Interview

Folge 2: Die deutsche Landkriegsstrategie am Vorabend des 1. Weltkrieges

Folge 2: Die deutsche Landkriegsstrategie am Vorabend des 1. Weltkrieges

Datum:
Ort:
Hamburg
Lesedauer:
20 MIN

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Um die Zeit des Ersten Weltkrieges interessierten sich die preußischen Strategen v.d. Goltz, Schlieffen und Bernhardi, vorwiegend für die Landkriegführung, entsprechend der geographischen Lage des Reichs. 

  • Portrait Colmar von der Goltz

    Wilhelm Leopold Colmar Freiherr von der Goltz war ein preußischer Generalfeldmarschall, Militärhistoriker und -schriftsteller

    E. Bieber

Wie ihre französischen Kollegen waren sie überzeugt, dass der Krieg mit Massenheeren geführt werden und dass ihre Strategie offensiv sein müsse.

An der Wende zum 20. Jahrhundert spielte das Deutsche Kaiserreich eine maßgebliche Rolle im militärstrategischen Denken der Zeit. Dabei lag der Schwerpunkt entsprechend der geographischen Lage des Reichs auf der Landkriegsführung. Obwohl sie aus verschiedenen Gründen umstritten waren und miteinander konkurrierten, übten die preußischen Denker von der Goltz, Schlieffen und Bernhardi dennoch einen starken Einfluss auf die Landkriegsführung und auf das Denken über die Mobilisierung der Gesellschaft im totalen Krieg aus, in dem alles erlaubt war – bewegt von der „ursprünglichen Gewaltsamkeit“ und dem „Hass“ der mobilisierten Nationen, wie es bei Clausewitz heißt.

https://rusi.org/podcasts/talking-strategy/episode-2-german-land-warfare-strategy-turn-20th-century

In dieser Folge von „Talking Strategy“ erörtert Professor Stig Förster die Kontroversen um die genannten Strategen, die Schrecken, die durch die Ideen von Bernhardi und von der Goltz hervorgerufen wurden, und die Gründe, warum sich der Zeitplan, den von Schlieffen in seinem „Schlieffen-Plan“ für einen Krieg vorgesehen hatte und der tatsächlich das spätere Vorgehen des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg bestimmen sollte, in der Praxis nicht umsetzen ließ.

Stig Förster ist emeritierter Professor der Universität Bern. Er ist der Gründer des Arbeitskreises Militärgeschichte, dessen Vorsitz er 15 Jahre lang innehatte.  Zu seinen vielen Veröffentlichungen gehören: Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 1890–1913 (Stuttgart: Steiner, 1985); Die mächtigen Diener der East India Company. Ursachen und Hintergründe der britischen Expansionspolitik in Südasien 1793–1819 (Stuttgart: Steiner, 1992).  Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch über deutsche Militärgeschichte.


Übersetzung des Transkripts 

Beatrice Heuser: Es ist uns eine große Ehre heute den Doyen der Militärgeschichte, Prof. Stig Förster, begrüßen zu dürfen. Aktuell schreibt er an einem umfangreichen Buch zur Kriegs- und Militärgeschichte Mitteleuropas, das meiner Meinung nach unbedingt ins Englische übersetzt werden sollte. Seine wegweisende Reihe von internationalen Forschungs- und Publikationsprojekten zur Geschichte des totalen Krieges wird allen, die sich näher mit Strategie beschäftigen, bekannt sein. Prof. Förster, der ursprünglich aus Berlin stammt, ist der perfekte Gast, um uns drei preußische Strategen näherzubringen. Der erste, um den es gehen wird, ist der 1843 geborene und 1916 verstorbene Colmar von der Goltz. Dieser war auch als „Goltz Pascha“ bekannt, weil er auch für das Osmanische Reich in dessen Militär tätig war. Zu seinen wichtigsten Werken gehören „Kriegführung“, das 1895 veröffentlicht wurde, und „Das Volk in Waffen“, welches 1883 erschien. Also, Prof. Förster, könnten Sie uns zu Beginn etwas mehr über diesen Mann und seine wichtigsten Ideen erzählen?

