Der Kurs für die Marine ab 2035
Der Kurs für die Marine ab 2035
- Datum:
- Ort:
- Rostock
- Lesedauer:
- 8 MIN
Die deutschen Seestreitkräfte müssen sich an Abschreckung, Verteidigung und Fortschritt ausrichten. Das soll über den umfassenden Einstieg vor allem in unbemannte Systeme geschehen.
Die Lage
Die Bundeswehr muss „zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“ – das erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Bundeswehrtagung 2022. Kernauftrag sei die Landes- und Bündnisverteidigung, alle an- deren Aufgaben hätten sich dem unterzuordnen.
Damit präzisierte der Bundeskanzler seine Erwartungen an die Bundeswehr, die an das ebenfalls 2022 beschlossene Strategic Concept der NATONorth Atlantic Treaty Organization anknüpfen: Abschreckung und Verteidigung, Krisenprävention und -management sowie Kooperative Sicherheit bleiben die Aufträge des Bündnisses – aber mit deutlicher Betonung der Abschreckung. Das fordert insbesondere von der Marine: hohe Gefechtsbereitschaft und Präsenz in den Operationsräumen Nordatlantik, Nord- und Ostsee bereits im Frieden.
Zugleich verändern technische Neuerungen die Bedingungen im maritimen Operationsraum massiv. Neue Unterwasser-Sensorik, umfassen- de land-, luft- und weltraumgestützte Aufklärung machen das Gefechtsfeld zunehmend gläsern. Aus den resultierenden großen Datenmengen erzeugen komplexe ITInformationstechnik-Systeme, künftig auch mit Hilfe Künstlicher Intelligenz, umfassende Lagebilder.
Das geht einher mit leistungsstarken Waffensystemen potentieller Gegner, die teils äußerst schwer abzuwehren sind. Für Reaktionen zur Abwehr bleibt immer weniger Zeit. Weil deswegen mit zusätzlichen Ausfällen im Gefecht zu rechnen ist, unterstreicht das den Wert von Quantität – die Masse machts.
Zugleich steigt durch die technische Entwicklung die Bedrohung im Gefecht derart, dass eigene Soldatinnen und Soldaten dieser Bedrohung nur im unbedingt erforderlichen Maß ausgesetzt werden sollen. Der Trend geht damit eindeutig hin zu unbemannten Systemen, die sich in einem teilstreitkräfte-gemeinsamen Netzwerk einsetzen lassen.
Folgerungen für die Marine ab 2035
a) Dringendstes Erfordernis ist ein hinreichendes und kontinuierlich geführtes Lagebild über alle Aktivitäten im eigenen Operationsraum. Insbesondere ist das Erkennen gegnerischer Aktivitäten, ihre Bewertung und der Lagebildaustausch national wie auch im Bündnis erforderlich.
b) Um auf Grundlage dieses Lagebildes selbst handlungsfähig zu bleiben und diesen Aktivitäten begegnen zu können, bedarf es Seekriegsmittel auf, über und unter Wasser sowie in der Luft. Das dabei zu beherrschende Spektrum reicht von einem Beobachten und/oder Behindern eines Gegners im Frieden bis zur Bekämpfung im Krieg.
c) Eine ausgeprägte Resilienz im Sinne einer Widerstandsfähigkeit ist dazu unverzichtbare Voraussetzung, denn sie gewährleistet eigene Handlungsfähigkeit trotz gegnerischer Aktivitäten. Sie erfordert strukturelle, funktionale und individuelle Reserven. Sie umfasst auch die Dezentralisierung von Aufgabenverteilung und Verantwortung, um sich für den Ausfall zentraler Systeme zu wappnen.
Was dafür zu leisten ist
1. Präsenz
Sie ist Ausdruck des politischen Willens mit Signalwirkung, zeigt Solidarität im Bündnis und Verteidigungsbereitschaft. Auch unterstützt Präsenz das Lagebild im Operationsraum und erhöht die eigene Reaktionsfähigkeit.
