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Sport ist die beste Medizin

Sport ist die beste Medizin

Ort:
Pfungstadt
Lesedauer:
8 MIN

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Beim Tritt auf eine Mine während eines Patrouillengangs im Kosovo 1999 wurde dem damaligen Stabsunteroffizier Jens Ruths der linke Unterschenkel abgerissen. Heute ist er Stabsfeldwebel und Truppenversorgungsbearbeiter (TVB) der Sanitätseinheit im hessischen Pfungstadt. Major Marco Heß sprach mit ihm.

Ein Mann in kurzer Sportkleidung arbeitet angestrengt auf einem Rudergerät.eldorf

Stabsfeldwebel Jens Ruths nahm bei den Invictus Games 2023 am Indoor-Rudern teil

Bundeswehr/Helmut von Scheven

Stabsfeldwebel Jens Ruths begrüßt uns am Eingang seines Kompaniegebäudes. Ein typischer Heeressoldat, Mitte 40, gepflegter Bart, bordeauxrotes Barett und sportliche Figur. Erst beim Gang die Stufen hinauf fällt auf, dass seine Bewegungen etwas steif wirken.
In seinem Büro trägt eine Schaufensterpuppe seine damalige Unform. „Die Hose ist eine andere. Von der anderen war nicht mehr viel übrig“, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen. Er präsentiert zwei große Kisten, in denen er unzählige Bilder vom Einsatz, Ausschnitte und Titelseiten von Zeitungen, aber auch den umfangreichen Schriftverkehr mit Ärzten, Vorgesetzten und dem Verwaltungsapparat der Bundeswehr gesammelt hat. Es ist die Dokumentation der Geschichte seiner Verwundung und ein gewichtiger Teil seines Lebens bei der Bundeswehr.

Herr Stabsfeldwebel Ruths, Sie haben 1999 Ihren linken Unterschenkel im Kosovo-Einsatz verloren. Wie ist das passiert?

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Eine Patrouille im albanischen Grenzgebiet wurde für zwei Soldaten zur Katastrophe. Zuerst verlor der Zugführer in einem Minenfeld einen Unterschenkel. Jens Ruths versorgte ihn, und einen Moment später passierte ihm genau dasselbe.

Stabsfeldwebel Ruths: Bei einer Patrouille sollten wir eine Gedenkstätte überprüfen und uns einen Eindruck von der Lage im albanischen Grenzgebiet verschaffen. Wir wussten damals, dass die Lage unsicher ist und es auch kritisch werden kann. Deswegen hatte man für uns auch einen Hubschrauber reserviert, falls ein Ernstfall eintreten sollte. 
Wir sind damals so hoch wie möglich mit den Fahrzeugen gefahren. Dann ging es zu Fuß nochmal 700 Höhenmeter bergauf. Wir haben dort die Gedenkstätte begutachtet und sind dann bergab einen Pfad heruntergekommen. Unten sollten wir noch eine Höhle inspizieren, da dort ein Waffenversteck vermutet wurde. Auf diesem Pfad sind wir dann in ein Minenfeld hineingelaufen. Das hatten wir auch erkannt, da waren eine, zwei, drei Sprungminen. Die hatten wir gesehen und der Brigade gemeldet. Absicht war es, diese Minen durch eine Sprengung zu entschärfen.
Mein Zugführer ist dann nochmal mit einem Verbindungsoffizier runter zu einer demontierten Mine, die er für das Minenmuseum Aachen fotografieren wollte, und ist dabei auf eine unerkannte Mine draufgetreten. Die Mine ist detoniert. Er ist dann einfach umgefallen. Dann ging die Rettung los. Ich war damals als ranghöchster Pionier vor Ort und bin mit dem Arzt da runter. Meinen Zugführer haben wir entsprechend versorgt. Ihm war der linke Unterschenkel durch die Mine abgerissen worden.
Parallel zu den Erste-Hilfe-Maßnahmen forderten wir den für uns reservierten Helikopter an. Der kam auch, hatte aber leider kein Rettungsgeschirr dabei. Sprich: Wir konnten keine Höhenrettung machen, sondern mussten den Hubschrauber irgendwo landen lassen und den Kameraden da rausholen. Wir wollten ihn mit dem Bergetuch abtransportieren und mit vier Mann den Pfad runtertragen. Ich bin dann – ich vermute das – beim dritten, vierten Schritt in die Grünfläche reingekommen und selbst auch noch auf eine bis dahin unerkannte Mine getreten. Dabei habe ich meinen linken Unterschenkel verloren und multiple Einsprengungen im gesamten Körper erlitten.

