Marokko 1960 – der erste Auslandseinsatz des Sanitätsdienstes
Marokko 1960 – der erste Auslandseinsatz des Sanitätsdienstes
- Datum:
- Ort:
- Marokko
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Nach dem schweren Erdbeben am 29. Februar 1960 in Agadir stellt die ehemalige Kolonialmacht Frankreich mit vor Ort stationierten Marineeinheiten die ersten Hilfskräfte. Ebenso kann Spanien von nahegelegenen Stützpunkten schnell Unterstützung leisten und die USA errichten Luftbrücken zu ihren Militärbasen nach Deutschland. Auch die Bundesregierung reagiert und schickt die Bundeswehr mit ihrem noch im Aufbau befindlichen Sanitätsdienst in den ersten Auslandseinsatz.

Ähnlich wie auf diesem Bild aus einem Lehrfilm zu sehen, bestiegen am 2. März 1960 102 Soldaten in Köln-Wahn mehrere Noratlas-Transportflugzeuge und verlegten nach Nordafrika. Über die eingerichtete Luftbrücke wurden 179 Tonnen Material bewegt.
Bundeswehr
In einem Hauptverbandplatz wie diesem behandelten die Sanitätssoldaten in fünf Wochen über eintausend verletzte und kranke Menschen. Die Aufnahme entstand während einer Übung im Jahr 1961.
Bundeswehr/Wehrhistorische Lehrsammlung SanAkBwDer am 11. April 1956 gegründete Sanitätsdienst der Bundeswehr fand sich seit Juni 1957 als Inspektion des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr im Bundesministerium der Verteidigung wieder und erhielt im September 1957 auch einen Inspekteur. Den Ärzten war 1956, den Zahnärzten, Apothekern, Veterinären und Lebensmittelchemikern 1957 der militärische Status eines „Sanitätsoffiziers“ zuerkannt worden. Noch befand sich alles im Aufbau und man arbeitete mit voller Kraft daran, die neuen, der NATONorth Atlantic Treaty Organization unterstellten Truppenteile sanitätsdienstlich zu unterstützen.
In Agadir bebt die Erde
Mitten in die Aufbauphase hinein platzte völlig unerwartet der – abgesehen von den Hilfsflügen der Luftwaffe nach Marokko im November 1959 – erste große Auslandseinsatz der Bundeswehr, in dem der Sanitätsdienst die Hauptrolle spielen sollte. In der Nacht zum 1. März 1960 bebte in der südmarokkanischen Küstenstadt Agadir die Erde und das erst seit wenigen Jahren unabhängige Königreich Marokko musste die schwerste Naturkatastrophe seiner Geschichte erleben. Etwa 15.000 Menschen kamen ums Leben, 12.000 Verletzte und Tausende Obdachlose waren zu beklagen. Das verheerende Unglück rief auch in Deutschland große Anteilnahme hervor und der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß veranlasste schnell, auch eine Sanitätseinheit der Bundeswehr zur Unterstützung zu entsenden.
Das Koblenzer Sanitätsbataillon 5 wird alarmiert
Am Abend des 1. März, während man in den rheinischen Karnevalshochburgen noch ausgelassen den Fastnachtsdienstag feierte – erreichte den Sanitäts-Kommandeur des III. Korps, Oberstarzt Dr. Bardua, der Befehl, eine Sanitätseinheit zum Aufbau eines Hauptverbandplatzes in Marokko in Marsch zu setzen. Kurz darauf wurde das in der heute nicht mehr existenten Westfalenkaserne stationierte, der 5. Panzerdivision unterstellte Koblenzer Sanitätsbataillon 5 unter seinem Kommandeur Oberfeldarzt Dr. Carl Merkle alarmiert.
Abmarschbereitschaft über Nacht hergestellt
Eilig wurden die ganze Nacht über Geräte und Material aus anderen Standorten zusammengezogen. Eine Telefon- und Alarmierungskette setzte ein, einige Soldaten mussten noch aus Kneipen herausgeholt werden. Die Abmarschbereitschaft der für den Einsatz ausgewählten 3. Kompanie wurde bereits für den 2. März, 10.00 Uhr, festgelegt. Tatsächlich stand die Truppe am 2. März um 12.00 Uhr samt Ausrüstung abmarschbereit am Flughafen Köln-Wahn, was auch nach heutigen Maßstäben und vor allem vor dem Hintergrund der damaligen Kommunikationsmöglichkeiten als erstaunliche Leistung zu bewerten ist.
Stärke und Ausrüstung des Einsatzkontingents
Wie man dem im Bundesarchiv einsehbaren, nach der Mission erstellten Erfahrungsbericht entnehmen kann, gingen insgesamt 102 Soldaten in den Einsatz, darunter sechs Ärzte (davon zwei Chirurgen und ein Hygieniker), zwei Apotheker und 47 Sanitätssoldaten. Unterstützt wurden sie durch zehn ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehrspezialisten, elf Luftverlast-Fachleute, vier Feldköche und 17 Marine- und Heeresangehörige als Fernmeldepersonal sowie zwei Dolmetscher für französisch/deutsch. Mit den ersten Flügen wurde ein kompletter, moderner Hauptverbandplatz nach Marokko verbracht, der nach dem Einsatz durch Beschluss des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages der marokkanischen Regierung geschenkt wurde.
