„Der Indo-Pazifik ist nicht Las Vegas“
„Der Indo-Pazifik ist nicht Las Vegas“
- Datum:
- Ort:
- Hamburg
- Lesedauer:
- 7 MIN
Fast zwei Jahre haben die Teilnehmenden des Lehrgangs Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021 auf diesen Moment hingearbeitet: Dokumente gewälzt, Vorträge gehört, diskutiert, gedacht, geschrieben, organisiert. Nun stehen sie auf der Bühne, vor ihnen sitzt ein stattlicher Teil der obersten Führungsriege der Bundeswehr und sie präsentieren die Ergebnisse ihrer Studienphase.
„Für uns fühlt sich das schon ziemlich beeindruckend an“, sagt Korvettenkapitän Mario B. Zusammen mit Major Jerome H. begrüßt er die Gäste der Abschlusspräsentation. Indo-Pazifik lautet das Thema – „der war in den vergangenen fast zwei Jahren unser ständiger Begleiter“, sagt Mario B. Wie können und wie sollten sich deutsche Streitkräfte in dieser Region engagieren? Diese Frage hat der LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021 im Auftrag des Generalinspekteurs der Bundeswehr untersucht. Und der ist heute nicht der einzige hohe Gast an der Führungsakademie der Bundeswehr.
Führung der Bundeswehr nutzt „Schwarmintelligenz“
Neben General Carsten Breuer nimmt mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas Hitschler erstmals auch ein Vertreter der politischen Leitung des Bundesministeriums der Verteidigung an einer solchen Ergebnispräsentation teil. Auch Hitschler möchte das „intellektuelle Potenzial“, die „Schwarmintelligenz“ der angehenden General- und Admiralstabsoffiziere nutzen, wie es der Kommandeur der Führungsakademie, Generalmajor Oliver Kohl, in seiner Begrüßung ausgedrückt hat. Das strategische Thema, das der LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021 in den vergangenen anderthalb Jahren „mit Fernlicht“ beleuchtet hat, wurde und wird jedoch im Hinblick auf die Sicherheitslage in Europa immer wieder kontrovers diskutiert.
„Als wir unseren Auftrag bekamen, war Angela Merkel noch Bundeskanzlerin, Jogi Löw noch Fußball-Bundestrainer, und Russland war noch nicht mit 100.000 Soldaten in die Ukraine einmarschiert“, schildert Mario B. auf der Bühne. „Die Zeiten haben sich gewendet“, setzt Jerome H. fort. Und doch, sagt er, gebe es gute Gründe, diese vermeintlich ferne Region im Auge zu behalten. Mit der Veröffentlichung der „Leitlinien zum Indo-Pazifik“, hat die Bundesregierung im Herbst 2020 erstmals verdeutlicht, dass der Indo-Pazifik eine Region von hoher strategischer Bedeutung auch für Deutschland ist. „Der Indo-Pazifik ist nicht Las Vegas.“ Denn für Las Vegas gelte: „Was dort passiert, bleibt auch dort.„
Sichtbarkeit, Pragmatismus, Glaubwürdigkeit
Da sich Trends und Konflikte im Indo-Pazifik auch auf Deutschland und Europa auswirken können, hat der LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021 Möglichkeiten und Grenzen für Aufgaben und Beiträge deutscher Streitkräfte untersucht. Aufbauend auf den Leitlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik von 2020 haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in mehreren Arbeitsgruppen zunächst Akteure in der Region analysiert, dann strategische Herausforderungen beschrieben und schließlich Grundsätze für ein deutsches Engagement in der Region formuliert - die da lauten: sichtbar eigene Beiträge leisten, mini- statt multilaterale Kooperationsformate nutzen, Pragmatismus walten lassen, anschlussfähig sein für regionale Partner, verlässlich und damit glaubwürdig im Handeln.
