Verteidigungsfähigkeit und Artenschutz
Verteidigungsfähigkeit und Artenschutz
- Datum:
- Ort:
- Kiel
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- 9 MIN
Leben in Frieden und Freiheit sowie eine intakte Umwelt sind beides wertvolle Güter. Die Bundeswehr muss sie für die realistische Ausbildung der Flotte sorgfältig miteinander abwägen und in Einklang bringen. Bei ihrem jüngsten Übungs- und Ausbildungssprengen Anfang November haben die Minenjäger der Marine viel für den Schutz von vor allem Meeressäugern wie dem Schweinswal getan.
„Backbord, drei Dez, Meeressäuger“ – so oder mit anderen Richtungsangaben melden die Ausgucks deutscher Marineschiffe in die Brücke, wenn sie Wale oder Delfine sichten. Die Übungs- oder Einsatzfahrt wird dann für einen Moment zur Whale-Watching-Tour: Wer gerade Freiwache hat, kommt an Oberdeck, um einen Blick auf die Tiere zu erhaschen oder sie auch zu fotografieren.
Die Marine legt Wert darauf, Meeressäuger und andere Lebewesen in ihrem Lebensraum so wenig wie möglich zu schädigen. Allerdings muss die Flotte ihren Auftrag zur Verteidigung erfüllen können. Speziell die Besatzungen der Minenjagdboote und Minentauchereinsatzboote sowie die Minentaucher müssen in der Lage sein, Seeminen und andere, unter Wasser eingesetzte Munition beseitigen zu können – notfalls durch Sprengen. Übergeordnetes Ziel ist, Seewege sicher zu halten und freie Schifffahrt zu schützen.
Die Schiffe und Crews des 3. Minensuchgeschwaders brauchen so für ihre volle Einsatzfähigkeit eine den NATONorth Atlantic Treaty Organization-Standards entsprechende Zertifizierung. Das bedeutet eine anspruchsvolle Ausbildung, besonders für die Minentaucher, die Sprengstoffe über und unter Wasser handhaben müssen. Sie benötigen für den Erhalt ihrer vorgeschriebenen Fachkunde, quasi ihrer individuellen Lizenz, den Nachweis über echtes Übungssprengen unter Wasser, das sie selbst vorgenommen haben müssen.
„Wir müssen gemäß unseren Ausbildungsanweisungen unsere Befähigung, mit Sprengstoffen und Munition umgehen zu können, mindestens alle fünf Jahre praktisch nachweisen“, erklärt ein Sprengmeister aus der Minentaucherkompanie des Seebataillons. Er war zusammen mit rund einem Dutzend weiterer Kameraden seines Verbands beim ersten Übungssprengen der Marine in deutschen Gewässern seit drei Jahren dabei. „Einige von uns konnten in dieser Woche auch ihre Befähigung erneuern oder erstmals erhalten.“
Die Marine nutzt zivil erprobte Signalgeber zum Vergrämen
Die Marine und ihre Minentaucher trainieren das Sprengen außerhalb der sensibelsten Monate für Meeressäuger, in der sie sich hauptsächlich fortpflanzen und die meisten Kälber gebären. Für die deutsche Ostsee sind das vor allem Schweinswale und selten auch Kegelrobben. Die Flotte berücksichtigt ebenso Zeiträume für wichtige Fischarten in der Region. Das bedeutet: Praktische Ausbildung mit Sprengstoffen einschließlich Detonationen in See findet nur außerhalb von Schonzeiten statt, also im Herbst und Winter sowie in einem kleinen Zeitfenster im Frühjahr. Zusätzlich halten die Übungen größtmöglichen Abstand zu Schutzgebieten gemäß der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EUEuropäische Union.
Ebenfalls seit langem gehört zu jedem Übungssprengen dazu, Meeressäuger zu verscheuchen, fachlich auch vergrämen genannt. Die Minenjagd- und Minentauchereinsatzboote verwendeten bislang dafür einerseits ihre eingebauten Sonaranlagen, die mit schwachen, lauter werdenden Signalen die Tiere aus einem geplanten Sprenggebiet vertrieben haben. Andererseits nutzten sie bislang für den gleichen Zweck kleinste Sprengladungen, die sie vor einer scharfen, größeren Sprengung für 30 Minuten regelmäßig ausbrachten.
