Toxic Trip – Wenn ein Atemzug tödlich sein kann
Toxic Trip – Wenn ein Atemzug tödlich sein kann
- Datum:
- Ort:
- Türkei
- Lesedauer:
- 5 MIN
Nur ein leises Summen ist am Himmel zu hören, als eine kleine Drohne über den Luftwaffenstützpunkt schwebt. Noch bevor sie entdeckt wird, lässt sie ein Päckchen fallen, das explodiert und eine giftige Substanz freisetzt. Es war mit einem ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Kampfstoff bestückt. Ein Pilot, der in der Nähe im geöffneten Cockpit seines Jets sitzt, wird mit dem Kampfstoff kontaminiert. Zum Glück ist dies nur ein Übungsszenario, doch angesichts zunehmender Bedrohungen durch Drohnen-Attacken durchaus denkbar.
Bei einem echten Angriff, sind es die ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehr-Spezialisten, die Menschenleben und Material retten und wieder einsatzfähig machen. In Antalya im Süden der Türkei trainieren deshalb über 650 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus aller Welt für den Ernstfall. Unter den 148 deutschen Teilnehmern der Übung Toxic Trip 2021 sind auch 20 Soldatinnen und Soldaten aus Schortens. Sie gehören zum III. Zug der 2. Staffel des Objektschutzregiments der Luftwaffe „Friesland“. Ihr Zugführer ist Oberleutnant Jonas Köhrich. „Wir sind Infanteristen, aber mein gesamtes Team ist in Zweitfunktion für die ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehr verantwortlich“, sagt der 27-Jährige. Inzwischen sind sie regelrechte Spezialisten auf dem Gebiet.
Das gibt es bisher nur in der Luftwaffe
Im Ernstfall muss die „Hochwertressource Pilot“ so schnell wie möglich wieder in einer Maschine sitzen. Nachdem er durch das „Pilot-Extraction-Team“ aus seiner Maschine geholt wurde, muss der Pilot schnellstmöglich dekontaminiert, also vom Kampfstoff befreit werden. Das ist eine von zwei Schwerpunktaufgaben, die bisher nur die Luftwaffe übt. In Shelter sechs der Antalya Air Base hat das Team von Jonas Köhrich dafür eine CCA (Contamination Control Area) errichtet. Drei Container mit über 20 Tonnen Material wurden dafür in die Türkei transportiert. Routiniert fügen sie einzelne Komponenten zur CCA-Line, einer Art ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Prüfstrecke, zusammen. „Viele der Dinge, die wir hier verwenden, sind noch relativ neu. Wir haben die Abläufe und das Material an die fortschreitende Modernisierung der ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehr angepasst“, erzählt Stabsfeldwebel Jan Brandenburg (40), der an dieser Entwicklung beteiligt war.
Wie „schäle“ ich einen Piloten aus seiner Fliegerkombi
Trifft ein Pilot, der aus seiner Maschine „befreit“ wurde, an der CCA-Line ein, wird es ernst für die Frauen und Männer aus Schortens. Im ersten Schritt legt der Pilot seine Ausrüstung ab. Dazu zählen Dinge wie Waffen oder sein „Beinschreibtisch“, also seine Checklisten. Mit einem Spürgerät wird festgestellt, ob und wo er kontaminiert ist.
Ist das geklärt, steigt er in die erste von zwei roten Auffangwannen, in der seine Schuhe mit einer Bürste dekontaminiert werden. Im nächsten Schritt „schält“ ihn das unter ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Schutz arbeitende Team Schritt für Schritt aus seinem Anzug. Es ist absolute Vorsicht geboten, da die Giftstoffe auf keinen Fall auf andere Kleidungsstücke oder den Körper verteilt werden dürfen. Auch Köhrichs Truppe muss sich nach jedem Handgriff die Hände dekontaminieren. „Trotzdem muss es schnell gehen, da der Pilot im Ernstfall so rasch wie möglich wieder in einer Maschine sitzen muss“, betont Jonas Köhrich.
