Folge 1: Sir Corbett und die britische Art der Kriegsführung mit Prof. Lambert
Folge 1: Sir Corbett und die britische Art der Kriegsführung mit Prof. Lambert
- Datum:
- Ort:
- Hamburg
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- 29 MIN
Sir Julian Corbett stand um die Zeit des Ersten Weltkriegs im Mittelpunkt strategischer Debatten [in Großbritannien] . Der Ausbilder in der British Royal Navy war stark vom preußischen General Carl von Clausewitz beeinflusst, passte dessen Theorien jedoch so an, dass sie auch die maritime Dimension mit einbezogen, die in den meisten preußischen Schriften nicht berücksichtigt wurde. In seinen Theorien zur „maritimen Strategie“ – bereits vom Grundsatz her teilstreitkräfteübergreifend – verband er die traditionelle preußische Betonung der Landkriegsführung mit seinen eigenen Marinekonzepten und Überlegungen zu wirtschaftlicher Kriegsführung.
Corbett schrieb zudem die offizielle Geschichte der britischen Seekriegshandlungen im „Großen Krieg“.
In der ersten Folge dieser neuen Podcast-Reihe unterhalten sich die Gastgeber Professor Beatrice Heuser und Paul O'Neill mit Professor Andrew Lambert. Lambert sieht in Corbett den Verfechter einer ganz eigenen britischen Rolle in der Welt, der sich für eine vom europäischen Kontinent losgelöste, „britische Art der Kriegsführung“ ausspricht und der den Krieg auf See dem Krieg zu Lande vorzieht. Es stellt sich die Frage, ob sich dies mit Corbetts berühmtem Ausspruch in Einklang bringen lässt, der da lautet: „Da die Menschen an Land und nicht auf dem Meer leben, wurden die großen Streitpunkte zwischen miteinander im Krieg befindlichen Nationen – außer in den seltensten Fällen – immer entweder durch das entschieden, was die eigene Armee gegen das Staatsgebiet oder nationale Leben des Feindes unternehmen konnte, oder durch die Furcht davor, welche Handlungsmöglichkeiten die Flotte für diese Armee bewirken konnte.“
Beatrice Heuser: Es freut mich sehr, meinen Kollegen vorstellen zu dürfen: Andrew Lambert, Inhaber des John Knox Laughton-Lehrstuhls für Marinegeschichte im Department of War Studies am King's College in London. Andrew Lambert und ich arbeiten seit Langem zusammen und ich durfte die Veröffentlichung vieler seiner Bücher zum Thema Seekriegsführung miterleben, darunter natürlich auch eines über Sir John Knox Laughton, nach dem sein Lehrstuhl benannt ist. Ebenso zu nennen sind [„The Gates of Hell“ über] Sir John Franklins Suche nach der Nordwestpassage; „The Crimean War“ (hochaktuell); „Pirates“; „Nelson: Britannia's God of War“; „Seapower States“ und viele weitere Titel. In seiner aktuellsten Publikation geht es um Julian Corbett; sie trägt den Titel „The British Way of War: Julian Corbett and the Battle for a National Strategy“.
Also, Sir Julian Corbett (1854 bis 1922) hat dankenswerterweise das Konzept der „maritimen Strategie“ als Oberbegriff eingeführt, unter den das enger gefasste Konzept der „Marinestrategie“ für die Anwendung von Gewalt auf See fällt. Und hier komme ich natürlich nicht umhin, eine sehr bekannte Stelle aus Corbetts Werk zu zitieren, wo es heißt, maritime Strategie umfasse die „bestimmenden Grundsätze eines Krieges, in dem die See einen wesentlichen Faktor darstellt. Marinestrategie ist davon nur jener Teil, der die Bewegungen der Flotte bestimmt, nachdem mithilfe der maritimen Strategie festgelegt wurde, welche Rolle die Flotte in Bezug auf das Handeln der Landstreitkräfte zu spielen hat [...]. Es ist fast unmöglich, den Ausgang eines Krieges allein durch das Handeln von Seestreitkräften zu entscheiden.“ Meine Frage an Sie, Andrew, ist daher: Welches sind die drei wichtigsten Ideen, die Corbett zum strategischen Denken beigetragen hat – vor dem Hintergrund unseres Themas „maritime Strategie“ und mit Blick auf die Kontextualisierung der Seestreitkräfte in diesem umfassenderen Zusammenhang der Interaktion mit Landstreitkräften?
Andrew Lambert: Vielen herzlichen Dank! Es freut mich sehr, heute hier zu sein. Corbetts größter Beitrag ist, dass er aus einer ganz anderen Richtung zu den anderen großen Strategen gestoßen ist – nicht nur zu denen aus seiner Zeit, sondern aus der gesamten Geschichte. Er hatte keinerlei militärische Erfahrung. Er war ein Rechtsanwalt, ein Schriftsteller, ein Reisender. Er war ein liberaler Politiker, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene. Er hat jedoch keinen Militärdienst geleistet, sondern ist über die Geschichte zum Militär gekommen. Er avanciert in den 1890er Jahren zu einem ernstzunehmenden Historiker, gerade zu jener Zeit, als die britische Marine zu verstehen beginnt, dass sie aus der Geschichte Lehren ziehen kann und muss, während sie sich auf einen Krieg zunächst gegen Frankreich und Russland vorbereitet. Als er dann später den Höhepunkt seines Einflusses auf das strategische Denken in Großbritannien erreicht, ist bereits das Deutsche Kaiserreich die Bedrohung. Und es ist Corbetts Aufgabe, die Marine durch diese Zeit der Veränderung zu bringen: Von einem Krieg gegen Frankreich und Russland, der hauptsächlich zu See geführt worden wäre, hin zu einem Krieg, bei dem die Kriegsführung an Land die entscheidendere Rolle spielen sollte, da Deutschland, der neue Gegner, keine bedeutsamen Seeziele vor dem europäischen Festland bot. Druck auf Deutschland auszuüben wäre also eine europäische Angelegenheit. Corbetts großer Beitrag besteht hier in der Erkenntnis, dass Großbritannien als mächtiger Akteur seine Marine und seine übrigen Streitkräfte gemeinsam einsetzen muss, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen. Und dass die Erfahrung aus dem letzten großen Krieg gegen die Französische Revolution und Napoleon der beste Ausgangspunkt dafür war, um herauszufinden, wie dies in Zukunft funktionieren könnte. Es geht also komplett um zivile Kontrolle. Dies würde ein Krieg der Politiker werden: Ein Krieg, der von Männern geführt wird, die Politik machen, und nicht von Männern, die militärische Entscheidungen treffen. Nicht die Admirale und Generale bestimmen die britische Strategie, sondern die Politiker.