Stig Förster: Nun, er war sicherlich einer der wichtigsten deutschen Strategen, militärischen Denker und Theoretiker der damaligen Zeit. Er war Schüler von (Helmuth) von Moltke (dem Älteren – 1800–1891) und arbeitete beispielsweise mit ihm während des Deutsch-Französischen Krieges zusammen, als dieser Chef des Generalstabs war. Dessen Theorien blieb von der Goltz mehr oder weniger treu. Er radikalisierte jedoch die Ideen von Moltkes und wurde eine Art Verfechter des totalen Krieges. Als er während des Ersten Weltkriegs an der Osmanischen Front im heutigen Irak kämpfte, hatte er zudem die Gelegenheit, einige seiner Ideen in die Praxis umzusetzen.

Beatrice Heuser: Darf ich Sie hier kurz unterbrechen und um Ihre verbindliche Definition von „totalem Krieg“ bitten? Denn das Wort gab es ja vor 1918 noch gar nicht.

Stig Förster: Na ja, es ist so ... Wir hatten fünf internationale Konferenzen zu diesem Thema und sind schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass es dafür keine Definition gibt. Aber es gibt natürlich die Elemente des totalen Krieges: die totale Mobilisierung, die völlige Missachtung des Kriegsvölkerrechts, die Bereitschaft, auf die radikalste Weise zu kämpfen, die man sich nur vorstellen kann, und natürlich die Idee der auf die Kriegsanstrengungen ausgerichteten totalen Kontrolle über die eigene Gesellschaft. Dies sind die vier Elementen, aus denen sich die Idee des totalen Krieges zusammensetzt. Wie entstand also nun der totale Krieg? Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die bereits im 19. Jahrhundert einsetzte, insbesondere mit dem Deutsch-Französischen Krieg, denn hier hatte man es mit einem Volkskriegskrieg zu tun, in dem ganze Nationen gegeneinander Krieg führen und gleichzeitig die Wirtschaft, insbesondere die Industrie, in einem industriellen Krieg mobilisieren. Und diese Art der Kriegführung verstärkte sich im Ersten Weltkrieg, als der Ausdruck „totaler Krieg“ – übrigens in Frankreich – geprägt wurde. Der totale Krieg ist also eine Entwicklung, die Ende des 19. Jahrhunderts begann und dann im Zweiten Weltkrieg gipfelte.

Paul O’Neill: Es wird oft angenommen, dass sich der preußische Staat Anfang des 19. Jahrhunderts nach den Niederlagen bei Jena und Auerstedt recht stark militarisierte, und da waren Gneisenau [August Wilhelm von Gneisenau (1760–1831)] und andere, die versuchten, ihn zu reformieren. Befürwortete von der Goltz dies, oder inwieweit, denken Sie, hat der Wandel in der preußischen Gesellschaft sein Denken an dieser Stelle geprägt?

Stig Förster: Nun, interessanterweise ist es ein Irrglaube, dass Preußen bzw. Deutschland nach 1871 weitgehend militarisiert war. Tatsächlich gab es dort eine starke Zivilgesellschaft mit einem gewissen Grad an Freiheit sowie einen gewissen Grad an parlamentarischer Kontrolle. Von der Goltz beklagte sich über die Tatsache, dass Deutschland nicht genug militarisiert war. Er wollte, dass der Wehrpflicht auch wirklich von jedem Wehrpflichtigen nachgekommen wurde. Man muss sich vor Augen führen, dass das deutsche Heer bis zum Jahr 1900 beispielsweise nur in etwa die Hälfte – wenn überhaupt – der jungen Männer, die eigentlich wehrpflichtig gewesen wären, einzog. Von der Goltz wollte all diese Männer, um so ein großes Heer zu haben, das in der Lage wäre, gegen die Franzosen und die Russen Krieg zu führen. Auch wollte er die Gesellschaft militarisieren; nicht in dem Sinne, dass jeder nach der preußischen Tradition marschieren sollte, aber junge Menschen sollten schon von Kindesbeinen an für den Krieg ausgebildet werden. Andere Generale und führende Offiziere hatten ähnliche Vorstellungen.