Dafür benötigt die Marine: eine ausreichende Anzahl von Schiffen und Booten, Flugzeugen und Hubschraubern, die es erlaubt, Präsenz in den Operationsgebieten durchhaltefähig zu gewährleisten.
2. Maritime Schlagkraft
Angriffe von See Richtung Land („Maritime Strike“) reduzieren die Handlungsoptionen eines Gegners. Sie zielen vor allem auf Führungseinrichtungen, Sensoren- und Waffenstellungen sowie Logistikzentren. Das kann die Zugangsverweigerung in ein Gebiet durch den Gegner mittels schneller, moderner Lenkflugkörper (Anti-Access/Area Denial) so reduzieren, dass sich Seewege in einer Region wie der Ostsee wieder sicher befahren lassen.
Dafür benötigt die Marine: vor allem eine ausreichende Anzahl schneller, schwer entdeckbarer und möglichst unbemannter Plattformen über und unter Wasser, um die Reaktionszeit eines Gegners zu unterlaufen.
3. Überwasser-Seekrieg
Der Kampf gegen Ziele über Wasser und in der Luft ist notwendige Voraussetzung, um einen Gegner an der Nutzung eines Seeraumes zu hindern. Das ist für Versorgungsrouten über den Nordatlantik bis in die Ostsee besonders wichtig.
Dafür benötigt die Marine: weitreichende Sensorik für ein taktisches Überwasserlagebild sowie defensive und offensive Waffensysteme sowie schwimmende und fliegende Plattformen für den Kampf über Wasser.
4. Unterwasser-Seekrieg
Die Teildimension Unterwasser gewinnt rasant an Bedeutung. Moderne U-Boote und andere Unterwasserfahrzeuge können enormen Schaden anrichten. Selbst im Frieden schon: Denn Angriffe unter Wasser auf zivile und militärische Ziele sind schwer einem Verursacher zuzuschreiben.
Dazu benötigt die Marine: moderne Sensorik unter Wasser – sowohl ortsfest wie auch beweglich – und KIkünstliche Intelligenz-gestützte Auswertung für ein taktisches Unterwasser-Lagebild sowie defensive und offensive Waffensysteme, U-Boote und unbemannte Gefährte für den Kampf unter Wasser.
5. Küstenkampf und Küstenverteidigung
Die geographischen Bedingungen der Ostsee erfordern, Positionen zu sichern, die in gegnerischer Reichweite liegen. Bedrohungen kommen nicht nur aus der Luft durch Flugzeuge oder Lenkflugkörper, sondern gehen – gerade in hybriden Konflikten – auch von Spezialkräften und amphibischen Truppen aus. Die Marine muss auch Küstenbereiche schützen können und dort Präsenz zeigen.
Dafür benötigt die Marine: mobile infanteristische beziehungsweise landgestützte Kräfte, um Küstenbereiche see- und landseitig zu kontrollieren sowie auch von Land nach See wirken zu können.
6. Maritimes Lagebild und Bewertungskompetenz
Ein Bild über die maritime Gesamtlage, das die Anteile Unter- und Überwasser, Küste und Luftraum umfasst, ist Voraussetzung, um aktuelle Entwicklungen einzuschätzen und eigene Aktivitäten anzupassen. Diese Daueraufgabe bedarf einer besonderen maritimen, Bewertungskompetenz, die sich mit militärischen und zivilen Stellen – national und international – vernetzt.
Dafür benötigt die Marine: unbemannte eigene Sensorik für dauerhafte Datengewinnung sowie ausgestaltete Kooperationsbeziehungen zum Informationsaustausch mit anderen Stellen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr, Behörden, zivilen Einrichtungen und der maritimen Wirtschaft. Dafür braucht die Marine geschultes Personal, ein Netzwerk für den Datenaustausch und KIkünstliche Intelligenz-Technologie zur Datenauswertung.