Die Helden in Corbetts Geschichtsbüchern sind William Pitt, der 1. Earl of Chatham, Lord Anson – als Politiker und Stratege, weniger als kämpfender Admiral –, und die Männer, die Nelsons große Marineoperationen anordneten. Für Corbett war also nicht nur Nelson selbst ein Held, sondern ebenso die Männer, die in Whitehall dienten. Es ging ihm um die Integration dieser Formen des Krieges in ein nahtloses Ganzes, um sicherzustellen, dass Großbritannien auch in einem Krieg gegen eine kontinentale Hegemonialmacht wie das napoleonische Frankreich, das im Sinne militärischer Stärke massiv überlegen war, die größtmögliche Wirkung entfalten konnte. Und trotz dieser Unterlegenheit sollten die Briten in diesem Krieg triumphieren, denn ihre wichtigste Waffe war eine, der Napoleon nichts entgegensetzen konnte. Sie haben sich die Vorherrschaft auf See gesichert. Sie waren in der Lage, ihrem Feind einen verheerenden Wirtschaftskrieg aufzuzwingen. Folgendes wird oft vergessen – und Corbett kam nicht mehr dazu, dies zu erwähnen: Der bedeutendste Krieg in dem gesamten Zyklus von Französischer Revolution und Napoleonischem Konflikt war ein Krieg zwischen Großbritannien und Russland von 1807 bis 1811. In diesem Krieg gab es kaum Gefechte und nur sehr geringe Verluste an Menschenleben.
Und doch wurde die russische Wirtschaft in die Knie gezwungen. Russland verließ die Koalition mit Frankreich und wartete darauf, dass Napoleon einmarschieren würde. Dazu kam es dann 1812, nachdem die Briten die russische Wirtschaft zerstört hatten. Russland zog es vor, es mit Napoleon aufzunehmen, anstatt weiter gegen die Briten zu kämpfen. Napoleon würde nur russische Soldaten töten. Die Briten hingegen hatten die russische Wirtschaft zu Fall gebracht, das ist das Entscheidende. Gegen Ende seines Lebens kam Corbett zu der Erkenntnis, dass genau das auch im Krimkrieg geschehen war. Russland wurde nicht militärisch besiegt, es wurde wirtschaftlich besiegt. Corbetts Schlussfolgerung war, dass eine völkerrechtliche Grundlage geschaffen werden müsse, um sicherzustellen, dass Großbritannien in der Lage war, einen wirksamen Wirtschaftskrieg gegen die Kontinentalmächte zu führen. Aus diesem Grund bestand für die Briten das wichtigste Ergebnis des Wiener Kongresses darin, dass Großbritanniens Politik mit Blick auf die Rechte Kriegführender auf See gar nicht erwähnt wurde. Darauf bestanden sie auch im Vertrag zur Beendigung des Krieges von 1812 mit den Vereinigten Staaten. Diese Fragen wurden nicht einmal ansatzweise thematisiert.
Die Fähigkeit zur Führung eines Wirtschaftskrieges war das entscheidende Instrument des britischen Staates – nicht die Marine, sondern der Handlungsspielraum, den die Marine dem britischen Staat und damit seinem Rechtskodex und seinen Gerichten eröffnete. Das Gleiche tat sie im 20. Jahrhundert, als Großbritannien mithilfe von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen und Gerichten im Ersten Weltkrieg die Blockade des Deutschen Kaiserreichs und der [übrigen] Mittelmächte unterstützte. Dies ist der zentrale Punkt in Corbetts Denkweise. Und wenn man sich vor Augen hält, dass er sein Jurastudium in Cambridge mit Bestnoten abgeschlossen hat und dass er ein zugelassener und praktizierende Anwalt war, so beginnt man, einige Feinheiten seiner Denkweise zu verstehen und erkennt, woher seine Interpretation der britischen Kriegsführung kommt. Corbett trägt weder eine blaue noch eine rote Uniformjacke, sondern eine Anwaltsperücke. Er sieht also Krieg, Politik im Allgemeinen und politisches Handeln eher durch eine juristische Brille als durch eine militärische oder strategische. Als Anwalt versteht er, dass jeder Fall anders ist. Und die Einzigartigkeit britischer Strategie ist ein Punkt, den er aus der Arbeit einiger seiner Vorgänger ableitet. Man muss dazu sagen, dass viele dieser Vorgänger aktive Soldaten waren. Marineoffiziere dachten in der Regel wenig über Strategie nach; das überließen sie eher den Politikern. Soldaten hingegen hatten im 19. Jahrhundert weitaus weniger zu tun, weshalb sie genügend Zeit fanden, über Strategie nachzudenken. Nur einige von ihnen erkannten, dass das, was die Deutschen taten, für Großbritannien nicht in gleicher Weise praktikabel war. Corbetts wichtigste Erkenntnisse waren also Folgende: das Gesetz ist entscheidend; die Wirtschaft ist entscheidend; und das, was die dominierende kontinentale Militärmacht der damaligen Zeit als Antwort bereithält, ist auf Großbritannien nicht übertragbar. Großbritannien ist eine maritime Weltwirtschaftsmacht. Es ist keine kontinentale Militärmacht und will auch keine werden, bis es 1916 zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Massenarmee von Wehrpflichtigen mobilisiert. Großbritannien bemüht sich immer und immer wieder in voller Absicht darum, keine Kontinentalmacht zu werden. Als die Soldaten eine Wehrpflicht fordern, wird sie ihnen verwehrt – bis 1916. Und dass die Wehrpflicht dann tatsächlich eingeführt wird, ist ein Zeichen der politischen Schwäche der Regierung.
