt auf eine Schlauchleitung: „Der gelbe Gartenschlauch, der da quer durchs Lager läuft, ist unsere Trinkwasserleitung.“ Seit Anfang Juli sind die deutschen Jäger Teil der Battlegroup Süd-Ost. Ihr Zeltlager steht am Rande des Militärgeländes im slowakischen Lest. Ein hügeliges Nichts soweit das Auge reicht. Der Stab der NATO-Battlegroup und die deutsche Versorgungseinheit liegen etwa einen Kilometer entfernt in festen Unterkünften. Die Jäger fühlen sich wohl in ihren Zelten. „Wir sind Mieter und bauen das Haus“, sagt der Spieß, Oberstabsfeldwebel W. Viele Zelte haben derzeit noch keine Heizung für den Winter, es gibt keine Feldpost, die Unterbringung von möglichen Covid-Infizierten ist noch nicht zufriedenstellend gelöst. Oberstabsfeldwebel W. liebt das Kontingent Null - die Herausforderung, zu improvisieren. Er will das Lager für seine Nachfolger fit machen, Standards setzen. Trinkwasser wird künftig in Flaschen gekauft, die Zelte werden aufgerüstet und sogar die Verpflegung für Kameradinnen und Kameraden islamischen Glaubens und für Veganer wird vom Kompaniefeldwebel ebenfalls geregelt. Die Männer - und eine Frau - der Einheit sind zufrieden. Das Betreuungszelt ist aufgebaut und der Betreuungssatz mit Fernseher und Sportgeräten ist gerade angekommen. „Richtig verliere ich meine Motivation erst , wenn wir hier keine Lenkflugkörper schießen können,“ fasst ein Soldat die Stimmung zusammen. „Die schießen wir mit Sicherheit“, so der Chef Hauptmann H. Die Motivation ist gerettet!

„Wir machen erst und adaptieren dann“

Überblick über die Zelte des Lager Lest in der Slowakei

Die Verlegung musste schnell gehen, daher ist vieles im Lager noch improvisiert

Bundeswehr/Axel Woile

„Wir machen erst und adaptieren dann,“ sagt Oberstleutnant Carl-Wilhelm Düvel. Er ist der stellvertretende Kommandeur des Multinational Coordination Elements (MNCE). Leadnation ist Tschechien. Deutschland ist neben den Amerikanern, den Slowenen und Slowaken Truppensteller. Einen klaren Auftrag hat der deutsche Offizier noch nicht. Die Kräfte sind schnell ins Feld geschickt worden, um Präsenz und Stärke zu zeigen. Nun muss er gestalten. Nichts wäre für seine Soldatinnen und Soldaten schlimmer als Stillstand, ein Warten. Neben der multinationalen Zusammenarbeit kümmert er sich auch um Handfestes wie die Ernährung seiner Truppe. Sie ist für die meisten noch unzureichend: viel zu viel Fleisch, zu wenig Vitamine, oft zu wenig Kalorien. Nicht immer trifft er dabei auf Verständnis der Leadnation oder der Gastgeber. Ohnehin ist Stabsarbeit in der Battlegroup nicht einfach. Wer Oberstleutnant Düvel im Stab besuchen will, muss sich am Eingang nicht nur einem Passwechselverfahren unterziehen. Alle, auch der stellvertretende Kommandeur, müssen Smartphones und Smartwatches abgeben. Die Überraschung folgt in seinem Büro. Hier werden die Kommunikationsanschlüsse erst gelegt. Die Führungsarbeit erledigt Düvel daher in seinem „Zweitbüro“ im Nachbarblock. Dort ist bereits alles installiert und betriebsbereit. Auch Düvel bewertet den Zustand insgesamt als derzeit nicht zufriedenstellend, meint aber, dass sich das noch bewegen wird. „Wenn wir drei Schritte zurück von der Lagekarte treten, sehen wir, dass wir schon viel geschafft haben.“

„Ich will es erleben“

„Ich will es erleben,“ dieser Satz von Oberfeldwebel Julia F. steht stellvertretend für die Motivation vieler Angehörige der Versorgungskompanie. „Einsätze sind der Grund, warum ich Soldatin geworden bin. Einsätze fördern die Kameradschaft.“ Die Soldatinnen und Soldaten der Versorgungskompanie haben ihren Arbeitsbereich rund 30 Minuten vom Stab und den Jägern entfernt. Sie sind in einem völlig verfallenen Lagerkomplex untergebracht. Um überhaupt arbeitsfähig zu sein, mussten sie Berge von Schutt und Müll beseitigen, die Hallen mussten desinfiziert werden. Viel Arbeit für die Angehörigen der Versorgungskompanie. Handwerkliches Geschick ist an jeder Ecke gefragt. Dennoch bereut keiner, dass er im Kontingent Null ist. Es wird gestaltet und improvisiert. Keine Anforderungsberechtigung für Ersatzteile? Dann lösen wir das anders! Hier wie überall im Kontingent wissen die Soldatinnen und Soldaten um die Besonderheit ihrer Mission mitten in Europa. Und weil sie es wissen, machen sie jetzt schon Holz für den Winter - für ihre Nachfolger.

Ein Radlader der Bundeswehr ebnet Gelände ein.

Schweres Gerät im Kontingent Null schafft Platz für neue Container

Bundeswehr/Axel Woile


Improvisieren muss auch Oberstabsarzt Dr. B. Im Medikamentenlager stapeln sich Kisten und Kartons. Die Regale, auf denen alles geordnet werden soll, sind noch nicht da. Ein Abkommen über die Bezahlung von Behandlungen der deutschen Kräfte im slowakischen Krankenhaus fehlt ebenfalls. Der erste Soldat musste seine Behandlung noch in bar vor Ort bezahlen. 10.000 Euro Handgeld, die der Oberstabsarzt angefordert hat, haben das Problem gelöst.

Ist das der Normalfall? Ja, es ist der Normalfall!

Zwei Soldaten zerkleinern Holz

Vorauskommandos schaffen Strukturen, meistens für die nachfolgenden Kontingente

Bundeswehr/Axel Woile

Kehren wir noch einmal zurück zu dem gelben Gartenschlauch, der die Trinkwasserleitung darstellt oder den Sanitäreinrichtungen, die doch deutlich unter dem an anderen (Einsatz-)Orten gewohnten Standard liegen. Sie stehen stellvertretend für eine Situation, auf die sich alle Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einstellen müssen.

Landesverteidigung und Bündnisverteidigung kennen keine langen Vorlaufzeiten. Es geht darum schnell Flagge zu zeigen, einsatzbereit zu sein, abzuschrecken. In einem solchen Szenario ist nur bedingt Raum und Zeit für Vorkommandos, Vorauskommandos, Vorauslieferungen. Das Kontingent Null ist das eigentliche Vorauskommando. Die Soldatinnen und Soldaten müssen neben dem täglichen Dienst improvisieren und nach dauerhaften Lösungen suchen. Nicht für sich, sondern eher für ihre Nachfolger. Es erfordert ein hohes Maß an Engagement und Motivation, auch nach dem Scheitern einer Lösung eine neue zu suchen. Die Soldatinnen und Soldaten im slowakischen Lest wissen nicht nur um die Bedeutung ihrer Mission mitten in Europa. Sie bringen auch die Motivation und den Schwung mit, die Unzulänglichkeiten eines Kontingent Null zu überwinden. Sie zeigen das richtige Mindset, das in der Landes- und Bündnisverteidigung besonders gefordert ist. Zu wissen „wofür wir dienen“ ist sinnstiftend und lässt viele Entbehrungen und Härten leichter ertragen.

von Axel Woile

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