Baltic Guard: Eine Zwischenbilanz
Baltic Guard: Eine Zwischenbilanz
- Datum:
- Ort:
- Rostock
- Lesedauer:
- 6 MIN
Die Marine hat seit Zuspitzung des Russland-Ukraine-Konflikts ihre Wachsamkeitsaktivitäten, im NATONorth Atlantic Treaty Organization-Sprachgebrauch Vigilance Activities, in der Ostsee verstärkt. Sie verlegt laufende Einzelübungen in die Region und hat das Flottenmanöver Northern Coasts 2022 angepasst.
Vigilance Activities definiert das Atlantikbündnis als laufende beziehungsweise normale tägliche militärische Maßnahmen der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Streitkräfte, um ein angemessenes strategisches Lagebewusstsein und die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte sicherzustellen. Dazu gehören seitens der Deutschen Marine schon seit Jahren etwa regelmäßige Patrouillenflüge über der Ostsee mit Seefernaufklärern vom Typ P-3C Orion.
Enhanced Vigilance Activities, also erhöhte Wachsamkeitsaktivitäten, sind Maßnahmen, die das Lagebewusstsein der NATONorth Atlantic Treaty Organization in Bezug auf eine sich abzeichnende Veränderung der Sicherheitslage noch gezielt verbessern sollen. Aktuell sind das vor allem Veränderungen bei den Truppenbewegungen und Übungen der NATONorth Atlantic Treaty Organization, die sich seit Anfang 2022 auf die Ostflanke des Bündnisses konzentrieren. Angesichts des laufenden Konflikts in der Ukraine ist dies insbesondere für die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Mitglieder in Osteuropa von Bedeutung.
Auch die deutschen Seestreitkräfte zeigen Vornepräsenz
Der wohl wichtigste Beitrag der Marine zu den Enhanced Vigilance Activities ist seit Frühjahr 2022 die Maßnahme Baltic Guard. Eine Arbeitszelle im Maritime Operations Centre (MOCMaritime Operations Centre) in Glücksburg bei Flensburg organisiert, so viele nationale Übungsvorhaben wie möglich von der Nordsee in die Ostsee zu verlegen. Das soll dort die Präsenz der Flotte erhöhen.
„Es hat eine erhebliche Verschiebung von Vorhaben unserer Schiffe, Boote und Flugzeuge von außerhalb in die Ostsee stattgefunden“, bestätigt Fregattenkapitän Ulrich F. aus dem MOCMaritime Operations Centre. Und er ergänzt: „Dies bezieht sich sowohl auf nationale wie auf internationale Einheiten. Genaue Zahlen, Daten und Fakten sind allerdings eingestuft.“
Gleichzeitig bietet die Marine mit Baltic Guard ihren Partnern im Ostseeraum an, sich an allen diesen Übungen zu beteiligen. Das bedeutet vor allem, dass nicht nur Korvetten aus Warnemünde und Minenjagdboote aus Kiel, sondern nun auch vermehrt Fregatten aus Wilhelmshaven direkt an der Nordostflanke der NATONorth Atlantic Treaty Organization ihr Handwerk trainieren – gemeinsam zum Beispiel mit Schiffen der polnischen oder der estnischen Marine.
So viel Stahl in See wie möglich
„Als großer Anrainer haben wir einen natürlichen Schwerpunkt im Ostseeraum“, erklärt dazu der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Jan-Christian Kaack. „Unsere Alliierten erwarten von uns eine Führungsrolle.“ Das merkt die MOCMaritime Operations Centre-Arbeitszelle unmittelbar. „Der Erfolg von Baltic Guard kommt im Feedback der baltischen Staaten und auch anderer Ostseeanrainer zum Ausdruck. Sie bewerten unser Engagement sehr positiv“, sagt Ulrich F.
Für die Enhanced Vigilance Activities hatte die Deutsche Marine im Frühjahr – teils noch vor dem Ausbruch des Krieges zwischen Russland und der Ukraine – die Hälfte ihrer Flotte, einschließlich U-Booten, Hilfs- und Aufklärungsschiffen, bereitgestellt. 28 davon, praktisch alle, die nicht in einer Werft zur Wartung und Reparatur lagen, hatte die Marineführung im Februar an NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verbände abgestellt oder von individuellen Trainingsvorhaben in der Nordsee in die mittlere und östliche Ostsee umgeleitet.
„Das Motto war: Alles, was schwimmt, geht raus“, so Inspekteur Kaack jüngst in einem Interview mit Welt Online. „War das durchhaltefähig? Nein. War es richtig? Auf jeden Fall. Weil wir gezeigt haben: Nicht mit uns, Herr Putin!“ In der Folge habe die Marine „Normverhalten der russischen Flotte mit ein paar Ausnahmen im fliegerischen Bereich“ feststellen können.
Allerdings hat die Marine noch ein strukturelles Problem. Das zeigte sich darin, dass im Frühjahr die Hälfte ihrer Schiffe einer Werft zur Wartung und Reparatur lag. Dabei geht die Theorie von nur einem Drittel aus – während sich ein weiteres Drittel der Flotte immer in der Ausbildung befindet sowie ein letztes Drittel immer für Einsätze und NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verpflichtungen zur Verfügung stehen soll. Mangelnde Kapazitäten des Marinearsenals und ziviler Werften haben aber zu einem Engpass geführt. „Lange Werftliegezeiten müssen bislang die Besatzungen ausbaden, die gehen zu Lasten ihrer Ausbildungszeiten“, meint Kaack.