Beatrice Heuser: Darf ich hier kurz einhaken? Sie haben betont, dass Corbett zwar den Fokus auf eine kontinentale Militärmacht als Gegner legte, aber argumentierte, dass Großbritannien diesem Gegner mit einem Wirtschaftskrieg begegnen solle. Dieser wiederum sei ein Produkt aus Seekriegsführung und der Kriegsführung mit juristischen Mitteln, wie man heute vielleicht sagen würde. Andererseits heißt es bei Corbett aber auch, dass Seestreitkräfte allein den Feind nur abnutzen können, jedoch nicht in der Lage sind, einen Krieg tatsächlich zu entscheiden. Hierzu – und das ist ein ganz wichtiger Punkt –, gibt es noch ein weiteres großartiges Zitat von Corbett, das man immer wieder hört: „Da die Menschen an Land und nicht auf dem Meer leben, wurden die großen Streitpunkte zwischen miteinander im Krieg befindlichen Nationen – außer in den seltensten Fällen – immer entweder durch das entschieden, was die eigene Armee gegen das Staatsgebiet oder nationale Leben des Feindes unternehmen konnte, oder durch die Furcht davor, welche Handlungsmöglichkeiten die Flotte für diese Armee bewirken konnte.“ Sie meinen also nicht, dass die Konzentration des Vereinigten Königreichs auf eine expansionistische Kontinentalmacht in diesem Fall eine Anomalie ist. Stattdessen argumentieren Sie in Ihrem Buch, dass die Anomalie darin besteht, dass die britische Armee im 20. Jahrhundert auf dem europäischen Festland kämpfte. Die Anomalie liegt demnach nicht im Fokus auf Europa, sondern im Einsatz von Landstreitkräften über einen längeren Zeitraum, denn der Fokus auf Europa und die Notwendigkeit, eine expansionistische Kontinentalmacht auf dem europäischen Festland zu schlagen, stehen nicht im Widerspruch zu Corbetts Argument, dass die Entscheidung schlussendlich an Land fallen wird.
Andrew Lambert: Genau, ich denke, das ist absolut richtig. Corbett erkennt, dass „England“ (in seinen frühen Büchern, später dann „Großbritannien“) nicht in der Lage ist, die große kontinentale Hegemonialmacht im Alleingang zu besiegen. Es muss als Teil einer Koalition agieren. Und aus der Phase der Koalitionskriege zieht er den Schluss, dass Großbritannien bis zum Jahr 1812 nicht fähig war, solche Koalitionen zu bilden. Außerdem versäumten es die Kontinentalmächte während der gesamten Zeit, ihre Differenzen untereinander beiseite zu legen, um sich der überwältigenden Bedrohung durch Napoleon zu stellen. Und auch später, im Ersten Weltkrieg, sieht es Großbritannien nicht als seine Aufgabe an, Frankreich zu verteidigen. Das ist Frankreichs Aufgabe. Großbritanniens Aufgabe besteht darin, den einen Teil Nordwesteuropas zu verteidigen, der für den englischen und später britischen Staat wirklich wichtig ist, nämlich die nördliche Hälfte Belgiens. Die Briten befanden sich seit den 1580er Jahren in der nördlichen Hälfte dessen, was wir heute Belgien nennen, und verteidigten dieses Gebiet seither aktiv gegen hegemoniale Machtbestrebungen. Der Englisch-Spanische Krieg begann, als Queen Elizabeth mehrere Städte an strategisch wichtigen Positionen nahe der Scheldemündung, die England als Pfand überlassen worden waren, unter englische Besatzung stellen ließ. Das hatte nichts mit Piraterie in der Karibik zu tun. Es ging nur darum, britische Truppen in niederländisch-belgischen Festungen zu stationieren, damit die spanische Armada die Schelde nicht für eine Invasion Südenglands nutzen konnte. Die Truppen wurden also zu einem ganz bestimmten Zweck dorthin gebracht. Und als die Napoleonischen Kriege endeten, wo war da die britische Armee? In Belgien. Das war kein Zufall. Alles, was wir heute Belgien nennen, war von britischen Truppen besetzt.
Beatrice Heuser: Darf ich hier noch mal unterbrechen? Sie haben unter anderem bereits erwähnt, dass Corbett zunächst ein Schriftsteller war, der Romane, genauer gesagt historische Romane, schrieb und der erst durch seine intensive Beschäftigung vor allem mit Drake und dessen Nachfolgern zum Historiker wurde und mit seinen Nachforschungen – insbesondere zum Englisch-Spanischen Krieg – begann. Welche Lehren zog er konkret aus dem Englisch-Spanischen Krieg und aus dieser Geschichtsperiode?
