„POTOM übersteigt alles, was ich bisher erlebt habe“
„POTOM übersteigt alles, was ich bisher erlebt habe“
- Datum:
- Ort:
- Niederlande
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- 8 MIN
Deutsche und niederländische Seestreitkräfte kooperieren seit Jahren auf vielfältige Weise – auf See, aber auch in der Ausbildung an Land. Nun hat erstmals ein junger Offizier des Seebataillons aus Eckernförde die extrem fordernde Zugführer-Ausbildung des Korps Mariniers absolviert. Marineinfanterist Kapitänleutnant Christoph W. erzählt von seinen Erfahrungen, einer von 14 zu sein, die von 55 übriggeblieben sind.
Herr Kaleu, sagen Sie uns in zwei Sätzen, wer Sie sind.
Ich bin Kapitänleutnant Christoph W., Zugführer in der Küsteneinsatzkompanie im Seebataillon in Eckernförde. Ich bin 30 Jahre alt, in der Nähe von Berlin geboren. Dienstbezogen lebe ich mittlerweile in Schleswig-Holstein zusammen mit meiner Frau.
Was machen Sie als Zugführer?
Ich bin verantwortlich für einen der fünf Züge meiner Kompanie mit 45 Soldaten. Zu meinen Aufgaben gehören das Führen, Erziehen und Ausbilden der mir anvertrauten Soldaten, das Vorbereiten und Durchführen von Übungen und Einsätzen im In- und Ausland.
Sie haben die Praktische-Opleiding tot Officier der Mariniers, also die Zugführer-Ausbildung POTOM der niederländischen Marineinfanterie absolviert. Was können wir uns darunter vorstellen?
POTOM ist die initiale Ausbildung des Korps Mariniers zum Zugführer. Sie gilt als die schwerste Ausbildung in den niederländischen Streitkräften und setzt extreme körperliche und mentale Fitness voraus. Es gibt jedes Jahr einen Lehrgang der rund 40 Wochen dauert, untergliedert in vier Phasen. Damit sollen die Teilnehmer schrittweise, unter immer größer werdender körperlicher und geistiger Belastung, ein immer anspruchsvolleres Ziel erreichten.
Hauptziele sind die Verantwortung für die Einsatzbereitschaft der jeweiligen militärischen Einheit, die uns jungen Offizieren anvertraut wird. Das umfasst für die Teilnehmer auch das militärische Handeln als Zugführer.
Wie kommt es dazu, dass Sie als erster Deutscher an der niederländischen Ausbildung teilnehmen durften?
Ich erinnere mich an einen Montagmorgen im September 2021. Mein Kompaniechef beorderte mich und einem weiteren Zugführer in sein Büro. Er hatte die Absicht, einen Offizier der Kompanie in die niederländische Ausbildung zu schicken – die POTOM.
Nach Abwägen zwischen dem Kameraden und mir kam dann noch die Frage auf, wieviel Bedenkzeit uns für unsere Entscheidung eingeräumt würde. Die Antwort des Chefs war dann schon überraschend: innerhalb von 24 Stunden! Ich rief sofort meine Frau an. Ihre Antwort: „Mach‘ das, das ist die Chance deines Lebens!“
Ich war schon einige Zeit auf meinem Dienstposten, hatte Einsatzerfahrung und das Wichtigste: Ich wollte es auch unbedingt machen. Aus der Perspektive meines Dienstherrn war ich dann wohl der am besten geeignete Kandidat. So fiel die Entscheidung auf mich und das Abenteuer POTOM begann letztes Jahr. Zuerst mit einem dreimonatigen Niederländisch-Lehrgang am Bundessprachenamt in Hürth bei Köln.
Wie war Ihre Erwartung zuvor und Ihre Erfahrung nach den ersten Wochen im Lehrgang?
Als ich noch in Deutschland war, probierte ich, so viele Informationen wie möglich über POTOM zu sammeln, um mich mental und physisch bestmöglich darauf vorbereiten zu können. Der Knackpunkt war, dass die niederländischen Streitkräfte um ihre POTOM-Ausbildung ein großes Geheimnis machen. Weder über das Internet noch über interne Kreise waren viele Informationen zu bekommen.
Ich konnte nur etwas erfahren von einer wohl neunmonatigen, intensiven Führerausbildung, physisch auf dem Niveau des deutschen Einzelkämpferlehrgangs. Das machte mich bereits stutzig, da unser Einzelkämpferlehrgang lediglich vier Wochen dauert.