Zum Vergrämen von Meeressäugern aus Sprenggebieten hat die Marine nun seit 2020 sogenannte Seal Scarer und Pinger eingeführt. Die Scarer geben in unterschiedlichen Frequenzbändern störende Tonsignale ins Wasser. Sie dienen im zivilen Umfeld zum Beispiel dazu, Robben und Kleinwale von Aquakulturen fernzuhalten. Die Pinger ergänzen die Seal Scarer im Vorfeld, um mit weniger lauten Signalen, und geringerer Reichweite, Schweinswale schon aus der unmittelbaren Nähe der Sprengstelle und auch der Scarer zu vertreiben. In ihrer zivilen Anwendung wie bei der Netzfischerei vermeiden sie den Beifang von Kleinwalen.
Zusätzlicher Schutz durch einen doppelten Blasenschleier
Bei den Sprengübungen im Sperrgebiet Schönhagen kam nun erstmals eine weitere, aufwendige Schutzmaßnahme hinzu. Die Wehrtechnische Dienststelle 71 (WTDWehrtechnische Dienststelle 71) des Ausrüstungsamts BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr ließ durch eine zivile Firma einen sogenannten Blasenschleier um die Sprengstelle aufbauen. Auf dem Meeresgrund lagen in drei konzentrischen Kreisen schwere Schläuche mit millimetergroßen Öffnungen an ihrer Oberseite. Von einer Plattform in See erhielten sie Druckluft, die aus zwei der drei Schläuche einen dichten Vorhang aus Luftblasen legten. Der dritte Schlauch diente dazu, unterschiedliche Größen des Schleiers zu testen, und als Reserve, falls einer der Schläuche ausfiel. Der Einsatz dieser Anlage für das einwöchige Übungssprengen der Marine kostete rund 1,1 Millionen Euro – was das Übungsvorhaben rund ein Drittel teurer machte als zuvor ohne diese Maßnahme.
Der Blasenschleier sollte den Schallimpuls der eigentlichen Sprengungen so stark mindern, dass sich seine Reichweite außerhalb des Schleiers deutlich verringert. Firmen nutzen diese Technik bereits beim Bau der Fundamente von Windkraftanlagen in See. Der verringerte Gefahrenbereich um die Sprengstelle in Kombination mit dem vorhergehenden Verscheuchen sollte dafür sorgen, dass möglichst kein Meeressäuger mehr zu Schaden kommen kann.
Eine Messkampagne parallel zum Sprengen
Dieses erstmalige Verwenden eines Blasenschleiers für ein Sprengen der Marine begleiteten ausführliche Schall- und Druckmessungen der WTDWehrtechnische Dienststelle 71 und des vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) beauftragten Instituts für technische und angewandte Physik (itap) innerhalb und außerhalb des Schleiers. Parallel nahm das Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung GEOMAR in Kiel Wasserproben im gleichen Gebiet. Die Daten teilen sich Bundeswehr, Naturschutzbehörden und Forschung. Mit validen Ergebnissen rechnen die verschiedenen beteiligten Experten im Frühjahr nächsten Jahres.
Neben dem BfN des Bundesumweltministeriums war auch das Landesumweltministerium MEKUN Schleswig-Holsteins in das Sprengvorhaben eingebunden. Über diese Behörde erfolgte die artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung dafür, dass die Marine in deutschen Hoheitsgewässern im rund 16 Quadratkilometer großen Sperrgebiet Schönhagen nördlich von Eckernförde sprengen darf. Das nächste Naturschutzareal ist das Vogelschutzgebiet Schwansener See, das circa fünf Kilometer entfernt direkt an der Küste liegt.