Andrew Lambert: Für Corbett blieb Drake Zeit seines Lebens so ziemlich der größte Held überhaupt. Nelson kam später hinzu, mit etwas mehr Pluspunkten, aber Drake war sein ursprünglicher Held. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, ist Corbett gerade an einem größeren Projekt beteiligt, das zum Zeil hat, eine große Statue von Drake im Zentrum Londons aufzustellen. Dazu kommt es dann zwar nicht, aber das ist es, womit er sich beschäftigt. Mit seiner frühen Arbeit über Drake, einer sehr kurzen Biographie, wird er vom Anwalt und Romanautor zum Historiker. Er greift einfach diese ganze Vorstellung davon auf, wie historische Forschung funktioniert. Er genießt es, mit Beweismitteln zu arbeiten, da er dies durch seine Ausbildung gewohnt ist. Dann schreibt er sein erstes großes Buch „Drake in the Tudor Navy“, in dem er sich an zwei Dingen versucht: zum einen untersucht er die Entwicklung der englischen Seemacht, zum anderen aber auch die Entwicklung von Seemacht im Allgemeinen: auf technischer, taktischer und strategischer Ebene. Das Buch findet nicht viel Anklang. Sein nächstes Buch mit dem Titel „The Successors of Drake“, das sich mit der Zeit nach Drakes Tod im Jahr 1593 befasst, ist schon wesentlich besser. Wer sich mit Corbett[s Gedanken] über das Elisabethanische Zeitalter und den Krieg mit Spanien vertraut machen will, der sollte dieses Buch lesen. Der Held dieses Buches ist der Earl of Essex, ein Soldat. Corbett hat zu dieser Zeit bereits erkannt, dass es auf das gemeinsame Handeln von Marine und Armee ankommt. In seinem früheren Buch ist er noch sehr auf der Seite der Marine. Im zweiten Buch sieht er sehr wohl, dass das gemeinsame Handeln der beiden relevant ist. An diesem Punkt wird er von einem Historiker, der über die Vergangenheit schreibt, zu einem Historiker, der der Marine seiner Zeit die Vergangenheit nahebringt.
Das ist der Moment, ab dem er beginnt, sich in der militärischen Ausbildung zu engagieren, und zwar als leitender Historiker im Naval War Course der Royal Navy. Sowohl Corbett als auch der Earl of Essex studierten am Trinity College in Cambridge. Beide waren von Kriegsliteratur begeistert. Corbett las viele Bücher, die auch Essex gelesen hatte. Corbett las auf Italienisch und reiste viel nach Italien. Außerdem befasste er sich sehr ernsthaft mit vielen Aspekten der Kriegsführung des 16. Jahrhunderts. Dadurch konnte er ein sehr gutes Verständnis dafür entwickeln, wie Strategien ausgearbeitet werden. In seinem ersten Aufsatz sucht er schon fast nach einer Marinestrategie. Es geht um die Integration [der Kriegsführung] an Land und auf See – und das ist genau das, was auch Essex tut. Sein Ausgangspunkt ist das Land; er weiß aber auch, wie die See zu nutzen ist. Und Essex ist der Mann, der den Englisch-Spanischen Seekrieg beendet, indem er 1596 die spanische Flotte in Cadiz zerstört. Drake verbrennt einige Schiffe, aber Essex erobert die ganze Stadt und zerstört alles. Davon sollten sich die Spanier nie mehr erholen. Es ist also das gemeinsame Handeln[, das die Entscheidung bringt] – ein Motiv, das wir immer wieder sehen: Die Marine hilft dem Heer anzulanden; das Heer zerstört den Marinestützpunkt und dies stärkt die Seeherrschaft der Briten. Dieses Prinzip wird immer wieder deutlich. Schauen wir ins Jahr 1809, als es darum geht, in einer großangelegten Operation Vlissingen in Holland zu erobern und die Hafenanlagen dort zu zerstören. Dies ist der entscheidende Schritt der Briten im Krieg gegen Napoleon. Dadurch werden die Teile der Armee, die für den Heimatschutz verantwortlich sind, entlastet, so dass diese in den Einsatz nach Spanien ziehen können. Keiner greift dies auf, weil der Feldzug aus politischen Gründen immer als Fiasko angesehen wurde. Doch das war er nicht, im Gegenteil: Er war ein massiver Erfolg. Mehr als die Hälfte der für die Landesverteidigung zuständigen Truppenteile verlässt das Vereinigte Königreich und verlegt auf die Iberische Halbinsel. Und Wellingtons Feldzug, der anfangs die Verteidigung Lissabons zum Ziel hatte, weitet sich nun auf die Sicherung von ganz Portugal aus und beginnt, sich nach Spanien zu verlagern. Aus der Verteidigungsoperation und dem Warten auf den Einmarsch der Franzosen wird also eine Offensive, die sich gegen Frankreichs begrenzte Kontrolle über die westliche Iberische Halbinsel richtet. Und das ist es, was Corbett ständig tut. [Er fragt sich:] Wie passen diese beiden Formen von Macht zusammen? Wer trifft die großen Entscheidungen? Und er stellt fest, dass auf höchster Ebene politische Entscheidungen von Staatsmännern getroffen werden. Er sieht die Integration von militärischer Macht an Land und auf See, und er beobachtet, auf welche Art und Weise der britische Staat dies umsetzt. Und in seinem großartigen Buch über den Siebenjährigen Krieg entwickelt er ein Modell, das aufzeigt, wie die britische Strategie funktioniert. Der Krieg wurde von Politikern geführt wie [William Pitt dem Älteren, 1708 – 1778] dem Earl of Chatham; auf strategischer Ebene trugen ein großer Admiral, Lord Anson [1697 – 1762] und ein großer Soldat, Lord Ligonier [1680 – 1770] die Verantwortung. Gemeinsam entwickelten diese drei Männer einen übergeordneten Plan und organisierten die nötigen strategischen Ressourcen, um Frankreich und Spanien in einer Reihe von Feldzügen zu besiegen, die Großbritanniens Position in der Welt enorm verbessern und sowohl Spanien als auch Frankreich besiegt und erniedrigt zurücklassen sollten.