Das Einsatzweiterverwendungsgesetz wurde erst zehn Jahre nach Ihrem Unfall verabschiedet. Verwundung und Einsatz waren bis zum Afghanistan-Krieg kaum in der Öffentlichkeit präsent. Welche Erfahrung konnten Sie persönlich mit der Versorgung von Versehrten machen?

Ein Mann liegt in einem Krankenhausbett, daneben stehen ein Flottenarzt und ein Generalleutnant.

Hoher Besuch am Krankenbett von Jens Ruths

privat

Zur Zeit meines Unfalls 1999 gab es noch überhaupt kein Gesetz. Man hat mir damals ganz klar gesagt: Ein Soldat mit 50 Prozent Schwerbehinderung ist zunächst einmal zu entlassen. Das war damals einfach so. Also für mich waren das quasi zehn Jahre Kampf, um in der Bundeswehr zu bleiben. Obwohl der Unfall in Uniform passierte, wollte man mich immer wieder rausschieben und mich so ein bisschen in die Angestellten- oder Beamtenlaufbahn reindrängen.
Es hat viel Mühe und Kraft gekostet – nicht nur meinerseits, auch durch andere Kameraden – zu bewirken, dass dieses Weiterverwendungsgesetz 2009 in Kraft treten konnte. Ich bin tatsächlich drei Monate, bevor es verabschiedet wurde, aufgrund dieses Gesetzes zum Berufssoldaten ernannt worden.
Bei diesem langen Kampf wurde ich damals sehr durch meinen Vater unterstützt, der selbst schon aufgrund eines Betriebsunfalls Frührentner war. Er hat das mit seinem Sohn nicht so ganz verkraftet. Im Nachhinein sage ich, dass er dadurch so ein bisschen PTBSPosttraumatische Belastungsstörung bekommen hat. Mein Vater hat sich vor mich gestellt wie ein Bär und für mich die Hebel in Bewegung gesetzt. Denn man hatte mir immer schon gesagt: „Herr Stabsunteroffizier, Sie sind dem Dienstherrn verpflichtet. Denken Sie daran, was Sie sagen.“ Das wirkt auf einen jungen Kameraden schon etwas einschüchternd. Bei meinem Vater war das halt anders. Mein Vater war das auch komplett egal, ob da der Inspekteur gesessen hat oder sonst ein General. Für ihn war zum Beispiel der General Müller eben der Herr Müller. Der Dienstgrad spielte einfach keine Rolle. Er war auch in Wortwahl und Ton dementsprechend freier.
Das hat viel Gegendruck erzeugt, aber es gelang meinem Vater auch, bis in den politischen Raum hinein Gehör zu finden. Ein Beispiel dafür war der Bundesabgeordnete Walther Hoffmann, der extrem viel mitgearbeitet hat. Dann kamen Abgeordnete aus dem Verteidigungsausschuss. So ist Stückchen für Stückchen das Rad in Bewegung gekommen. 1999 war eben noch gar nichts geklärt und wir mussten uns das alles hart erkämpfen.

I am the master of my fate.”

Sie teilen Ihren Tag zwischen Ihrer dienstlichen Tätigkeit und Sport auf. Welche Bedeutung hat der Sport in Ihrem Leben?

