Veteranen brauchen eine Identität
Veteranen brauchen eine Identität
- Ort:
- Niedersachsen
- Lesedauer:
- 7 MIN
Der ehemalige Hauptfeldwebel Robert Müller setzt sich unermüdlich für die Belange von Einsatzgeschädigten ein. Er selbst hat in vier Auslandseinsätzen körperlich und seelisch schwere Wunden davongetragen. Major Marco Heß hat ihn interviewt.
Herr Müller, Sie waren im Kosovo und in Afghanistan im Einsatz. Infolge der Erlebnisse in den Einsätzen erkrankten Sie an PTBSPosttraumatische Belastungsstörung. Welche Erlebnisse haben zu Ihrer Erkrankung geführt?
Robert Müller: In beiden Einsätzen war ich jeweils im Vorauskommando. Im Kosovo erlebte ich – erst knapp 21 Jahre alt – einen Krieg mit vielen Toten und Verstümmelten. Wir bewegten uns in lebensgefährlichen Situationen. Ich verlief mich in einem Minenfeld. Kameraden traten auf Minen und verloren Gliedmaßen. Hausdurchsuchungen, Geiselbefreiungen, Waffenfunde, Razzien, Jagd auf Kriegsverbrecher – die ganze Palette der Gewalt. Das führte irgendwann dazu, dass ich schlecht schlief.
In Afghanistan, im Jahr 2002, explodierte eine Rakete, die wir gerade entschärfen sollten. Fünf Kameraden – drei Dänen und zwei Deutsche – kamen dabei ums Leben. Die anderen und ich überlebten mit sehr viel Glück. Neben Splitter- und Brandverletzungen am Arm und am Rücken verlor ich Zähne, und der Knall zerriss meine Trommelfelle. Ich wurde mit dem MedEvacMedical Evacuation ausgeflogen, in Deutschland operiert und wiederhergestellt. Seitdem habe ich künstliche Trommelfelle, bin schwerhörig und leide an einem lauten und dauerhaften Tinnitus.
Hinzu kam eine PTBSPosttraumatische Belastungsstörung, die relativ früh diagnostiziert wurde. Sie war aber für mich gar nicht so greifbar oder nicht so ausgeprägt. Das kam erst viele Jahre später. Ich war untherapiert 2003 und 2005 nochmals in Afghanistan, 2005 auch noch im Kampfeinsatz, und packte da sozusagen noch mal ein ordentliches Paket Trauma drauf. Ich war beim Bergen der Opfer eines Flugzeugabsturzes im Hindukusch dabei, der 103 Tote forderte. Und wir fanden Sprengfallen, hatten also wieder mit Sprengstoff zu tun. Das führte zu einer sogenannten Retraumatisierung.
Im August 2021 haben Sie die Bundeswehr verlassen, obwohl Sie bereits zum Berufssoldaten ernannt worden waren. Wie kam es zu diesem Schritt?
Das war ein schleichender Prozess, in dem ich merkte, dass ich als Einsatzgeschädigter von Anfang an um meine Versorgung kämpfen musste. Denn wir hatten 2002, als ich verwundet wurde, noch gar kein Einsatzversorgungsgesetz. Das trat erst Ende 2007 in Kraft und galt nur für Personen, die nach dem 1. Dezember 2002 verwundet wurden und zu mindestens 50 Prozent erwerbsunfähig geworden waren. Ich war zu früh „explodiert“, hatte nicht den richtigen Grad der Behinderung und fiel aus diesem Schema raus. Das bedeutete sehr viel politische Arbeit für mich. Ich habe meiner Erkrankung, der PTBSPosttraumatische Belastungsstörung, ein Gesicht gegeben. Wenn man meinen Namen googelt, dann findet man sehr viele Artikel, Videos und Interviews. Die im Soldatengesetz festgelegte Pflicht zur Fürsorge hat für mich einen hohen Stellenwert. Diese Fürsorge habe ich meiner Ansicht nach nicht bekommen.
Ich wurde aufgrund des Weiterverpflichtungsgesetzes wiedereingestellt. Dieses Gesetz ist nur durch Initiative der Einsatzgeschädigten zustande gekommen, nicht durch die Politik, nicht durch das Verteidigungsministerium! Allein die Einsatzgeschädigten haben dafür gesorgt, indem sie laut protestiert und in vielen Interviews und Büchern darauf aufmerksam gemacht haben.
Die Invictus Games oder der Lehrgang Sporttherapie nach Einsatzschädigung, das sind alles Maßnahmen der jüngeren Zeit. Auch den PTBSPosttraumatische Belastungsstörung-Beauftragten gibt es erst seit 2010. Bis dahin stellte man uns einfach auf ein Abstellgleis, so fühlte ich mich viele Jahre. Bis 2021 musste ich um die Anerkennung meiner Wehrdienstbeschädigung kämpfen. Und das verändert einen Menschen. Ich war Soldat, immer treu gedient, immer Fallschirmjäger im Herzen. Ich habe mein Leben riskiert und meine Gesundheit verloren. Irgendwann stellte ich mir die Frage, ob mir diese Loyalität zurückgegeben wird.
Dann fasste ich den Entschluss: „Ich möchte kein Soldat mehr sein. Ich bin zu oft nicht ernst genommen worden in meiner Versorgung. Jetzt will ich Friedenstauben züchten und Frieden schaffen ohne Waffen.“ Das stand auf einmal bei mir im Kopf. Ich klebte eine riesige Friedenstaube auf die Heckscheibe meines Autos und fuhr damit zur Führungsakademie der Bundeswehr, weil ich einfach nur noch provozieren wollte. Ich wollte das Gespräch mit den Offizieren, mit den Vorgesetzten erzwingen. Ich wollte, dass die gucken und sich fragen: „Warum klebt der sich jetzt eine Friedenstaube ans Auto?“ Doch niemand hat die Taube wahrgenommen, niemand hat mich wahrgenommen. So fühlte es sich für mich an.