Über ehemalige niederländische Lehrgangsteilnehmer konnte ich dann weitere Informationen erhalten. Mir wurde zum ersten Mal wirklich klar, was da auf mich zukommt. Meine Erwartungshaltung wuchs, da die Kameraden berichteten, wie „doll“ der Lehrgang sei. Zugleich erzählten sie mir die schlimmsten Geschichten, dass diese harte Ausbildung fast unmöglich zu schaffen wäre. Ich ging also in den Lehrgang in der Erwartung, dass dies die körperlich intensivste Ausbildung werden würde, den ich in meiner militärischen Laufbahn zu absolvieren habe.
Nach den ersten zwei Wochen ist mir klar geworden, POTOM ist wie eine militärische Grundausbildung, deren Intensität – was die physische und mentale Belastung angeht – alles übersteigt, was ich in Deutschland bisher erlebt habe.
Wie empfanden Sie die Aufnahme in der niederländischen Marine?
Mit meinem Hörsaalleiter, also einer Art Klassenlehrer, habe ich vor Beginn, die „Rules of Engagement“ für mich abgestimmt. Fest stand, dass ich ab dem ersten Tag mit Niederländern, die ihren ersten Kontakt mit den Streitkräften haben, zusammengeworfen würde. Es war mir wichtig, dass ich keine Sonderbehandlung erfahre, trotz meiner Vorerfahrung und meines Dienstgrades. Ich wollte Teil des Hörsaalgefüges werden und behandelt werden wie jeder andere auch.
Die Konsequenz war dann zum Beispiel, dass wir am ersten Tag buchstäblich Haare lassen mussten. Gekürzt auf einen halben Millimeter, wie im Film „Full Metal Jacket“. Ich spürte die anfängliche Unsicherheit der Ausbilder im Umgang mit mir. Das verging aber schnell.
Sprachschwierigkeiten gab es praktisch nicht, da die Vorbereitung in Hürth einwandfrei war. Die Niederländer waren besonders motiviert, mit mir zu arbeiten. Sie sahen mich quasi als Werbeplattform in Deutschland, um das Korps Mariniers gut darzustellen und die gute Zusammenarbeit zwischen Seebataillon und dem Korps zu betonen.
Für die niederländischen Lehrgangskameraden war es wiederum unverständlich, wie jemand freiwillig an der POTOM-Ausbildung teilnehmen konnte – zumal ich ja schon fertig ausgebildet war. Nach den ersten zwei Wochen waren meine neuen Kameraden überzeugt, dass ich es ernst meinte, und ich war vollends in den Hörsaal integriert.
Wie verlief dann die Ausbildung?
Die Ausbildung begann für mich in der letzten Septemberwoche 2022 und endete nun im Juli dieses Jahres. Somit reden wir über neun Monate der Teilnahme. Als Außenstehender muss man verstehen, dass der physische Druck von der ersten Minute an immens hoch ist.
Das bedeutet zum Beispiel, dass jeder Fehler bestraft wird. Wir reden davon, wenn morgens um fünf Uhr jemand in den Augen der Ausbilder unzureichend rasiert war, wir 55 Mann in den sogenannten Sloot geschickt wurden. Das muss man sich so vorstellen, dass in der Kaserne ein Wassergraben ist, über den eine Survivalbahn verläuft, mit Tauen zum drüber hangeln. Das Wasser ist kalt und schwarz und es sind diverse … Rückstände darin. Da mussten wir dann mit Sack und Pack hinein. Danach ist man nass und dreckig.
Weil ein Offizier der Mariniers seine Ausrüstung stets einsatzklar haben muss, hieß das dann, unsere Sachen zu waschen, zu trocknen, zu bügeln und anschließend wieder auf A4 gefaltet in den Spind zu legen. Das dauerte – Zeit, die fehlte, um beispielsweise Schlaf nachholen zu können.
Schlafentzug war ohnehin ein beliebtes Mittel bei den Ausbildern, uns zu fordern, und das über die gesamte Dauer der Ausbildung. Beispielsweise im dritten Basis-Biwak konnten wir nur anderthalb Stunden pro Nacht schlafen. Dann sollten wir unsere Orientierungsfähigkeit unter Beweis stellen, sprich mit Karte und Kompass von A nach B gelangen.