Beatrice Heuser: Erzählen Sie uns doch mehr über von der Goltz’ Erfahrungen im Osmanischen Reich.

Stig Förster: Von der Goltz bekam Probleme mit den deutschen Militärbehörden, weil er ihre konservative Politik scharf kritisierte. So „floh“ er 1883 aus Deutschland in das Osmanische Reich, wo er zwölf Jahre blieb. Er half bei der Modernisierung der osmanischen Armee und der deutschen Rüstungsindustrie beim Verkauf ihrer Waffen an das Osmanische Reich. Neben seiner Tätigkeit als militärischer Berater und förderte auch die Jungtürken, türkische Nationalisten. Dies spielte eine wichtige Rolle im Ersten Weltkrieg, als von der Goltz in das Osmanische Reich zurückkehrte und Oberbefehlshaber einer Armee, der 1. Armee in Konstantinopel (Istanbul), wurde, unterstützte er den Völkermord an den Armeniern und befürwortete diesen sogar, weil er die osmanischen Kriegsanstrengungen durch sie gefährdet sah. Somit war er genau genommen ein Kriegsverbrecher.

Paul O’Neill: Es ist interessant, dass Sie das sagen, Professor, weil ein Gast in einer unserer anderen Folgen einige der extremen Ansichten von von der Goltz kommentiert hat und insbesondere im Kontext von 1914 und seiner Rolle in Belgien angedeutet hatte, dass es dort zu Verbrechen gekommen war. Sie meinen jedoch, dass es auch – und vielleicht sogar noch verstärkt – im osmanischen Umfeld zu Verbrechen kam. Stimmt das?

Stig Förster: Ja, das ist stimmt, gilt aber vielmehr für von der Goltz’ Rolle im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs. Während der deutschen Invasion Belgiens im Jahre 1914 führte er eigentlich keine Truppen. Also hatte er mit den Gräueltaten dort nichts zu tun. In seiner theoretischen Analyse, in seinen Büchern hatte er jedoch immer den Krieg gegen die Zivilbevölkerung als eines der wichtigen Mittel zum Gewinn eines Zweifrontenkrieges befürwortet.

Beatrice Heuser: Ein wirklich besonders gutes Beispiel, also „gut“ im Sinne eines „gut gewählten“ Beispiels für diese ganze Tendenz hin zum totalen Krieg. Nun, gehen wir jetzt vielleicht über zum nächsten Strategen und auch Praktiker: Generalfeldmarschall Alfred von Schlieffen, Autor des berühmten Schlieffen-Plans. Schlieffen erlebte jedoch nicht mehr, wie sein Plan von 1905 in die Tat umgesetzt wurde, denn er verstarb kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Aber erzählen Sie uns doch von diesem Strategen und seinem Plan und sagen Sie uns, inwieweit es zwischen diesem und den von Ihnen eben erörterten Ideen des totalen Krieges und von der Goltz eine kontinuierliche Entwicklung gab.