Ich hatte eine moralische Verwundung. Das ist eine relativ neue Diagnose, die erstmals in den USA so bezeichnet wurde. Ich habe meine Orden aus ISAFInternational Security Assistance Force und KFORKosovo Force in der Sahara eingegraben. Ich musste damit irgendwie abschließen, sonst komme ich von diesem ganzen Thema nicht weg. Ich will ja gesund werden. Das kann ich aber nicht dort, wo ich krank geworden bin. Jemand, der Grippe hat, kann nicht in einem Raum gesund werden, in dem nur Menschen mit Grippe sind. Das Fenster muss geöffnet werden und man muss diesen Raum verlassen. Und so war das auch für mich. Ich konnte nur gesund werden, wenn ich rausging. Deshalb habe ich die Bundeswehr verlassen. Dass ich nicht völlig gesund werden kann, weiß ich. Aber ich wollte gesünder werden. Ich wollte ein Stück weit der PTBSPosttraumatische Belastungsstörung entgegentreten.
Sie sind Autor des Buches „Soldatenglück“, mehrfach im Fernsehen aufgetreten und aktiv im Veteranenverein. Worin liegt Ihre Motivation, das Thema Veteranen und Versehrte in der Öffentlichkeit so sichtbar zu machen?
Ich habe lange als Lotse an der Führungsakademie gearbeitet und dort sehr viele Kameraden kennengelernt, die Hilfe brauchten. Diese Hilfe brauchen sie oft auch nach Dienst, spätabends oder am Wochenende. Ein KSKKommando Spezialkräfte-Soldat kam zu mir und sagte: „Robert, ich bin obdachlos. Ich lebe im Wald. Ich kriege mein Leben nicht mehr auf die Reihe.“ Er sagte, er habe im Einsatz mehrfach getötet und brauche Hilfe.
So merkte ich: Wir müssen darauf aufmerksam machen. Auch ich selbst brauche diese Aufmerksamkeit. Ich wurde nicht wahrgenommen, wurde von meiner Familie völlig missverstanden. Dadurch gab es immer wieder Stress. Ich bin zweimal geschieden, weil ich meine Erkrankung nicht mit meiner Umwelt in Einklang bringen konnte. Das hat in der Ehe eine große Rolle gespielt. So ging es vielen Kameraden. Die einzige Chance, als geschädigter Einsatzveteran wahrgenommen und akzeptiert zu werden, ist es, das Thema öffentlich machen. Darüber zu reden und authentisch zu sein, ist entscheidend. Nur wenn man selbst seine Geschichte erzählt, erfährt man Verständnis und Anerkennung in der Gesellschaft. Und das haben wir gemacht.
Veteranen brauchen eine Identität. Wir haben bis heute kein wirklich tragfähiges Veteranenkonzept. Das hatte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière uns 2012 sehr medienwirksam versprochen. Wir haben nach wie vor kein Einsatzveteranenkonzept. Wir haben keine eigene Identität.
Eine Studie von 2013 besagt, dass sich in den USA täglich 22 Veteranen das Leben nahmen. Daraufhin starteten Hollywoodstars und andere Prominente die „22 Pushup Challenge“. Sie machten medienwirksam täglich 22 Liegestütze und warben um Nachahmung, um auf das Schicksal der Veteranen aufmerksam zu machen. Auf einem PTBSPosttraumatische Belastungsstörung-Kongress stellte ich daraufhin die Frage: „Und wie viele Liegestütze machen wir in Deutschland?“ Wir wissen es nicht! Wir wissen nicht, wie viele Einsatzveteranen in Deutschland sich heute aufgrund ihrer Einsatzerkrankung das Leben nehmen.
Andere Studien besagen, dass zwölf Prozent aller Inhaftierten in England Veteranen aus dem Afghanistan- oder Irakkrieg sind. Gibt es in Deutschland Untersuchungen, wie viele Häftlinge zuvor als Soldat im Einsatz waren, wie viele Veteranen einfach abgedriftet und auf die schiefe Bahn gekommen sind? Wir wissen auch nicht, wie viele Veteranen heute obdachlos sind.
Wir brauchen endlich ein Veteranenkonzept, das seinem Namen gerecht wird. Und das können wir nur bekommen, wenn wir den politischen Druck erhöhen und uns öffentlich als Veteranen zeigen.
Welche Projekte haben Sie sich für die Zukunft vorgenommen? Woran arbeiten Sie derzeit?
Aktuell bin ich Schulbegleiter, ein sogenannter „Sandkastenkrieger“. Ich begleite einen autistischen Jungen an einer Realschule. Ich habe noch nie mit einem Autisten zu tun gehabt. Das fühlt sich so an wie bei „Ziemlich beste Freunde“. Wir lachen viel, knallen aber auch mal aneinander. Soziale Arbeit macht mir sehr viel Spaß.
Aber für mich steht auch der Sport im Vordergrund. Ich bin gerade den Marathon des Sables, einen der härtesten Läufe der Welt, bis ins Ziel gelaufen. Und 2024 möchte ich den Zeitrekord für einen Lauf von Süddeutschland nach Norddeutschland einstellen.
Bereuen Sie Ihre Zeit als Soldat?
Wenn man bei mir zu Hause meine „Hab-mich-lieb-Ecke“ anguckt, sind fast alle Orden da – außer denen, die im Saharasand vergraben sind. Alle Coins sind da, mein Barett und die vielen anderen Erinnerungsstücke, die ich stolz aufbewahre. Ich bereue die Zeit nicht.