Schon Monate vor der scharfen Minenabwehrübung hatte das Bundeswehr-Umweltamt BAIUDBwBundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr mit der Marine und dem BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr einen Leitfaden für Unterwassersprengungen erarbeitet und anschließend mit den Naturschutzbehörden abgesprochen. Die Bundeswehr nutzt ihn mittlerweile für alle Ausbildungs-, Übungs- und Erprobungszwecke in Nord- und Ostsee. Erkenntnisse aus diesem ersten Übungssprengen mit einem Blasenschleier werden in seine nächste Fassung einfließen. Das gemäß dem Leitfaden neu erforderliche, ausführliche Genehmigungsverfahren, für die Übung erstmals umgesetzt, ist auf mehr als 1.000 Druckseiten dokumentiert.
Die Ostsee teilen sich zwei Großgruppen des Gewöhnlichen Schweinswals
Die umfänglichen Maßnahmen im Marine-Sperrgebiet schützten von allen Meeressäugern vor allem die Schweinswale der Ostsee. Zwei unterschiedliche Populationen des kleinen Zahnwals leben in dem Randmeer, eine davon in der westlichen Ostsee zwischen Kattegat und Rügen mit vermutlich mehreren Zehntausenden Tieren. Akut vom Aussterben bedroht ist die Gruppe östlich davon. Laut Deutscher Stiftung Meeresschutz wird dieser Bestand auf nur noch 500 Individuen geschätzt. Für beide gilt der Grundsatz des Naturschutzgesetzes und der EUEuropäische Union-Richtlinie: Die Tiere zu verletzen oder gar zu töten ist eine Straftat.
„Die Grenze für die Belastung der Schweinswale liegt bei einem Schallexpositionslevel von 160 Dezibel, also die gemittelte Schallenergie für eine Sekunde, die Schallpegel und -dauer berücksichtigt, gemäß Schallschutzkonzept Nordsee des BfN“, erklärt Stefan Ludwig, Dezernent für Meeresbiologie im Marinekommando. „Was diesen Wert übersteigt, kann bei den Tieren schon eine temporäre Hörschwellenverschiebung verursachen, zu vergleichen mit dem Diskoeffekt, wie wir ihn kennen. Das Gehör regeneriert sich wieder, aber auch das gilt beim streng geschützten Schweinswal schon als Verletzung.“
Das BfN-Schutzkonzept sei eigentlich für die Lärmbelastung beim Bau von Offshore-Windenergieanlagen entwickelt, besonders für den Schallimpuls, der beim Einrammen der Fundamente für Windräder entsteht. Dabei würden zum Teil über Monate tausende Rammstöße benötigt, um einen Windpark zu errichten. „Explosionsschall verhält sich etwas anders. In einer sehr kurzen Zeit entsteht ein sehr hoher Spitzenschalldruck, aber es gibt keine kumulativen Effekte einer Schallbelastung wie bei den aufeinanderfolgenden Rammstößen für Offshore-Fundamente“, so Ludwig.
Detonationen wie das Zerstören von Ankertauminen im Schönhagener Sperrgebiet bringen es auf Spitzenschallpegel von bis zu 300 Dezibel. Dieser Schallimpuls ist nicht nur sehr stark, im Wasser trägt er auch normalerweise wesentlich weiter als in der Luft. Der von der Bundeswehr ausgebrachte Blasenschleier sollte genau das verhindern. „Die Blasenschleierringe sollten die Druckspitzen deutlich dämpften, um die Schallpegel dahinter ebenso deutlich zu reduzieren und so die Meeresumwelt zu schützen“, führt Ludwig aus.
Sechs zerstörte Seeminen in fünf Tagen mit maximal 65 Kilo TNTTrinitrotoluol-Äquivalent
Die praktische Minenabwehrübung samt Vermessung dauerte fünf Tage vom 31. Oktober bis 4. November. Die Zerstörung von sechs Ankertauminen mit einer Ladung von je 60 Kilogramm TNTTrinitrotoluol-Äquivalent verteilte sich auf vier Tage. Das verantwortliche 3. Minensuchgeschwader hatte viel Zeit für sechs Vor- und Hauptsprengungen sowie acht Referenzsprengungen für die Messungen, mit je weniger als 50 Gramm Sprengstoff, eingeplant.