Stig Förster: Eine kontinuierliche Entwicklung gab es kaum. Vielmehr gab es sehr viele Unterschiede. Schlieffen hat nie wirklich eine große Einheit im Krieg geführt. Trotzdem wurde er 1891 Chef des deutschen Generalstabs und war so mit dem großen strategischen Dilemma konfrontiert, dem sich dieser Generalstabs gegenübersah: der Gefahr eines Zweifrontenkriegs gegen Russland und Frankreich. Und die Frage war, wie man dieser Gefahr begegnen sollte. Von der Goltz und andere plädierten für so etwas wie einen radikalen, totalen Krieg. Das Wort gab es noch nicht, aber die Tendenz war eindeutig. Schlieffen dachte, die beste Art, mit diesem Dilemma umzugehen, wäre ein kurzer, entschlossen geführter Krieg gegen einen dieser Feinde, namentlich Frankreich. So konzentrierte er sich auf eine minutiöse Einsatzplanung mit dem Ziel, die französische Armee innerhalb weniger Wochen zu zerschlagen. Die Idee war dann, das siegreiche deutsche Heer von der West- an die Ostfront zu verlegen, um den Russen gegenüberzutreten. Schlieffen war somit wirklich Verfechter einer minutiösen, präzisen Einsatzplanung. In dieser Hinsicht war er ein Bürokrat, ganz im Gegensatz zu von der Goltz oder Moltke beispielsweise, die in einem Krieg immer bereit waren zu improvisieren. Schlieffen hingegen war der Meinung, es wäre am besten, den Krieg bis in die letzten Einzelheiten vorauszuplanen.

Beatrice Heuser: Schlieffen war nicht allein in dem Bestreben, unerwartete Ereignisse und den Zufall im Krieg auszuschließen. Bereits im späten 18. Jahrhundert gab es Tendenzen, bei denen jemand wie [Heinrich Dietrich] von Bülow sich sehr bemühte, den Krieg zu etwas zu machen, das mathematisch vorausgeplant und durchgeführt wurde. Inwieweit ist dieser Ansatz Ihrer Meinung nach komplett falsch, und inwieweit haben sie Verständnis für die Tatsache, dass Schlieffen versuchte, diesen Krieg nach Eisenbahnfahrplänen zu führen? Sein Ansatz führte ja nicht zu den geplanten Ergebnissen. Trotzdem frage ich mich, inwieweit es gerechtfertigt ist, ihm die Schuld an dem zu geben, was auf das Ausbleiben des Erfolgs seines Plans folgte.

Stig Förster: Nun, man muss sich vor allem die Einzelheiten seiner militärischen Planung ansehen. Zuallererst, auch er sprach sich für die größtmögliche Bewaffnung des deutschen Heeres aus, d. h. die Rekrutierung möglichst vieler Soldaten. Davon lebte sein Plan. Der rechte Flügel der Angriffstruppen sollte durch Belgien und ursprünglich auch durch die Niederlande nach Nordfrankreich marschieren, um die gesamte französische Armee einzukreisen. Dafür war ein großes Heer nötig. Das hatte nichts mit humaner Kriegführung zu tun. Schlieffen plante einen Angriff auf neutrale Länder. Und da die Truppen rasch vorrücken mussten, waren Zivilisten, die ihnen im Weg waren, beiseite zu stoßen und gegebenenfalls auch zu töten. Schlieffens großer Fehler war jedoch, die Entfernungen zu unterschätzen, die das Heer zurückzulegen hatte. Bedenken Sie, dass es damals noch zu Fuß unterwegs war. Es gab nur wenige Lastkraftwagen und erst recht keine Panzer. Das Heer war also relativ langsam. Und um die Strategie der großen Umfassung umzusetzen, hätte es jedoch viel schneller sein müssen. Im Zweiten Weltkrieg funktionierte das, wie Sie wissen, aber im Ersten Weltkrieg war das noch nicht möglich. Hinzu kommt, dass Schlieffen die Logistik ignorierte. Das bedeutete, dass das Heer erst in Belgien und dann in Frankreich einmarschierte und je weiter es vorrückte, desto weniger Nachschub erhielt es. Vielleicht erhielt es Munition, aber sicherlich kaum Nahrungsmittel. Es sollte sich aus von dem versorgen, was es vor Ort vorfand, was wiederum Probleme für die Zivilbevölkerung bedeutete. Und es sollte seine großen Geschütze mit Pferden bewegen. Aber die Pferde bekamen kein ordentliches Futter und viele waren zu schwach oder starben sogar. Das alles führte dazu, dass das deutsche Heer in der Schlacht an der Marne 1914 viel schwächer als zu Beginn der Invasion war. Der gesamte Plan war also absurd. Auch sehr problematisch war die Tatsache, dass von Schlieffen solch ein Bürokrat war. Er erlaubte seinen Befehlshabern nicht nach preußischer Tradition zu improvisieren bzw. eigenständig zu handeln. Stattdessen sollten sie sich an Befehle halten - strikt an Befehle halten. Aber wie soll das gehen, wenn er sich weit hinter dem Heer befindet und versucht, es über Telefon zu erreichen? Das funktioniert in den seltensten Fällen. Zu dieser Zeit war es noch nicht so einfach mit der Kommunikation. Die Befehlshaber erhielten zuvor genaue Befehle. Aber so läuft der Krieg natürlich nicht. Da gibt es immer Risiken, Zufälle, Dinge, die sich anders entwickeln als erwartet. Schlieffens Plan konnte also nicht aufgehen.

