„Wir haben gezeigt: Wir können kämpfen“
„Wir haben gezeigt: Wir können kämpfen“
- Datum:
- Ort:
- Strausberg
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- 10 MIN
Afghanistan im Jahr 2010, das war eine intensive Zeit, geprägt durch viele Anschläge und häufige Gefechte. Oberstleutnant Rico Müller war damals als junger Oberleutnant Zugführer in einer Infanteriekompanie und führte seine Männer in den Einsatz, der sieben Monate dauerte. Im Interview berichtet der Fallschirmjäger über seine Erfahrungen, die ihn geprägt haben.
Herr Oberstleutnant Müller, können Sie kurz beschreiben, was Ihre Aufgabe in Afghanistan war? Was bedeutet es, Zugführer zu sein?
Oberstleutnant Müller: Ich war von Juni 2010 bis Januar 2011 in Afghanistan als Zugführer eingesetzt. Wenn man es mit dem zivilen Bereich vergleichen möchte, ist der Zugführer quasi ein Unterabteilungsleiter seiner Firma und ist für seinen Abschnitt verantwortlich. In meinem Fall waren das etwa 30 Soldaten. Zu unseren Aufträgen gehörten in der Regel Patrouillen oder Force Protection, eine Art Geleitschutz für andere Kräfte. Wir mussten auch Raumverantwortung übernehmen. Das bedeutet, dass wir außerhalb des Lagers über mehrere Tage eingesetzt waren.
Wie war die damalige Bedrohungslage?
Es gab wöchentlich sogenannte TIC (Troops in Contact), sprich Feindberührungen. Das heißt nicht, dass es immer zu einer wilden Schießerei kam, aber einmal pro Woche wurden eigene Kräfte beschossen oder mit selbstgebauten Sprengsätzen angesprengt, was dann zu Gefechten führen konnte.
Hatten Sie selbst Verluste in Ihrer Einsatzzeit?
Wir haben Oberfeldwebel Florian Pauli im Oktober 2010 durch einen Selbstmordattentäter verloren. Er war Sanitäter und viel mit unserer Kompanie unterwegs. An dem Tag, an dem er fiel, war er bei unserer Schwesterkompanie eingesetzt. In meinem Zug gab es keine Gefallenen, allerdings mussten wir schon den einen oder anderen Kameraden nach Hause schicken. Zum einen psychisch bedingt, zum anderen gab es Schicksalsschläge in der Heimat, die dazu führten, dass wir Soldaten aus persönlichen Gründen nach Hause schickten.
Wie intensiv waren die Gefechte, die Sie und Ihre Männer erlebt haben?
Das war höchst unterschiedlich. Es reichte von einem „normalen“ IEDImprovised Explosive Device (Improvised Explosive Device), also einer unkonventionellen Sprengfalle, wo lediglich ein Fahrzeug der Kolonne angesprengt wurde, bis hin zu komplexen Hinterhalten, also einer Kombination aus IEDImprovised Explosive Device und gezieltem Beschuss.
Sie standen also gewissermaßen ständig im Fadenkreuz des Gegners, kann man das so sagen?
Sobald wir das Lager verlassen haben, mussten wir damit rechnen, dass etwas passiert.
Wie geht man damit um, dass die Bedrohung so hoch ist, dass jederzeit etwas passieren kann?
Es ist schon eine gewisse Grundanspannung vorhanden. Ich denke, die Aufmerksamkeit war immer relativ hoch. Letztendlich hat meist der Gegner bestimmt, wann und wo er uns getroffen hat. Wir hatten darauf keinen direkten Einfluss. Bis es „knallt“, war man immer nur der Reagierende. Dann allerdings konnten wir die Abläufe, das Gelernte abrufen, was wir geübt hatten und mussten versuchen, die Initiative wiederzugewinnen. Glücklicherweise hatte ich damals einen gewachsenen Zug, der in dieser Gliederung bereits beinahe zwei Jahre zusammen gedient hatte.
Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht, dass sich die Soldaten schon weit vor dem Einsatz kennen und auch vorher zusammen in einer Einheit Dienst tun?
Ich finde das persönlich sehr wichtig, weil man durch die gemeinsame Zeit Stärken und Schwächen des Einzelnen kennenlernt. Deswegen konnte ich die Soldaten besser und zielgerichteter vorbereiten. Wie der Einzelne unter Stress reagiert, weiß man dadurch besser einzuschätzen und kann entsprechend agieren. Im Einsatz war der Zug ja auch wie eine Ersatzfamilie. Unter diesen extremen Bedingungen war es wichtig, dass man auch nicht-dienstliche Belange mit Kameraden besprechen konnte.
Sie waren Zugführer bei der Operation Halmazag, die erste Offensivoperation der deutschen Armee seit dem Zweiten Weltkrieg. Wie muss ich mir das vorstellen, wie geht man als Zugführer in den Tag?
Nach meiner Auffassung war das keineswegs die erste Offensivoperation deutscher Kräfte. Wir haben bereits vorher, im Kompanierahmen offensive Operationen durchgeführt. Die Führungsebene bei Halmazag war eine andere, erstmals mit allen Kräften der Task Force Kundus. Die Abläufe an sich ähnelten sich aber schon sehr. Das Ziel war, eine Ortschaft zu nehmen, die als Hotspot gegnerischer Kräfte bekannt war. Nachdem diese genommen und gesichert worden war, sollte dauerhaft ein Combat Outpost (COP, dt.: Gefechtsvorposten) errichtet werden. Zusätzlich sollte die Ortschaft auch an das Stromnetz angeschlossen werden. Die Lebensqualität der Menschen sollte verbessert werden, um den Einheimischen zu zeigen, dass sich die Zusammenarbeit mit uns lohnt. Der neu errichtete COP sollte später an lokale Sicherheitskräfte übergeben werden, die im Raum für Sicherheit sorgen.
Immer wieder Gefechte
Wir haben das Ganze nach den Grundsätzen des Angriffs durchgeführt. Wir haben zu Beginn einen einsatznahen Verfügungsraum an der Höhe 432 gewonnen. Dort sind wir abgesessen und haben dann zusammen mit afghanischen und belgischen Soldaten die Ortschaft genommen. Am ersten Tag hatten wir erstaunlicherweise wenig Widerstand. Wir haben uns in unserem Angriffsziel zur Verteidigung eingerichtet und in den kommenden Tagen gab es immer wieder Gefechte. Da offenbar auch der Gegner überrascht war, dass wir, anders als bisher, nicht gleich wieder ausgewichen sind und mit Patrouillen den Raum gesichert haben. Der Feind wollte uns durch mehrfache, tägliche Angriffe aus dem Dorf wieder rausdrücken – was ihm aber nicht gelang.
War die Operation erfolgreich?
Die Operation dauerte rund fünf Tage und war aus meiner Sicht ein Erfolg. Wir haben den Außenposten errichten können und die Ortschaft wurde schließlich ans Stromnetz angeschlossen, wenn ich mich richtig erinnere.
Fühlte man sich da als Sieger nach einer erfolgreichen Operation?
Der Erfolg war auf jeden Fall gut für die Motivation – von allen. Weil bislang war es halt wie eben beschrieben: Wir gehen irgendwo rein und verschwinden dann relativ schnell wieder. Das war jetzt definitiv anders. Wir sind geblieben und haben uns im Kampf behauptet. Also war dieser Erfolg schon extrem gut für das eigene Selbstbewusstsein.
Auf was kommt es Ihrer Meinung nach an, um im Kampf bestehen zu können? Welche Eigenschaften sind besonders wichtig?