Beteiligt waren vier Minenjagd- beziehungsweise Minentauchereinsatzboote aus Kiel, ein Mehrzweckboot des BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr aus Eckernförde und ein Schiff der Firma Hydrotechnik Lübeck als Plattform für die Kompressoren des Blasenschleiers. Das GEOMAR war mit dem Forschungskutter „Littorina“ zugegen, um Wasserproben während des gesamten Vorhabens zu nehmen, das itap-Forschungsschiff „Arne Tiselius“ sammelte währenddessen weitere Unterwasser-Schalldaten.
Die Minen wurden am gleichen Punkt auf dem Meeresboden in etwas mehr als 20 Metern Tiefe zerstört, vier von Minentauchern, zwei durch Minenjagddrohnen vom Typ Seefuchs-C. Beide Arten von Sprengübungen sind für den Kommandeur des 3. Minensuchgeschwaders, Fregattenkapitän Carsten Schlüter, sehr wertvoll. „Mir ist wichtig, dass meine Besatzungen vor einem NATONorth Atlantic Treaty Organization- oder sonstigem Einsatz mindestens einmal mit dem Seefuchs scharf schießen“, sagt er. „Sie sollen nicht im Ernstfall zum ersten Mal eine scharfe Drohne bedienen müssen. Erst dann kann ich sie guten Gewissens in den Einsatz schicken.“
Die Unterwasserdrohne Seefuchs ist mit Sonar und Video ausgestattet. Es gibt Versionen nur zum Aufklären und zum Üben. Nur die C-Variante hat einen echten Gefechtskopf eingebaut, der ähnlich wie eine Panzerfaust eine Ladung auf sein Ziel schießt.
Eine intensive Übung für das gesamte Team Minenabwehr
„Bei diesem Sprengvorhaben konnten ganze Besatzungen üben“, führt Schlüter am Ende der Übungswoche aus, „von der OPZOperationszentrale über die Brücke und den Leitstand bis zum Achterdeck.“ Alle rund 40 Soldatinnen und Soldaten zum Beispiel des Minenjagdboots „Bad Bevensen“ waren involviert: Die Operationszentrale (OPZOperationszentrale) überwachte die Sensoren, lenkte die Drohne und überwachte das gesamte Verfahren. Die Brücke hielt das Schiff auf einer sicheren Position, mit genügend Abstand zur Sprengstelle, und hielt Ausschau, dass nicht fremde Schiffe, Boote oder Meeressäuger in die Nähe der Sprengstelle kommen. Das Team auf dem Achterdeck bereitete die scharfe Seefuchs-C-Drohne vor und setzte sie auf Befehl der OPZOperationszentrale aus. Der Schiffstechnische Leitstand schließlich sorgte für einen störungsfreien Betrieb und hielt sich bereit für eventuell notwendige Sofortreparaturen.
„Fürs komplette Minenjagd-Team, inklusive der Minentaucher, haben wir diese Woche einen großen Ausbildungsmehrwert erzielt“, findet Kommandeur Schlüter. „Mein Ziel ist, dass wir so mehrmals im Jahr außerhalb der Schonzeiten üben können, wenn es die Wetterbedingungen zulassen.“
Dieser Einschätzung schließt sich auch der Kompaniechef der Minentaucher an. „Der Blasenschleier hatte nach den Berichten, die ich bis jetzt gehört habe, wenig Auswirkungen, trotz der ungewohnten Situation, auf das Training unserer Leute“, sagt Korvettenkapitän Steffen S. „Mir ist jetzt wichtig auszuwerten, wie wir das in Zukunft verstetigt in der Ausbildung anwenden können. Das müssen wir abwarten. Ich nehme natürlich jede Chance wahr, draußen zu trainieren. Wenn das künftig öfter pro Jahr klappen sollte, ist auch diese Form des Übungssprengens eine klasse Sache, um unsere Zertifizierung aufrecht zu erhalten.“