Paul O’Neill: Vielen Dank. Gibt es denn in Anbetracht dessen, was wir aktuell in der Ukraine sehen – logistische Herausforderungen sowie eine Philosophie, die das Führen mit Auftrag nicht fördert – Anzeichen dafür, dass von Schlieffen in gewisser Weise Einfluss auf das russische militärische Denken hatte?

Stig Förster: Nein, nein. Das hat damit nichts zu tun. Die preußische bzw. sogar die deutsche Militärtradition war eine ganz andere. Während der Einigungskriege unter Moltke hatte dieser weniger Befehle erteilt, sondern eher Anweisungen gegeben. Das bedeutet, dass den Heerführern ein Ziel gegeben wurde. Es lag an ihnen, zu entscheiden, wie dieses Ziel erreicht werden sollte. Das war ganz anders als das, was die russische Armee jetzt tut bzw. was sie im Zweiten Weltkrieg getan hat. Und unterschied sich auch sehr von Schlieffens Idee. Schlieffen war aber wiederum nicht der Chef des russischen Generalstabs. Und er hatte auch keine russischen Soldaten unter sich. Nein, mit seiner Idee verfolgte er einen bürokratischen Ansatz. Wenn man etwas im Voraus genau ausarbeite, dann könne man Wunder bewirken. Das war seine Idee. Und man darf nicht vergessen, dass einer der Gründe dafür, warum er auf solche Ideen kommen konnte, war, dass die Landkriegführung seit Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend von der Eisenbahn abhängig war. Und Eisenbahnen fahren nach Fahrplänen. Wenn es einem also gelänge, eine großangelegte Offensive nach Fahrplan zu führen, dann hätte man einen Vorteil gegenüber dem Feind. Genau das war die Idee. Das einzige Problem bestand darin, dass das deutsche Heer beim Einmarsch in Frankreich seine Anbindung zur Eisenbahn verlor, weil sich diese weit hinter ihm befand. Und natürlich sprengten die belgischen und französischen Armeen bei ihrem Rückzug Brücken und Tunnel in die Luft, sodass die Eisenbahn nicht mehr zur Unterstützung des Heeres genutzt werden konnte.

Beatrice Heuser: Anders gesagt, Schlieffen ist auch kein besseres Beispiel für die preußische Denkweise als von der Goltz; also es ist nicht so, dass er eine positive Figur war und von der Goltz eher eine negative. Was hätte von der Goltz von Schlieffens Plan gehalten?