Hilfe im Erdbebengebiet
Während ihres fünfwöchigen Engagements in Agadir führten die Bundeswehrärzte mit ihrem Sanitätspersonal – erschwert durch acht Nachbeben – 20 schwere und 60 mittlere sowie weitere kleinere Operationen durch und behandelten etwa 100 Personen stationär. Insgesamt wurden über tausend Verletzte und Kranke behandelt, wobei es sich um ein breites Behandlungsspektrum handelte, bis hin zu Magengeschwüren und Rheuma. Hierzu flogen 35 Transportmaschinen der Lufttransportgeschwader 61 und 62 der Luftwaffe vom Typ „Noratlas“ mit 200 Mann fliegendem Personal in einer Luftbrücke von Köln-Wahn nach Agadir. Im Zeitraum 2. März bis 6. April wurden so 179 Tonnen an Medikamenten, Verbandstoffen und Lebensmitteln bewegt, 1.500 Personen nach Agadir oder zurück transportiert und insgesamt rund 280 000 Flugkilometer zurückgelegt.
Rückverlegung mit der „Möwe“
Wurden sie noch in einer Blitzaktion per Luft ins Einsatzland gebracht, so gestaltete sich für die 47 bis zuletzt in Agadir verbliebenen Sanitätssoldaten die Rückverlegung gemächlicher. Mit dem „Argo“-Frachter „Möwe“ ging es nach Bremerhaven, wo die Rückkehrer am 13. April durch den Kommandeur der in Koblenz stationierten 5. Panzerdivision, Brigadegeneral Günther Pape, begrüßt wurden. Die erste große Bewährungsprobe des Sanitätsdienstes der Bundeswehr wurde intern wie auch in der Öffentlichkeit äußerst positiv bewertet, sodass die Soldaten für ihre hervorragenden, der jungen Armee viel Anerkennung einbringenden Leistungen, in einen sechstägigen Sonderurlaub wegtreten durften.
Bedeutung des Marokkoeinsatzes für die junge Bundesrepublik
Der erste Auslandseinsatz der Bundeswehr eröffnete der jungen Bundesrepublik die Möglichkeit, außenpolitisch zusammen mit verbündeten Nationen aktiv zu werden und sich so auf internationaler Bühne erstmals als humanitäre Macht zu präsentieren. Dies war auch vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts von Bedeutung, was auch deutlich in dem Erfahrungsbericht von Oberfeldarzt Dr. Merkle anklingt. Darin hebt er die uneingeschränkte Solidarität der westlichen Helfer untereinander ausdrücklich hervor und verweist darauf, dass in Marokko schließlich auch „Experten aus ostzonalen Ländern“ nur auf die Gelegenheit gewartet hätten, „tätig werden zu können“.
Verfassungsrechtliche Dimension des Einsatzes
Die Hilfsaktion in Marokko war kein militärischer Einsatz im Sinne der Verfassung. Für einen solchen wäre erst die Feststellung des Verteidigungsfalles durch das Parlament erforderlich gewesen. Das Verteidigungsministerium erklärte demgegenüber im März 1960, dass es in Agadir nicht um einen Ernstfall ginge, sondern es »vertretbar« erscheine, »den Einsatz der Bundeswehr als Übung zu betrachten«. Dies war auch dem Umstand geschuldet, dass große Teile von Politik und Gesellschaft die neue Armee sehr zurückhaltend oder gar ablehnend betrachteten.
Verantwortlichkeiten unterstreichen humanitären Charakter
Es herrschte eine tiefe Skepsis gegenüber bewaffneter Macht und der Anwendung militärischer Machtmittel, die bis in die Gegenwart anhält. Damals wie heute, bestand aber auch ein breiter Konsens, was die humanitäre Unterstützung angeht. Dass diese nicht als militärischer Einsatz gelten sollte, kam auch in der Zuteilung der Verantwortlichkeiten zum Ausdruck: Bis 1978 koordinierte nicht das Verteidigungsressort, sondern das Innenministerium und das Auswärtige Amt gemeinsam Aktionen der humanitären Hilfe. Danach ging die Zuständigkeit dann ganz an das Auswärtige Amt über.
Beginn einer Tradition von Hilfe im Dienste der Menschlichkeit
Der maßgeblich vom Sanitätsdienst getragene erste Einsatz der Bundeswehr im Ausland markiert den Beginn einer langen und erfolgreichen Tradition von Hilfsmaßnahmen im Dienste der Menschlichkeit und die dort gesammelten Einsatzerfahrungen erwiesen sich als äußerst hilfreich für die Organisation und Durchführung zahlreicher Hilfseinsätze in den folgenden Jahren. Zwischen 1960 und den Einsätzen in Somalia und Kambodscha 1992 leistete die Bundeswehr in mehr als 130 weiteren Fällen humanitäre Hilfe im Ausland.