Man muss vorbereitet sein und sollte sich Abläufe, eine gewisse Routine angeeignet haben, um in Stresssituationen nicht überrascht zu werden. Mit den verfestigten Routinen ist es dann wahrscheinlicher, dass man erfolgreich funktioniert. Ich konnte mich auf meine Soldaten verlassen. Für mich als militärischer Führer war auch wichtig, dass ich Vertrauen in meine Männer und ihre Fähigkeiten hatte und auch davon überzeugt war, dass man sich auf die eigenen Soldaten verlassen kann. Diesen Eindruck hatte ich bei meinem Zug. Wir waren gut ausgebildet, bestens vorbereitet und konnten deshalb auch extreme Situationen gut überstehen. Natürlich lässt einen als Zugführer auch eine gewisse Sorge nicht los, denn ich wollte ja möglichst alle gesund wieder nach Hause bringen.
Kulturschock bei 40 Grad
Davon abgesehen gilt für jeden Soldaten, er muss körperlich und geistig robust sein. Afghanischer Sommer bedeutet: 40 Grad im Schatten, 30 Kilogramm Ausrüstung – da wird jedem bewusst, warum Fitness so elementar wichtig ist. Natürlich haben auch wir am Anfang gemerkt, dass wir uns erst akklimatisieren und an die äußeren Umstände anpassen mussten. Außerdem: Wer noch nie in Afghanistan war, der muss sich erst an dieses total andere Umfeld gewöhnen. Das ist teilweise ein regelrechter Kulturschock für einen Mitteleuropäer. Das hat mich schon gefordert. Die Lebensumstände dort führen dazu, so war es zumindest bei mir, dass man merkt, wie gut wir es doch bei uns in Deutschland haben. Das ist für den einen oder anderen schon eine Form der Belastung.
Wie haben Sie es geschafft, vom „Kämpfer/Krieger“ wieder in den Dienstalltag zurückzufinden?
Ich persönlich sehe mich nicht als Krieger oder Kämpfer, sondern als Soldat. Sicherlich ist das eine ganze andere Ebene als in Deutschland. Das lag aber vor allem an dem komplett anderen Auftrag, den es in Afghanistan zu erfüllen galt.
Ich muss sagen, ich hatte wenig Probleme, den Schalter wieder umzulegen. Die dort gemachten Erfahrungen konnte ich in Deutschland nutzen. Als wir zurückkamen, war erst einmal Nachbereitung, also Dienst mit niedriger Intensität angesagt. So konnten die Soldaten auch wieder runterkommen. Nach kurzer Erholungs- und Nachbereitungsphase ging das militärische Leben halt weiter. Ich selbst habe kurz danach meinen Zug übergeben und eine Kompanie übernommen.
Wie haben Sie sich persönlich auf diese Mission vorbereitet? Sie wussten, es ist lebensgefährlich, es gab schon Gefallene, es herrschen kriegsähnliche Zustände, dort wo Sie mit Ihren Soldatinnen und Soldaten hingehen.
Ich fange mal mit dem Privaten an – ich habe viel mit meiner Familie gesprochen. Natürlich auch über die Meldungen in den Nachrichten und dass es gefährlich sein könnte. Ich versuchte, jedoch die Sorgen zu zerstreuen. Hinzu kam der ganze Papierkram mit Testament usw., womit man sich sonst sicherlich nicht befasst hätte. Letztendlich habe ich versucht, so viele Informationen wie möglich über Afghanistan und die Lage vor Ort zu sammeln.
Ich war vom Karfreitagsgefecht nur indirekt betroffen, weil ich den Zug, der die drei Gefallenen und die vielen Verwundeten hatte, mit meinem Zug abgelöst habe. Das wusste ich allerdings zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Militärisch gab es die klassische Einsatzvorausbildung. Dazu gehörten zahlreiche Übungsplatzaufenthalte, diverse Übungszentren sowie die standortgebundene Ausbildung in Seedorf, die wir alle durchlaufen mussten. Dort wurden wir unter anderem mit herausfordernden, hochkomplexen Lagen konfrontiert, um halt unterschiedliche Worst-Case-Szenarien durchgeübt zu haben und vorbereitet zu sein, auf das was in Afghanistan auf uns zukommen könnte.