Stig Förster: Von der Goltz hielt Schlieffen für mittelmäßig und war der Meinung, dass er keine Ahnung vom modernen Krieg habe. Sie mochten sich also nicht. Außerdem wäre es von der Goltz viel lieber gewesen, wenn er statt Schlieffen Chef des Generalstabs geworden wäre. Das passte also nicht so gut. Zu Goltz’ Leidwesen kam er auch nicht auf den Posten als von Schlieffen in den Ruhestand trat. Stattdessen wurde Moltke der Jüngere ernannt, der Neffe des Siegers des Deutsch-Französischen Krieges. Auch wenn von der Goltz wahrscheinlich der interessantere Denker und Theoretiker war. Moltke der Jüngere war ganz und gar rücksichtslos und befürwortete eine vollkommen schreckliche Form des Krieges. Für ihn gab es keine Einschränkungen. Alles war erlaubt, um diesen Krieg zu gewinnen. Und das war ein Schritt in Richtung des totalen Krieges.

Beatrice Heuser: Sehr interessant ist, dass dies zeigt, dass es keine völlig homogene preußische Schule gab, sondern dass stattdessen Meinungsvielfalt herrschte. Und daraus sind auch persönliche Rivalitäten entstanden. Wenden wir uns nun dem dritten preußischen Denker, Friedrich von Bernhardi, zu. Er wurde 1849 geboren und starb 1930, war also nur etwas jünger als von der Goltz. Er wurde allerdings in Sankt Petersburg geboren; war also kein reiner Preuße, sondern eher gemischter baltischer Herkunft. Er schrieb recht einflussreiche Bücher, sowohl am Vorabend des Ersten Weltkrieges als auch danach, was ihn in gewisser Weise zum Moderneren der Drei macht. Vor dem Ersten Weltkrieg verfasste er erst „Vom heutigen Kriege“ und dann „Deutschland und der nächste Krieg“. Nach dem Krieg schrieb er „Vom Kriege der Zukunft. Nach den Erfahrungen des Weltkrieges“. Wenden wir uns nun also Friedrich von Bernhardi zu. Wie ordnen Sie ihn ein und was können Sie uns zu ihm und seinen Ideen sagen?

Stig Förster: Nun, in gewisser Weise radikalisierte er von der Goltz. Dieser hatte bereits diese sozialdarwinistischen Tendenzen, diese Weltanschauung, dass es beim Krieg um Nationen und ihr Überleben und den ewigen Kampf aller Völker weltweit gehen würde. Bernhardi aber ging noch weiter. In seinem Buch „Deutschland und der nächste Krieg“ von 1912 vertrat er tatsächlich die Meinung, dass Krieg eine biologische Notwendigkeit sei. Ohne Krieg würde die deutsche Gesellschaft verfallen und lediglich versuchen, dem Luxus zu frönen. Von der Goltz machte ähnliche Aussagen, hauptsächlich aber in privaten Briefen. In einem seiner Briefe an einen Freund schrieb er 1907: „Ich wünsche dem deutschen Vaterlande freilich von allen Dingen zwei, nämlich völlige Verarmung und einen mehrjährigen harten Krieg. Dann würde sich das deutsche Volk vielleicht noch einmal wieder erheben und für Jahrhunderte vor moralischer Auflösung schützen“. Bernhardi ging in dieser Hinsicht sogar noch weiter. Er war ein Verfechter des totalen Krieges und Vorreiter dessen, was die Nazis im Zweiten Weltkrieg taten. Seine Herangehensweise an Militärtaktik, Militäroperationen oder auch Militärstrategie war jedoch etwas veraltet. Er war ein scharfer Kritiker Schlieffens. Bernhardi lehnte die Idee der bürokratischen Planungen gänzlich ab. Eine der bedeutenden Feststellungen Schlieffens jedoch war, dass man in der modernen Kriegführung – mit ihrem enormen Feuer und der Zerstörungskraft von Schusswaffen – keine Frontalangriffe mehr durchführen könne, weil man so seine eigenen Truppen opfern würde. Wichtig wären daher Flankenangriffe oder sogar die Umfassung des Feindes. Aber Bernhardi, ursprünglich Kavallerieoffizier, sprach sich immer noch für Frontalangriffe aus und er dachte, na ja, dass das sinnvoll wäre. Zwar verliere man ein paar tausend Mann, aber die nächsten Welle werde dann schon den Durchstoß schaffen. Genau so sind die Russen im Zweiten Weltkrieg vorgegangen. Eine andere Feststellung, die Schlieffen in einem seiner Artikel erörtert hatte, ist, dass das moderne Militärgenie, der Heerführer, nicht vor Ort an der Front zu sein habe. Er solle sich bequem kilometerweit hinter der Front befinden und den Befehlshabern der Armeen Befehle über den Fernsprecher erteilen. Bernhardi nannte diese Idee lächerlich. Er meinte, dass der Chef des Generalstabs oder der Heerführer stattdessen sehr wohl an der Front sein solle, um direkte Befehle zu erteilen. Tolle Idee. Aber wie soll das gehen, wenn sich die Front über mehrere hundert Kilometer erstreckt? In gewisser Hinsicht hatte Bernhardi damals ein paar altmodische Ansichten, die an die Kriegführung im 19. Jahrhundert erinnerten.