„Ein Strohfeuer würde unsere Glaubwürdigkeit unterminieren“, sagt Major Henning H., der mit Fregattenkapitän Martin M. auf die Bühne gekommen ist. Martin M. nennt ein praktisches Beispiel: „Es braucht nicht unbedingt eine Kompanie Fallschirmjäger, eine Fregatte oder drei Eurofighter, auch die Teilnahme an einer Cyber-Übung kann ein wertvoller Beitrag sein.“ Gerade vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges müsse man sich die Frage stellen: „Cui bono? Wem nützt ein deutsches Engagement im Indo-Pazifik?“ Und: Welche Interessen stehen dahinter? Wenn Martin M. bei diesen Fragen ins Publikum blickt, weiß er, dass dort auch der General aus der Planungsabteilung des Ministeriums sitzt, für den er ab Oktober arbeiten wird; erst in der Mittagspause lernt er seinen neuen Chef persönlich kennen.
Arbeitseinsatz hinter den Kulissen
Während im Vortragssaal diskutiert wird, beginnt für mindestens zwei Lehrgangsteilnehmer im Foyer die nächste Etappe des Tages: Oberstleutnant Christian S. und Oberstleutnant Jonas K. haben in den vergangenen Monaten die „AGArbeitsgruppe Organisation“ des LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021 geleitet. Sie gehören zu denjenigen, die heute nicht im Rampenlicht stehen, weil sie im Hintergrund dafür sorgen, dass sich überhaupt 180 Gäste die Ergebnisse ihrer Studienphase ansehen können. „Das reichte von Parkplätzen, die gesperrt werden mussten, über Mikrofon-Verkabelungen der Vortragenden bis hin zu Namensschildern und Stehtischen“, sagt Jonas K. Genau wie sein Kamerad trägt er heute den grünen Feldanzug; und grün bedeutet: praktischer Arbeitseinsatz.
Jetzt, wo alle Gäste in der Führungsakademie auf den richtigen Plätzen sitzen und ihre Informationsmappen in den Händen halten, ist das Mittagessen die nächste Herausforderung. Wegen der Verpflegung hat Oberstleutnant Christian S. in den vergangenen Monaten oft mit der Logistikschule der Bundeswehr, Außenstelle Plön, gesprochen und geschrieben. Die Soldaten sind gerade dabei, das Buffet aufzubauen. „Hauptsache reicht das auch alles“, sagt Oberstleutnant S. Er ist selbst Logistiker und vertraut seinen Kameraden. „Das klappt schon alles super.“
Militärische Karriere im Indo-Pazifik
Im Vortragssaal steht inzwischen Major Jez E. auf der Bühne, einer von drei Briten auf dem LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021. Als internationaler Lehrgangsteilnehmer übernimmt er einen führenden Posten in der Studienphase . Der Grund hierfür liegt auf der Hand: „Ich habe fast meine gesamte Karriere im Indo-Pazifik verbracht“, sagt Major E. Er gehört zu einer infanteristischen Elite-Truppe der britischen Army und ist Experte im Dschungel-Kampf. Als Angehöriger der Gurkha-Truppen war er schon viermal auf der südostasiatischen Insel Borneo stationiert und insgesamt drei Jahre lang in Ost-Afrika. Nachdem auch seine ältere Tochter auf Borneo auf die Welt gekommen ist, ist er mit seiner Frau, einer Frankfurterin, nach Hamburg gezogen.
Auf der Bühne der Führungsakademie erläutert Jez E. jetzt der Führungsriege der Bundeswehr, warum er es für wichtig hält, dass Deutschland mehr Militärattachés in den Indo-Pazifik schickt. „Dieses Netzwerk ist wichtig, um ein Lagebild zu bekommen und Kenntnisse über die Region zu bekommen“, sagt er. „In dieser Region können schnell Fehler passieren, die durch kulturelle Besonderheiten entstehen.“ Gerade das unvorbelastete Deutschland könne im Indo-Pazifik eine bedeutende Rolle spielen. Auch Major E. weiß, dass heute sein künftiger Chef im Publikum sitzt. Er wird sich ab Herbst im Kommando Heer in der Abteilung Planung und internationale Zusammenarbeit mit den Beziehungen zu Großbritannien, Australien und Neuseeland kümmern.