Waren Sie gut vorbereitet für diesen Einsatz?
Absolut. Wir hatten damals den Vorteil, dass beide Bataillone, das Fallschirmjägerbataillon 313 und 373, an einem Standort waren und wir somit frühzeitig Informationen über gegnerische Taktiken und die Lage in Afghanistan hatten. Diese Erkenntnisse aus Afghanistan flossen bereits in die Einsatzvorbereitung meines Zuges mit ein. Zudem waren viele Soldaten beider Bataillone schon einsatzerfahren und verfügten somit über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz aus vorherigen Einsätzen.
Wie hat sich die Zeit in Afghanistan auf Sie und Ihr Selbstverständnis als Soldat ausgewirkt? Ist es jetzt mehr geprägt von Begriffen wie Kämpfer, Robustheit, Führungsstärke, ja vielleicht auch eine Art Krieger?
Die Zeit in Afghanistan hat mir auf jeden Fall gezeigt, wie gut wir es hier in Deutschland haben und vor allem, was im Leben wirklich wichtig ist. Ich denke, ich bin gelassener geworden, gerade was Alltagsprobleme angeht.
Zum Beruflichen: Wir konnten tatsächlich zeigen, was wir können. Der Maurer will ja auch zeigen, dass er ein Haus bauen kann – und dem Soldaten geht es genauso. Er will zeigen, dass er sein Handwerkszeug beherrscht und kämpfen kann. Das haben wir bewiesen und wir müssen uns auch nicht verstecken. Der Einsatz hat also dazu beigetragen, unser soldatisches Selbstbewusstsein zu stärken. Aber nochmal: Ich sehe mich jetzt nicht als Krieger oder besserer Soldat, nur weil ich schon im Einsatz war. Das war der Auftrag, wir mussten auch in Gefechtssituationen bestehen. Den Auftrag haben wir erfüllt und das ist es dann auch.
Ich persönlich sehne mich nicht in den Einsatz zurück. Ich habe natürlich noch Verbindung zu dem einen oder anderen Kameraden von damals. Sollten meine zukünftigen Verwendungen weitere Auslandseinsätze erfordern, werde ich diesen Auftrag erfüllen. Aber mit zunehmender persönlicher Reife, den gemachten Erfahrungen und meiner jetzigen Situation muss ich nicht mehr als Erster „Hier!“ rufen. Nach Afghanistan muss ich jetzt nicht zwingend wieder, weil es schon Erfahrungen gibt, die ich jetzt so nicht noch einmal machen muss und weil es enttäuschend ist, wie sich die Lage dort seit damals entwickelt hat.
Sie sind jetzt an der Offizierschule des Heeres. Geben Sie Ihre Erfahrungen aus Afghanistan an den Offiziernachwuchs weiter?
Schwierig, denn die Offizierschule hier in Dresden ist ja eher theorielastig. Wir bilden hier auf der Ebene verstärktes Kampftruppenbataillon aus und ich war damals als Zugführer eingesetzt. Hier ist der Schwerpunkt die Taktik eines gepanzerten Kampftruppenbataillons, damals war es der Kampf/die Kampfweise eines Infanteriezuges. Deshalb ist beides auch nur sehr schwer miteinander zu vergleichen, obwohl es durchaus Anknüpfungspunkte gibt.
Wenn es sich anbietet, erzähle ich natürlich das eine oder andere Erlebnis aus der Zeit damals. Ich gebe den jungen Soldaten mit, dass sie immer daran denken sollen, dass sie, was immer sie planen, von Soldaten unter ihrem Kommando umgesetzt werden muss. Daher sollten sie ihre Entschlüsse und Aufträge einfach halten und klar formulieren. Denn meine Erfahrungen haben mir gezeigt, dass im Gefecht nur das Einfache Erfolg verspricht. Und an den Entschlüssen beziehungsweise Entscheidungen des militärischen Führers hängen dann möglicherweise auch Menschenleben. Dieser Verantwortung muss sich der militärische Führer immer bewusst sein.