Beatrice Heuser: Spannend, wie sehr nach Ihrer Darstellung diese Freidenker neben dem Weg in den Ersten auch den Weg in den Zweiten Weltkrieg bereitet haben. Könnten Sie noch etwas mehr darüber sagen, wie ihre Ideen Denker außerhalb von Deutschland beeinflussten? Denn die Werke wurden ja ins Englische übersetzt und auch sehr viel gelesen. Einige von ihnen wurden zudem ins Französische übersetzt. Würden Sie außerdem sagen, dass sie nicht nur das Denken über den Krieg in Deutschland radikalisierten, sondern auch alle anderen Länder auf einen viel blutigeren Ersten und dann Zweiten Weltkrieg vorbereiteten?

Stig Förster: Nun, Großbritannien ist in diesem Zusammenhang ein schwieriger Fall, da es sich größtenteils auf die Marine und im Zweiten Weltkrieg auch auf die Luftwaffe stützte. Die Wehrpflicht wurde erst während des Ersten bzw. während des Zweiten Weltkriegs eingeführt, um die Armee aufzustocken. Der Krieg gegen die feindliche Bevölkerung war eher Sache der Marine (mit einer Blockade im Ersten Weltkrieg) und der Luftwaffe (mit der strategischen Bombardierung im Zweiten Weltkrieg). Von der Goltz und Bernhardi haben keine Schriften zur Marine- oder gar Luftstrategie verfasst. Der Einfluss von Leuten wie von der Goltz und Bernhardi war in Frankreich, aber auch in Russland, wo mit der Wehrpflicht und der Bedeutung der Armee schon eine Grundlage für die Idee der totalen Mobilisierung der Bevölkerung gelegt war, vielleicht stärker. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die Theorie des Sozialdarwinismus, wie durch von der Goltz und insbesondere Bernhardi wiedergegeben, im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle im Hinblick auf den radikalen Rassismus spielte. Einer der leidenschaftlichsten Anhänger der Idee des Sozialdarwinismus war Adolf Hitler. Beim Lesen seiner Bücher, insbesondere „Mein Kampf“, wird klar: das ist der reine Sozialdarwinismus. Und Menschen wie von der Goltz und Bernhardi spielten dadurch, dass sie in diesem Bereich großen Einfluss ausübten, eine wichtige Rolle, auch wenn sie von Hitler, Goebbels und den anderen nicht erwähnt wurden. Die Idee, die Leute wie von der Goltz und Bernhardi hervor- sowie vorangebracht hatten, spielte sicherlich eine Rolle in der Entwicklung dieser Ideologie. Und da gibt es noch etwas Interessantes über Schlieffen. Die Idee der bürokratischen Vorausplanung von Militäraktionen konnte sich nicht mehr durchsetzen. Von seinen Schülern wurde von Schlieffen in den 1920ern trotzdem als wichtigster militärischer Denker gefeiert. Jedoch brachte nie wieder jemand die Idee vor, eine detaillierte, vorausgeplante Operation wie die von 1914 durchzuführen. Die deutsche Invasion Belgiens, Frankreichs und der Niederlande im Jahr 1940 sowie die Invasion Russlands waren weitgehend improvisiert. Und niemand dachte daran, einen detaillierten Plan auszuarbeiten. Also war Schlieffen im Grunde genommen gestorben.