Von Hamburg nach Wittmund und Australien
Australien-Experten gibt es mittlerweile mehrere im LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021. Ein weiterer ist Major Fabian S., der vor dem Gebäude neben einem mannshohen Banner mit bunten Bildern steht. Der Luftwaffen-Offizier gehört zu den Lehrgangsteilnehmern, die den Gästen in der Mittagspause über seine Studienreise in den Indo-Pazifik berichtet. Als er im Herbst 2022 mit seinem Kameraden Korvettenkapitän Frederik S. in Australien war, konnte er nicht nur für die Studienphase seines LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National recherchieren, sondern auch für eine seiner zwei Projektarbeiten, die er an der Führungsakademie schreiben muss. Die Arbeit dreht sich um „Möglichkeiten zur Machtprojektion der Luftwaffe im indopazifischen Raum am Beispiel der Übung ,Pitch Black 2022‘“.
Ein lohnendes Thema für Major S.: Im Oktober wird er Staffelkapitän im Taktischen Luftwaffengeschwader 71 „Richthofen“ Wittmund – das heißt, im nächsten Jahr könnte er zu den Eurofighter-Piloten gehören, die von Deutschland aus in den Indo-Pazifik fliegen. Die strategische Verlegeübung „Rapid Pacific“ im vergangenen Sommer hatte in seinen Augen schon einen großen Lerneffekt für die Luftwaffe. „Die Rahmenbedingungen waren völlig neu“, sagt er. „Größere Distanzen, anderes Klima, andere Kulturen vor Ort, und wir haben uns außerhalb unseres NATONorth Atlantic Treaty Organization-Bündnisgebietes bewegt.“ Auch deswegen sei es wichtig, ein Netzwerk in der Region aufzubauen, um im Ernstfall schnell reagieren zu können.
Schnuppertag für junge Offiziere
Während Major S. über seine Australien-Reise berichtet, nutzt der Generalinspekteur die Pause, um mit den 20 jungen Offizieren zu sprechen, die als Delegation „Junges Führen“ an der Ergebnispräsentation teilnehmen. Um diese Gäste kümmert sich Lehrgangsteilnehmer Fregattenkapitän René L. gemeinsam mit seiner Kameradin Major Marie F., die heute allerdings keine Uniform trägt. Die Soldatin des Organisationsbereichs Cyber- und Informationsraum erwartet zwei Wochen nach Lehrgangsende ihr zweites Kind. Während der Studienphase hat sie zum Thema „Weltraum“ gearbeitet. Ihr heutiger Auftrag lautet aber: Multiplikatoren betreuen. „Die jungen Kameradinnen und Kameraden werden alle in absehbarer Zeit mal an der Führungsakademie ausgebildet“, erklärt Marie F., „deswegen sollen sie hier schon mal einen Vorgeschmack bekommen“. Die Gespräche mit den jungen Offizieren drehen sich aber sich nicht nur um künftige Ausbildungswege, sondern auch um „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. „Das ist schon ein großes Thema in dieser Generation.“
„Unser Engagement steht für die Zeitenwende“
Das große Thema des LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021 wird nach dem Mittag in Kleingruppen weiter diskutiert: Wie kann die regelbasierte Ordnung im Indo-Pazifik gestärkt, wie eine militärische Präsenz gestaltet werden? Wie kann Deutschland humanitäre Hilfe und Katastrophenhilfe in der Region leisten, wie an technologischen Innovationen teilhaben? Nach anderthalb Jahren Arbeit hat der LGANLehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2021 dazu zahlreiche Antworten gefunden. Als sich die Führungsriege der Bundeswehr am Nachmittag wieder im Vortragssaal versammelt, dankt der Generalinspekteur für einen „abwechslungsreichen, informativen und runden Tag“. Die wertvollen Ergebnisse nehme er gerne mit nach Berlin. „Wir müssen strategisch in viel größeren Zusammenhängen denken als bisher“, sagt General Breuer. Und der Indo-Pazifik sei eine strategisch wichtige Region für Deutschland und für Europa. „Unser wachsendes militärisches Engagement dort steht in keinem Fall im Widerspruch zur Zeitenwende – es steht für Zeitenwende.“
Nach diesem Schlusswort atmen viele Lehrgangsteilnehmende tief durch. Und sie erinnern sich an die Nachricht, die Korvettenkapitän Mario B. vor zwei Tagen in den Gruppenchat gestellt hat: „Wenn alles gut läuft und die Präsentation ein voller Erfolg wird, müssen wir das auch irgendwie feiern.“