Beatrice Heuser: Wir sehen also bei Corbett immer wieder diese Überschneidung beim Einsatz von See- und Landstreitkräften; es ist nie nur das eine oder nur das andere. Er sagt nicht einfach – wie man vielleicht in gewissem Maße Mahan interpretieren könnte –, dass wir auf See alles erreichen könnten und dass die Marine allein Schlachten gewinnen kann. Und eines der interessanten Dinge an Corbett scheint auch zu sein, dass er viel bescheidener in seinen Ambitionen ist, was Seeherrschaft bedeuten könnte, nämlich dass sie nicht einfach nur ein Ergebnis von Seeschlachten sein kann. Corbett scheint eine viel nuanciertere Vorstellung davon zu haben, wie viel man auf See erreichen kann. Könnten Sie darauf näher eingehen? Denn das scheint mir auch ein sehr wichtiger Beitrag Corbetts zu sein, eine weitere zentrale Idee, die er vorangebracht hat.
Andrew Lambert: Corbett arbeitet im Jahrzehnt nach der Veröffentlichung von Mahans großem Buch „The Influence of Sea Power upon History“. Hier ist wichtig zu verstehen, was Mahan tut und woher seine Ideen kommen. Sein Argument ist, dass die Vereinigten Staaten eine Marine brauchen, weil sie a) von der Sicherheit in ihrer Hemisphäre abhängig sind, wobei diese am besten auf See zu gewährleisten ist, und b) weil sie gerade erst eine vollständige Nation geworden sind und es Zeit wird, dass die Amerikaner nun ihren Einfluss über den Kontinent hinaus ausweiten, insbesondere nach Asien, was notwendigerweise ein maritimes Unterfangen wäre. So verkauft Mahan die Marine den amerikanischen Wählern, von denen die meisten nicht einmal wissen, wo sich das Meer befindet, und die auch nicht für eine Marine bezahlen wollen. Corbett sieht sehr wohl, dass Großbritannien eine andere Art von Macht ist. Es liegt viel näher an Europa, das damals die Quelle aller Gefahren darstellt, und ist daher gezwungen, sich auf den Kontinent zu konzentrieren. Die Briten können es sich nicht leisten, sich einfach aus Europa herauszuhalten und es sich selbst zu überlassen. Gelegentlich mussten sie das tun, doch damit war ihnen nicht gut gedient. Sie müssen sich also mit Europa befassen. Sie brauchen diese maritime Strategie, die es ihnen ermöglicht, sich am Schauplatz Europa zu beteiligen und die von dort kommenden Gefahren einzugrenzen. Für Großbritannien besteht natürlich immer die Gefahr einer Invasion durch eine dominierende europäische Macht – dieser stand das Land immer wieder gegenüber. Doch das ist kein ernsthaftes Risiko. Die Briten haben in jedem Fall die größere und leistungsfähigere Flotte und sind in der Lage, diese effektiv zu nutzen. Die Vorstellung, dass die Franzosen 1805 hätten einmarschieren können, ist völlig abwegig.
Beatrice Heuser: Könnte ich dem etwas hinzufügen? Vielleicht könnten wir auf die Frage eingehen, was Corbett von Blockaden hielt; denn neben einer Invasion gibt es ja auch noch das Mittel der Seeblockade, mit dem eine andere Macht Großbritannien oder auch Großbritannien dem Kontinent Schaden zufügen könnte. Was war Corbetts Sichtweise dazu?
Andrew Lambert: Wie sein guter Freund Admiral Lord Fisher erkannte auch Corbett, dass die britischen Inseln äußerst anfällig für Seeblockaden waren. Großbritannien war seit den 1780er Jahren von Lebensmittelimporten abhängig. Und dies hatte enormen strategischen Einfluss darauf, wie die Napoleonischen Kriege geführt wurden. Die Briten haben fünf Jahre lang die Ostsee beherrscht, um den Zugang zu baltischen Getreidelieferungen und den baltischen Schiffswerften aufrecht zu erhalten. Die größte Flotte, die die Briten zwischen 1807 und 1812 auf See haben, befindet sich in der Ostsee und hat keinerlei keine Feindberührung mit den Franzosen. Die Ostsee ist also das primäre Einsatzgebiet, und das Flaggschiff dieser Flotte ist die HMSHis/Her Majesty's Ship Victory, ein keineswegs zufällig gewähltes starkes Symbol für die Macht Großbritanniens. Die Briten müssen also eine Seeblockade ihrer Insel unbedingt verhindern, komme was wolle. Und durch die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg werden sie einfach daran erinnert, dass die andere Seite niemals untätig bleiben wird. In den langen Kriegen gegen Frankreich gab es ständig ernsthafte Bedrohungen für den britischen Seehandel: in den 1690er Jahren durch eine französische Schlachtflotte, in der napoleonischen Zeit hauptsächlich durch Kreuzer und Freibeuter. Selbst im Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 beeinträchtigten die Aktivitäten amerikanischer Freibeuter den britischen Seeverkehr in erheblichem Maße. Corbett erkennt also, dass der Schutz des Seehandels von entscheidender Bedeutung ist. Dies ist eine Hauptaufgabe [der britischen Marine]. Bei den Seestreitkräften kontinentaler Militärmächte liegt der Fall [zu der Zeit] anders. Diese sehen [den Schutz des Seehandels] nicht als ihre Aufgabe an. Sie ziehen das überhaupt nicht in Erwägung, und die Handelsmarine ist ihnen sehr fern. Die Royal Navy hingegen hat schon immer eng mit der Handelsmarine zusammengearbeitet, da sie sie in Kriegszeiten verteidigen muss und dann auch auf ihre Unterstützung durch Hilfskriegsschiffe angewiesen ist. Und