7. Führung und Resilienz
Führungszentren müssen besonders widerstandsfähig sein, weil sie vorrangiges Ziel gegnerischer Aktivitäten sind. Die Marine verfügt mit dem Marineführungszentrum in Rostock bereits über ein stationäres maritimes Hauptquartier für den Ostseeraum. Sie muss zudem auch von See aus NATONorth Atlantic Treaty Organization-Marineverbände führen können.
Die Marine benötigt: ein zum Marineführungszentrum in der Stadtmitte Rostocks alter- natives, weiteres Hauptquartier, geprägt durch entfernte Lage und geschützte Gebäude; sowie ad hoc einsatzbereite Stäbe für die Führung in See, um im Führungsbereich insgesamt resilienter zu werden.
Die Marine und ihre Flotte ab 2035
Die besonderen Eigenschaften des maritimen Operationsraums wie auch die Vorgaben der neuen NATONorth Atlantic Treaty Organization-Streitkräftestruktur fordern von der Marine umfassende Fähigkeiten. Dazu gehören Operationen sowohl auf dem offenen Atlantischen Ozean als auch in Nord- und Ostsee.
Für die Strukturen der Marine ab 2035 ist daher besonders wichtig: Kriegsschiffe müssen Seekrieg im Nordatlantik multidimensional und auf große Distanz führen können. Sie brauchen dafür auch eine hohe Durchsetzungs- und Überlebensfähigkeit. Unbemannte Systeme ergänzen die Abdeckung großer Räume. Die besondere Bedrohungslage in der Ostsee erfordert möglichst unbemannte, einfache, preiswerte und in hoher Stückzahl verfügbare Waffensysteme.
Worauf es nun ankommt
Die Marine muss bereit für intensive Gefechte werden, eine Vielzahl unbemannter Systeme anschaffen und Künstliche Intelligenz insbesondere für die Lagebildführung und -auswertung nutzen. Damit diese Marine Wirklichkeit werden kann, kommt es schon jetzt auf zwei Dinge an:
1. Der Weg in die Zukunft der Marine muss nachhaltig finanziert werden.
2. Schon jetzt gilt es, Einsatz und Betrieb unbemannter Systeme im Rahmen von Experimentiervorhaben zu erproben, Erfahrungen zu sammeln, um schließlich in die risikominimierte Beschaffung in den aufgezeigten Stückzahlen einzusteigen.
Gestaltungsprinzipien
1. Mass matters
In einem möglichen Abnutzungskrieg in der Landes- und Bündnisverteidigung bedeutet Masse auch Resilienz. Das heißt:
- konsequentes Umsetzen des Faktors 3 bei der Anzahl der erforderlichen Seekriegsmittel (1/3 in der Instandhaltung, 1/3 in voller Gefechtsbereitschaft, 1/3 in abgestufter Gefechtsbereitschaft)
- Standardisierung der Seekriegsmittel erleichtert Ersatzteilbevorratung und Ausbildung
- Einheiten müssen bedienbar ausgelegt sein
2. Zukunftsorientiert
Die Aufstellung der Marine muss:
- sich ausreichend flexibel auf die demographische Entwicklung anpassen lassen
- ihr Personal bedrohungsminimiert einsetzen können
- neue unbemannte Fähigkeiten schnell mit wenigen marktverfügbaren Prototypen ausprobieren (Experimentation)
3. Multi-Domain Operations
Die Marine leistet einen Beitrag zum Gefecht der verbundenen Waffen durch:
- vernetzte und schwarmfähige Systemansätze, möglichst unbemannt
- den Aufbau von Maritime-Strike-Fähigkeiten
4. Resilienz
Resilienz bedeutet die Fähigkeit, nach einem Schlag, weiter funktionieren zu können. Dafür ist erforderlich:
- Schützen von wenigen Abstützpunkten für Nachversorgung und Instandsetzung
- alternative gehärtete operative Führungseinrichtung sowie mobile taktische Führung in See
aktualisiert am 15.09.2023, d. Red.
Projekte von anderen Marinen
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