Paul O’Neill: Von der Goltz und Bernhardi waren zu dieser Zeit nicht die einzigen, die sozialdarwinistische Gedanken hatten. Es gab auch noch Friedrich Ratzel (1844–1904) und [Johan] Rudolph Kjellén (1864–1922), die durch die Entwicklung des Begriffs „Lebensraum“ ebenfalls Einfluss ausübten. Diesen nutzten die Nazis dann wiederum, um die Ausweitung des Staatsgebietes zu rechtfertigen. Inwieweit gibt es Hinweise darauf, dass diese Personen entweder persönlich miteinander bekannt waren oder ihre Ideen dazu beigetragen haben, eine Art „Zeitgeist“ zu schaffen und zu beeinflussen, innerhalb dessen der Sozialdarwinismus zu einem akzeptablen Ansatz wurde? Und das trotz der bereits von Ihnen aufgezeigten Schrecken, die durch von der Goltz und bei den osmanischen Völkermorden etc. verübt wurden?

Stig Förster: Es waren nicht nur die Heerführer, Offiziere und Generale, die eine Radikalisierung der Kriegführung befürworteten. In der gesamten deutschen Gesellschaft herrschte eine starke Tendenz zum Sozialdarwinismus. Übrigens auch in der französischen Gesellschaft, den Vereinigten Staaten und bis zu einem gewissen Grad sogar in Großbritannien. In Deutschland war es die „neue Rechte“, die sich in den 1890er Jahren entwickelte. Eine der wichtigsten und prominentesten Gruppen war der „Alldeutsche Verband“. Dieser Verband proklamierte den Darwinismus – und das mindestens so radikal wie Bernhardi oder von der Goltz. Außerdem befürworteten seine Mitglieder den Krieg als Mittel zur Stärkung der Nation. Das war also eine bedeutende Entwicklung in Deutschland, eine soziale Entwicklung, eine politische Entwicklung durch die „neue Rechte“. Die Stärke dieser Gruppen vor 1914 sollte jedoch nicht überschätzt werden. Die deutschen Gesellschaft bot nämlich eher ein gemischtes Bild. Als dann allerdings der Krieg 1914 ausbrach, waren die Auswirkungen katastrophal. Was folgte war bekanntermaßen die Niederlage Deutschlands mit all ihren verheerenden Folgen in den zwanziger Jahren. Diese Ereignisse trugen dazu bei, dass sich die Idee des Sozialdarwinismus zu Faschismus und Nationalsozialismus bis hin zum aggressiven Antisemitismus wandelte. Wenn es also den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte, wäre der Sozialdarwinismus meiner Meinung nach früher oder später einfach im Sande verlaufen.

Beatrice Heuser: Herr Professor, Sie haben uns aufgezeigt, wie sehr diese drei Denker nicht nur den Ersten Weltkrieg, sondern dann auch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs beeinflussten. Das war ein überaus interessantes Gespräch. Vielen Dank, dass Sie sich heute hier unser Gast gewesen sind und alles Gute für die Zukunft. Und ich hoffe, dass Ihr Buch ins Englische übersetzt wird.


von  Fakultät Einsatz, Cyber und Informationsraum, Streitkräftebasis

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