wenn die britische Armee im Ausland eingesetzt wird, erfolgt die Verlegung mittels britischer Handelsschiffe. Zu Corbetts Zeit waren zudem viele Offiziere und Besatzungsmitglieder der angeseheneren Handelsschiffe Angehörige der Royal Naval Reserve. Im Ersten Weltkrieg wurden dann viele dieser Schiffe vor allem als bewaffnete Hilfskreuzer eingesetzt. Tatsächlich waren es bewaffnete Handelsschiffe, die die Seeblockade Deutschlands aufrechterhielten, und nicht Kriegsschiffe, da die Handelsschiffe längere Einsätze durchhalten konnten oder seetüchtiger waren. Eine Seeblockade ist also das, was Großbritannien wirklich in die Knie zwingen würde. Eine Invasion ist nicht erforderlich, wie auch Fisher deutlich macht. [Die Gefahr einer] Invasion versetzt die Leute in Schrecken, aber was Großbritannien wirklich zu Fall bringen würde, ist eine Seeblockade: Großbritannien von seinem Überseehandel abzuschneiden würde seine Wirtschaft zugrunde richten; das Unterbinden von Lebensmittellieferungen würde seine Kapitulation erzwingen. Die Schwachstelle Großbritanniens ist also nicht die Verwundbarkeit im Fall einer Invasion, sondern etwas anderes. Die [Gefahr einer] Invasion wird als Mittel genutzt, um die Leute aufzuschrecken, so dass sie mehr Geld in die Verteidigung stecken, aber dies ist nicht die eigentliche Bedrohung.
Beatrice Heuser: In Ihrem Buch machen Sie schließlich einen Gegensatz auf zwischen Corbetts Ansichten und einer Strategie, die das Gefecht in den Mittelpunkt stellt und die, wie Sie sagen, zur damaligen Zeit aus Deutschland importiert wurde – ein Ansatz, der das strategische Denken in der angelsächsischen Welt und auch in Frankreich für längere Zeit beherrschen sollte. Doch diese Besessenheit vom Gefecht stammt nicht nur von Jomini, sie findet sich auch bei Clausewitz. Und da haben wir plötzlich jemanden, der Corbett sehr stark beeinflusst hat; Corbett selbst hat viele Ideen des preußischen Generals in Großbritannien eingeführt. Wie bringen Sie Ihren Vorwurf gegen diese aus Deutschland importierte Idee in Einklang mit der Tatsache, dass Clausewitz entscheidenden Einfluss auf Corbett und sein Denken hatte?
Andrew Lambert: Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Clausewitz und Jomini. Sie mögen praktisch Zeitgenossen gewesen sein, aber während der eine sozusagen ein Handbuch mit Handlungsanweisungen verfasst, bringt der andere eine Philosophie zu Papier. Und Clausewitz' Philosophie ist unendlich entwicklungsfähig. Corbett macht sich diese ziemlich schnell zu eigen. Sein Mitstreiter beim Royal Navy War Course von 1904 bis 1907, Captain Edmund Slade, beschäftigt sich sehr eingehend mit dem deutschen strategischen Denken. Er ist nicht nur mit Clausewitz, sondern auch mit den moderneren deutschen Autoren sehr vertraut, und sowohl er als auch Corbett erkennen, dass sich bei den deutschen Veröffentlichungen zum Thema Strategie etwas getan hat. Clausewitz hat ein Verständnis von Krieg entwickelt, das immer wieder neu interpretiert werden kann, um neuen Umständen gerecht zu werden. Wer Clausewitz liest, wird feststellen, dass er das Meer nur zweimal erwähnt, und dann auch nur sehr kurz. Es war nicht so wichtig. Für die Menschen, die um 1820/1830 herum in Preußen lebten, spielte das Meer keine große Rolle. Von dort würden die Briten kommen, um dabei zu helfen, Belgien gegen die Franzosen zu verteidigen. Darüber hinaus hatte es keine größere Bedeutung. Um 1900 herum sind die Verfasser führender Werke über Krieg und Strategie Deutsche. Nach dem Krieg von 1870/71 können deutsche Strategen in ihren Schriften mit Recht prahlen. Und Leute wie Colmar von der Goltz oder Friedrich von Bernhardi vertreten Ansichten über den Krieg, die extrem sind und die sich grundlegend von den Auffassungen unterscheiden, die wir bei Clausewitz finden. Diese Ideen tauchen dann auch in London auf, in englischer Sprache, ebenso in Paris, auf Französisch. Sie fangen den Zeitgeist ein: So wird Krieg in Zukunft sein. Es wird ein totaler Krieg sein. Es wird Massenmobilisierungen geben, enorme Armeen und enorm viel Gewalt. Und es wird eine Entscheidungsschlacht geben, und die Sieger werden die Verlierer vernichten. Und Corbett gibt ziemlich klar zu verstehen, dass dies keine Form von Krieg ist, an der sich Großbritannien beteiligen werde. Großbritannien werde einen ganz anderen Krieg kämpfen. Und er liest die Arbeiten eines anderen deutschen Generals, Rudolf von Caemmerer, der betont, was das Entscheidende bei Clausewitz sei, nämlich dass man seine Philosophie weiterentwickeln kann, um unterschiedlichen Umständen gerecht zu werden. Clausewitz schreibt nicht über das Deutsche Kaiserreich. Nein, er schreibt über einen relativ schwachen preußischen Staat in den 1820er Jahren, der Angst davor hat, von den Franzosen, möglicherweise auch den Österreichern – und vielleicht sogar den Russen – angegriffen zu werden. Und als er das Buch unvollendet niederlegt, geht er los, um die Grenze Preußens gegen einen polnischen Aufstand zu sichern. Es sind unruhige Zeiten. Er schreibt einen Kriegsplan für den Fall, dass die Franzosen einmarschieren – was um 1900 nicht passiert.