Der Ankauf der ehemaligen MVMecklenburg-Vorpommern Werften Rostock durch den Bund wird Abhilfe schaffen. Für den Marineinspekteur ist das „ein echter Gamechanger“ und er rechnet mit einem Effekt daraus für eine größere Verfügbarkeit der Flotte ab 2023.
Auch Northern Coasts wurde Teil von Baltic Guard
Indes hat die erhöhte Ostseepräsenz sich ebenfalls auf das alljährliche Herbstmanöver der Marine ausgewirkt: Northern Coasts dauerte dieses Jahr mit vier Wochen, vom 29. August bis 28. September, länger als gewöhnlich. Das bot Gelegenheit für mehr Beteiligung durch Deutschlands Ostseepartner.
Die Übungsgruppe bestand aus der Fregatte „Schleswig-Holstein“, dem U-Boot „U 32“, dem Aufklärungsschiff „Oste“ und dem Minenjagdboot „Bad Bevensen“ sowie Bordhubschraubern und Seefernaufklärern. Ihr Manöverbefehl hält ausdrücklich fest: „Der Ausbildungsverband leistet einen nationalen Beitrag im Rahmen der Enhanced Vigilance Activities und ist Bestandteil von Baltic Guard. Eine Kooperation bei Trainingsaktivitäten mit Bündnispartnern ist ausdrücklich gewünscht.“
Inhalt von Northern Coasts 2022 war zunächst das übliche Trainieren der Zusammenarbeit von Kriegsschiffen unterschiedlicher Typen und Nationalitäten. Darüber hinaus hatte die Großübung in diesem Frühherbst weitere Schwerpunkte: darunter die U-Boot-Abwehr speziell in der Ostsee zu trainieren. Die Beteiligten übten auch, ein multinationales,Teilstreitkräfte-übergreifendes, detailliertes militärisches Lagebild der Region zu erstellen und es über den Zeitraum des Manövers laufend zu aktualisieren.
Hauptzweck der verstärkten Marinepräsenz in der Ostsee ist zu demonstrieren, welche Kräfte die NATONorth Atlantic Treaty Organization einzusetzen bereit ist, um die Seewege insbesondere ins Baltikum freizuhalten. Estland, Lettland und Litauen, wie auch der bald neue NATONorth Atlantic Treaty Organization-Partner Finnland, sind von diesen Verbindungen abhängig. Einerseits verläuft ein sehr großer Teil ihres Handels über das Meer, andererseits könnte ein potentieller Konfliktgegner Russland die Landverbindungen von Westeuropa an diese Nordostflanke des Bündnisses leicht unterbrechen. Zum Beispiel ist die Landbrücke zwischen Polen und Litauen nur 65 Kilometer breit, wenige Straßen und nur eine Eisenbahnlinie führen hier nach Norden.
Angesichts dieser geostrategischen Situation ist auch heute schon die Vornepräsenz der NATONorth Atlantic Treaty Organization an ihrer Ostgrenze auf den Seeweg über die Ostsee angewiesen. Da die drei Battle Groups in den baltischen Staaten absehbar von Bataillons- auf Brigadestärke anwachsen sollen, ist Nachschub über See umso wichtiger.
Mehr Sicherheit auch unter der Wasseroberfläche
„Weil aber Schweden und Finnland der NATONorth Atlantic Treaty Organization beitreten, haben wir in der Region deutlich mehr Optionen“, führt Admiral Kaack aus. Die Marinen der beiden Länder brächten echte maritime Spezialfähigkeiten ein. Die seien auch für die Unterwasserkriegführung in Bezug zum Meeresboden wichtig. Wie im Atlantik verlaufen auch auf dem Ostseegrund Pipelines und Unterseekabel. Mit Angriffen auf diese kritischen Infrastrukturen unter Wasser „lässt sich zum Beispiel Estland schnell der Strom abschalten“, so Kaack.
Außer den beiden, inzwischen stillgelegten und beschädigten, Verbindungen Nordstream 1 und 2 gibt es viele andere Verbindungen. Zum Beispiel die Baltic Pipe, die erst seit Ende September 2022 Polen mit der Erdgasversorgung Dänemarks durch Norwegen verknüpft. Seit 2015 bereits verbindet das Hochspannungskabel NordBalt zwischen Schweden und Litauen die Stromnetze in Skandinavien und im Baltikum. Im Seekabel C-Lion1 fließen seit 2016 Daten zwischen Deutschland und Finnland.
Dass die Ostsee durch den Beitritt Schwedens und Finnlands zum Großteil ein NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gewässer sein wird, ermöglicht bald eine noch engere Kooperation der Anrainer, um diese gemeinsame maritime Infrastruktur zu schützen. Die Deutsche Marine beteiligt sich daran mit den Fähigkeiten insbesondere ihrer U-Boote und Minenjagdboote, ihrer Kampfschwimmer und Minentaucher.