Ein Atemzug kann tödlich sein
Am kritischsten Punkt, dem Abnehmen des Helms und der Maske, arbeiten alle äußerst behutsam. Ist die Maske aber einmal abgenommen, bleibt nicht viel Zeit. Mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem ist der Pilot für einen kurzen Moment ungeschützt. Würde er jetzt einatmen oder die Augen öffnen, könnte das seinen Tod bedeuten. Blitzschnell werden Helm und Maske gegen eine neue ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Schutzmaske getauscht. So gelangt der Pilot, nur noch mit Unterwäsche bekleidet, sicher bis zum COLPRO (Collective Protection), der abgedichteten tragbaren ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Sammelschutzeinrichtung. Sie besteht aus zwei Schleusen und dem Sammelschutz, dem Ende der ganzen CCA-Line. In der ersten Schleuse nimmt er die Maske ab und in der zweiten duscht er, bevor er in den Sammelschutz geht. In dem Raum, der mit Überdruck gefüllt ist, damit keine ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Stoffe eindringen können, wartet er auf seinen nächsten Einsatz.
In der Waschstraße geht es nicht zimperlich zu
Ist eine Frachtmaschine kontaminiert, muss zusätzlich zum Piloten auch die Ladung, die sogenannte Payload, dekontaminiert werden. Das ist die zweite Schwerpunktfähigkeit der Objektschützer. Als wäre die CCA-Line nicht schon genug, hat das Team von Jonas Köhrich auch noch eine CPCA (Contaminated Payload Control Area) eingerichtet. Anders als bei der Prüfstrecke für Piloten, wird hier parallel die Fracht von Kampfstoffen befreit. „Im Unterschied zur CCA-Line arbeiten wir hier nicht zimperlich, mit sehr viel Wasser und hohem Druck. Da gehen schon mal 1.200 Liter Wasser pro Stunde durch den Kärcher. Das ist wie eine Art Waschanlage. Wir nutzen Seife, Schaum, Bürste, Chemikalien und eben jede Menge Wasser“, erzählt Köhrich.
Ein schweißtreibender Job mit Überraschungen
Im Süden der Türkei sind es auch jetzt im November noch bis zu 28 Grad Celsius. Alle Übungsteilnehmer, ganz besonders die ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehr-Teams, sind während Toxic Trip 2021 extremen Belastungen ausgesetzt. Die körperliche Anstrengung beim Arbeiten unter Vollschutz ist in der sengenden Hitze gewaltig. „Wir müssen für regelmäßige Pausen sorgen und tauschen die Teams so oft es geht durch, sonst gehen mir die Leute ein“, sagt Köhrich. Neben der brütenden Sonne sorgt auch das gemeinsame Üben mit vielen unterschiedlichen Nationen für Herausforderungen und Überraschungen. So erfahren sie auch im Umgang mit Anzug und Ausrüstung deutscher Piloten sind, so kniffelig kann es für die Truppe aus Schortens werden, wenn plötzlich Piloten mit völlig anderen Helmen, Masken und Ausrüstungsgegenständen vor ihnen stehen. Dann trainieren sie, wie man diese am besten und sichersten aus ihren Anzügen „schält“.
Toxic Trip 2021 – Chance und „Bonbon“ zugleich
Genau darum geht es in Antalya. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen voneinander lernen und profitieren. Dafür werden die Übungsszenarien in allen denkbaren Varianten durchgespielt. So landen Piloten mit verschiedensten Anzügen und Ausrüstung sowie unterschiedlichen Giftstoffen kontaminiert, bei den Dekontaminationseinrichtungen der verschiedenen Nationen. Immerhin 16 Nationen lernen so ihr Material und ihre ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Verfahren für multinationale Einsätze gegenseitig kennen. „Eine multinationale Übung ist nicht immer einfach, auch was die Sprache angeht. Die Hitze macht allen zu schaffen, aber jeder ist top motiviert und arbeitet auch unter körperlicher Belastung konzentriert und zielstrebig. Trotzdem ist die Übung für uns ein ‚Bonbon‘“, sagt Oberleutnant Köhrich. „Hier können wir mal ohne den üblichen Zeitdruck trainieren und uns mit anderen internationalen Teilnehmern austauschen. Das bringt uns neue Anreize für künftige Ausbildungen. Toxic Trip ist schon ein Highlight für die ganze Truppe. Ich bin verdammt stolz auf alle. Unser Motto ‚semper communis‘, also immer gemeinsam, wird hier täglich gelebt.“