Diese Literatur, die ungefiltert aus Deutschland kommt, wird in englischen Ausgaben gelesen, die stets in roten Schutzumschlägen veröffentlicht werden, um die Soldaten zu ermutigen, sie zu lesen. [...] Dies ist die meistgelesene Literatur. Und diese Literatur hat großen Einfluss darauf, was die britische Armee von den Kämpfen im Ersten Weltkrieg erwartet. Obwohl sie nur eine winzig kleine Armee ist, träumt sie davon, ein Heer mit vielen Millionen Soldaten zu sein. Corbett stellt dies in Frage, und genau darum geht es im Kampf um die Strategie. Es geht darum, Großbritanniens Art und Weise des strategischen Handelns vor einem importierten ausländischen Konzept zu bewahren, das für die Briten nicht funktioniert. Clausewitz gibt einem alles an die Hand, was man benötigt, um eine eigene Strategie zu entwickeln. Aber wenn man von der Goltz liest, gibt es nur eine Art Krieg zu führen – und zwar mit riesigen Armeen. Von der Goltz ist jemand, den wir heute als Kriegsverbrecher bezeichnen würden. 1914 erschießt er Menschen in Belgien, weil es Widerstand gegen die deutsche Besatzung gibt. Und für ihn ist das kein Problem. In der britischen Tradition wäre das aber ganz sicher ein Problem gewesen. Corbett hat also die Fähigkeit, die Arbeiten anderer Strategen zu interpretieren und daraus ein ganz eigenes System für Großbritannien zu entwickeln, nicht nur historisch gesehen, sondern auch mit Blick in die Zukunft. Und es gilt zu bedenken, dass dies keine statische britische Sichtweise ist; sie ist progressiv. Corbett ist ein progressiver Liberaler. Er glaubt, dass sich das Empire schließlich zu einem Commonwealth of Nations entwickeln wird, in dem die einzelnen Länder weitgehend eigenständig sind. Seiner Ansicht nach wird die maritime Kontrolle der verbindende Faktor für das britische Commonwealth sein, und die Seestreitkräfte der Herrschaftsgebiete werden auf strategischer Ebene für die gemeinsame Aufrechterhaltung einer liberalen und progressiven britischen Weltanschauung sorgen. Er hält nicht viel davon, aus dem Empire eine Zollunion zu machen. Er ist für freien Handel. Er ist also ein progressiver, liberaler Zivilist, anders als so ziemlich jeder andere, der in dieser Zeit über Strategie schreibt. Wenn man also eines im Hinblick auf Corbett festhalten möchte, dann dies: Es finden sich hier verschiedene Ideen von Menschen wieder, die von außerhalb des Militärs zu dieser Debatte beitragen. Sie bringen andere Denkansätze mit – und es ist kein Zufall, dass Corbetts wichtigster Mitstreiter bei all dem, Admiral Lord Fisher, ebenfalls ein radikaler und fortschrittlicher Liberaler ist.
Paul O’Neill: Danke Andrew, ich bin beeindruckt von dem, was Sie gesagt haben. Corbett scheint ein unglaublich vorausschauender, weitblickender Autor gewesen zu sein. Er spricht über die Kriegführung zwischen Staaten, was sich in der Vorstellung von einem Zeitalter des Wettbewerbs wiederfindet. Wir sehen die Einbindung von Kräften und die Einbindung des Handels. Sie haben Dinge angesprochen[, die auch Corbett erwähnte,] wie die Kriegsführung mit juristischen Mitteln ebenso Koalitionen, einzigartige nationale Interessen, nationale Strategie. Also warum geriet er in Vergessenheit? Warum schwand seine Beliebtheit so sehr?
Andrew Lambert: Die Tragik von Corbett besteht darin, dass er zwar die offizielle Geschichte britischer Strategie und britischer Operationen im Ersten Weltkrieg niederschrieb, aber starb, noch bevor er dieses Werk beenden konnte. Das gesamte Projekt umfasst fünf Bände und er starb, nachdem er die ersten drei Bände abgeschlossen hatte. Dabei deckte er das Versagen und die Fehler einiger sehr mächtiger Personen auf – darunter zum einen Winston Churchill, der die Veröffentlichung von Band 1 um mehr als ein Jahr verzögerte, um seinen politischen Ruf vor den negativen Folgen seiner Fehlentscheidungen als Erster Lord der Admiralität zu schützen. Und der zweite war Admiral Lord Beatty, der in ähnlicher Weise gegen Band 3 protestierte, weil dieser dessen völlige taktische Inkompetenz bei der Skagerrakschlacht offenlegte. Corbett entschied beide Auseinandersetzungen für sich, da er als scharfsinniger Anwalt dafür gesorgt hatte, dass der Regierungsvertrag zur Veröffentlichung der Bücher mit einem großen Londoner Verlagshaus abgeschlossen wurde. Und er setzte den Vertrag so auf, dass es der Regierung unmöglich war, die Veröffentlichung aufzuhalten. Juristisches Wissen ist also in mehrfacher Hinsicht nützlich. Aber diese Kämpfe waren wirklich sehr schwerwiegend, und wenn man dies in seinem Tagebuch nachliest, merkt man, dass es eine riesige Belastung für ihn war. Er ist gesundheitlich in keiner guten Verfassung. Er ist weit über 60 Jahre alt und hat eine Reihe von grundlegenden gesundheitlichen Problemen. Er fällt buchstäblich tot um, nachdem er den Teil über die Skagerrakschlacht zu seiner Zufriedenheit beendet hat. [...] Corbetts Tod bedeutete, dass die letzten zwei Bände nicht nach den Standards fertiggestellt wurden, die er für sich angelegt hatte. Die Bände 4 und 5 enthalten keine strategischen Analysen. Sie wurden vielmehr von einem Poeten als von einem Historiker oder Strategen beendet. Corbett starb 1922, im Jahr der Washingtoner Flottenkonferenz, als Großbritannien endlich zugab, dass es auf See nicht die absolute Dominanz innehatte und diese mit den Amerikanern teilen würde.