„Gegen die Horrorgeschichten half, dass ich selbst schon Grundausbilder war“
Der wenige Schlaf wird durch die Ausbilder forciert, um die Lehrgangsteilnehmer an ihre Grenzen zu bringen und sie dennoch funktionieren zu lassen. Viele ließen sich freiwillig vom Lehrgang ablösen, da sie diesem Druck nicht Stand hielten. Da muss man sich überlegen, dass wir mit 55 Mann gestartet sind und am Ende nur 14 Mann übriggeblieben sind!
Neben Maßregelungen wurden wir permanent unter mentalen Druck gesetzt. Es bleibt tatsächlich kein Moment, um mal zur Ruhe zu kommen. Ziel ist ja letztendlich, dass jeder, der die Ausbildung besteht, zukünftig einen Zug von mehr als 30 Soldaten unter schwierigsten Bedingungen führen können muss.
Ich war als deutscher Lehrgangsteilnehmer sehr überrascht, was dort von uns gefordert wurde. Die „Horrorgeschichten“ vorweg schienen sich tatsächlich zu bestätigen. Mir half aber, dass ich selbst schon Grundausbilder gewesen war. Somit konnte ich die Herausforderungen gut einordnen und verstehen, warum etwas gerade genau so passiert. Das war mein ganz großer Vorteil. Ich habe mir weniger Sorgen gemacht als meine Kameraden.
Haben Sie ein persönliches Fazit Ihrer POTOM-Ausbildung?
Die Niederländer haben mich ab und an gefragt „Wobei hast du am meisten gelernt?“ Die Antwort war schnell da: Am meisten habe ich in Phase eins gelernt, in der Forming- beziehungsweise Basic-Skills-Phase.
Das Korps Mariniers ist deshalb so schlagkräftig und effektiv, weil jeder niederländische Marineinfanterist die gleichen Basisfähigkeiten beherrscht. Und ich meine beherrschen, weil es drillmäßig beigebracht wird. Das gilt vom Mannschaftsdienstgrad bis hoch zum General. Ich habe gelernt, dass für eine Einheit, die unter widrigsten Voraussetzungen zurechtkommen muss, die Drillausbildung wesentliche Grundlagen liefert und gut funktioniert.
Wo ich am wenigsten gelernt habe, das war in der Zugführerphase. Es gibt viele Parallelen zu unserer Ausbildung in Deutschland. Die Taktiken sind beinahe identisch und es hätte mich daher schon sehr gewundert, wenn ich da noch viel Neues gelernt hätte.
Was nehmen Sie für sich und Ihre Arbeit im Seebataillon mit?
Die Erkenntnis aus der Drillausbildung, dass an dem Punkt, an dem ich eigentlich aufgeben möchte, ich trotz alledem noch weiter funktioniere.
Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung, von der Ausbildung?
Der POTOM-Lehrgang hat bei den Niederländern einen sehr hohen Stellenwert. Das heißt für den Lehrgang wird sehr viel ermöglicht und es gab entsprechend viele Highlights. Ich wurde zum Beispiel während des Basis Helikopter Trainings eine Woche lang immer wieder im Hubschrauber transportiert und davon abgesetzt.
Oder im Survival-Training-Center in Rotterdam, wo wir tatsächlich viel ausprobieren durften, im Hinblick auf Überleben in Notlagen auf See. Das heißt, es war auch möglich, auf alle roten Knöpfe zu drücken und an allen Emergency-Lines zu ziehen – was man ja sonst nur im Notfall machen und selten wirklich ausprobieren darf.
Was folgt für Sie nach der Ausbildung? Erholung mit der Familie?
Ich habe mit meiner Kompanie bereits abgestimmt, dass ich im Anschluss erstmal etwas Urlaub brauche, allein schon um körperlich wieder auf ein normales Level und wieder zur Ruhe komme. Ruhe, die uns ja in den letzten Monaten förmlich abtrainiert wurde, um maximal aufmerksam zu sein. Und diese Anspannung muss erstmal wieder raus.
Ich will jetzt erst mal Zeit mit meiner Frau genießen, die mich in den Monaten massiv unterstützt hat. Um es zu verdeutlichen: Meine Frau hat mich an vielen freien Wochenenden in den Niederlanden besucht. Andersherum wäre es nicht möglich gewesen. Ich musste jede freie Zeit nutzen, um nach einer fordernden Woche Schlaf nachzuholen. Und dafür bin ich meiner Frau unendlich dankbar. Nicht jede Beziehung meiner jungen niederländischen Kameraden hat die POTOM überstanden.