Von diesem Zeitpunkt an sehen wir, dass das Zeitalter Großbritanniens als dominierender maritimer Akteur langsam zu Ende geht; Seemacht an sich verliert in der Zweit zwischen den Weltkriegen an Bedeutung. Es ist eine Zeit, in der die Marinerüstung starken Einschränkungen unterliegt, aber Land- und Luftstreitkräfte völlig uneingeschränkt aufgerüstet werden, sowohl hinsichtlich ihrer Größe als auch ihrer Menge an Bewaffnung. Dann haben wir 1939; die ganze Welt zieht in den Krieg mit Seestreitkräften aus Zeiten des Ersten Weltkriegs und Land- und Luftstreitkräften des Zweiten Weltkriegs, und es dauert einige Zeit, bis das Gleichgewicht wiederhergestellt ist. Die Dinge, für die Corbett stand, die Bedeutung von Seemacht und maritimer Macht für die Briten, haben also Schaden genommen und es wird einige Zeit dauern, sich im Zweiten Weltkrieg davon zu erholen. Seine Arbeit wird in der Zwischenkriegszeit von seinem guten Freund Admiral Sir Herbert Richmond gefördert, dem ersten Direktor des Imperial Defence College. Dieser war tonangebend hinsichtlich des Gefechts der verbundenen Waffen im Zweiten Weltkrieg. Doch Corbetts Name geriet in Vergessenheit. Sein großartiges Buch „Some Principles of Maritime Strategy“ wurde 1911 veröffentlicht. Es erschien noch einmal 1919 und in einer kleineren Ausgabe 1930 – und wurde dann erst 1974 wieder veröffentlicht. [...] Die Synergie hinsichtlich dessen, wo wir heute stehen und wo Corbett damals war ist nicht zufällig. Sie ist unvermeidlich. In einem Zeitraum zwischen 1945 und 1990 hatte Großbritannien im Rahmen des Kalten Krieges Verpflichtungen auf dem europäischen Kontinent und diese waren politisch entscheidend, obwohl der strategische Nutzen fragwürdig war; und sie dominierten den ganzen Bereich Verteidigung. Das bedeutet also, dass sich zwei Generationen von Verteidigungsexperten auf die britische Rheinarmee und die Royal Air Force Germany konzentrierten und dass alles, was die Marine tat, als „out of area“ bezeichnet wurde (wie „out of area“ im Sinne von „außerhalb des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Bündnisgebiets“) und somit als wenig bedeutsam galt. Mit dem Falkland-Krieg vor 40 Jahren setzte hier eine Veränderung ein, die offensichtlich später noch grundlegender wurde. Langsam aber sicher erkennt Großbritannien, dass kurzfristige strategische Erfordernisse einer bestimmten Reihe von Eventualitäten langfristige Realitäten nicht verändern.
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Wenn man also die richtige Strategie finden will, ist es wichtig, die Vergangenheit zu verstehen. Es geht darum, die Dinge zu verarbeiten und sicherzustellen, dass verstanden wird, dass die konkreten Umstände immer wieder ganz anders liegen werden. Man kann die Vergangenheit nicht einfach wie eine Anleitung aus dem Regal ziehen und diese wieder abarbeiten. Man muss in der Lage sein, diese Ideen auf den Kontext zu übertragen, in dem man operiert. Es gibt keine Standardvorlage – und die Strategien anderer zu kopieren, insbesondere von mitteleuropäischen Ländern, die sehr viel über militärische Operationen im Nahbereich nachdenken, ist einfach irrelevant, so klug diese Ideen in ihrem jeweiligen Kontext auch sein mögen. Sie funktionieren nicht; man muss sich erst darüber im Klaren sein, welches Spiel man spielt, bevor man über die Regeln nachdenkt.
Beatrice Heuser: Um Ihre Argumentation in „The British Way of War: Julian Corbett and the Battle for a National Strategy“ einmal zusammenzufassen: Corbett brachte einige wichtige Schlüsselelemente zusammen, die für die strategische Aufstellung Großbritanniens von bleibender Bedeutung sind. Darunter, ganz entscheidend: dieses Wechselspiel zwischen Marine und Armee, zwischen einer Seemacht, die direkt vor den Küsten Europas liegt und ihren kontinentalen Verbündeten. Und das ist der Kern dessen, was Corbett durch viele historische Beispiele auf sehr nachhaltige und auch sehr schöne analytische Weise demonstrierte.
Vielen Dank an Sie, Professor Andrew Lambert, dass wir heute miteinander sprechen konnten. Und hier noch einmal das Buch dazu, in dem alles noch viel detaillierter dargelegt ist: „The British Way of War: Julian Corbett and the Battle for a National Strategy“. Vielen Dank!