Es ist grundsätzlich so: Ich bin quasi von morgens bis mittags in der Dienststelle, um meinen logistischen Auftrag zu erfüllen. Danach habe ich den großen Vorteil, dass ich ins Homeoffice gehen und dort meinem Sport nachgehen kann. Meine sportliche Betätigung ist für mich sehr wichtig. Dadurch, dass mir eine Gliedmaße fehlt, ist mein Körper, auch mit der Prothese, unausgeglichen. Durch Sport kann ich das zumindest etwas ausgleichen. Es wird immer ein Problem sein, wenn man eine Prothese hat, weil diese Fehlbelastung in den Rücken reingeht und zu Schmerzen führt. Dem kann man mit Sport zum größten Teil entgegenwirken. Und soweit hilft mir der Sport.
Wie bin ich zum Sport gekommen? Früher als Fallschirmjäger, oder genauer als Luftlandepionier, war ich sportlich aufgrund des Dienstes. Der Unfall hat mich da natürlich um einiges zurückgeworfen. Leider Gottes hatte ich zunächst eine falsche Prothesenversorgung. 2017, also eine lange Zeit nach meiner Verwundung, bin ich in Warendorf vorstellig geworden, weil ich einfach keine Physiotherapie mehr bekam und man sagte, du brauchst keine mehr, du bist austherapiert.
In Warendorf sprach damals der Oberstarzt von einer Nachamputation – sprich die Wegnahme bis auf Kniehöhe – und da sagte ich dann: „Also nee, Leute, dann bleibt das so, wie es ist.“ Ich konnte damals nur 500 Meter gehen und das war‘s. Also bin ich dann immer mehr zur „Couch-Potato“ geworden und habe mehr als ein paar Kilo zugenommen.
2017 ist nochmal eine neue Prothesenversorgung angelaufen. Ich habe dann wieder Spaß am Sport gefunden und dadurch hat sich das eine oder andere ergeben. Schließlich wurde ich für die Invictus Games 2018 nominiert und durfte als Teilnehmer starten. Da hat man dann immer mehr Hunger nach Sport und will eben auch herausfinden, was geht.
Grundsätzlich könnte ich mehr Dienst als TVB machen. Aber ich sage ganz klar: Aufgrund meiner Einsatzschädigung brauche ich den Sport. Ich habe vor 2017 keinen Sport und dafür mehr Dienst gemacht. Das ist aber genau falsch, da ich deutlich häufiger krankgeschrieben war. Ich war einfach nicht dienstfähig. Ich hatte immer wieder starke Schmerzen im Rücken und musste daher Medikamente nehmen.
Mit dem Fuß hatte ich auch immer wieder Probleme. Mit der Gewichtszunahme passte die Prothese nicht mehr, das hat meine Probleme weiter verschlimmert. Ich war tatsächlich mehr krank als im Dienst. Mit dem Sport habe ich es hinbekommen, dass ich wieder permanent im Dienst sein kann. Auch wenn das „nur“ die Hälfte oder drei Viertel meiner Dienstzeit ist und ich die restliche Zeit Sport treibe und zur Physiotherapie gehe. Zumindest kann ich nun aber wieder kontinuierlich am Dienst teilnehmen.

Sie haben auch 2023 an den Invictus Games in Düsseldorf teilgenommen. Welche Bedeutung haben diese Sportspiele für Sie?

Ein Soldat betrachtet eine Sammlung von Fotos und Zeitungsartikeln.

Das Schicksal von Jens Ruths ging seinerzeit bundesweit durch die Presse

Bundeswehr/Melanie Schreiber

Also ich bin da so ein bisschen reingerutscht. Die Invictus Games sind 2014 auf Initiative von Prinz Harry entstanden. Er hat viele Erfahrungen mit Gefallenen gemacht. Als er Afghanistan verließ, saß er mit Einsatzgeschädigten in einem Flugzeug. Ihre Schicksale machten ihn betroffen. Dann kam ihm die Idee, zunächst zu den World Warriors Games zu gehen und dann sein eigenes Event, die Invictus Games, zu entwickeln.
Für mich ist der Hauptantrieb für die Teilnahme der Gedanke, dass ich meiner Familie etwas zurückgeben kann. Meine Frau sagt zwar normalerweise immer: „Du bist ein richtiger Gefühlsknochen. Gefühle wie ein Eisklotz.“ Man ist jetzt durch den Unfall natürlich ein bisschen abgestumpft. Aber wenn man zu diesen Spielen geht, dieses Flair mitnimmt, die anderen Nationen, die anderen Kameraden sieht, die durchaus viel schlimmer verletzt sind als ich, dann berührt einen das schon sehr.
Ich habe zum Beispiel einen Kameraden kennengelernt, dem waren beide Beine und ein Arm abgenommen worden. Der war bei den Invictus Games als Schwimmer am Start. Der hat ganz klar gesagt: „Ich bin bei 50 Metern noch nie drüben angekommen. Aber da reinspringen und vom Publikum so getragen und bejubelt zu werden, das bringt mir so viel.“ Da bekommt man eine Gänsehaut. Das ist es, was die Spiele ausmacht. Es geht gar nicht darum, eine Bestleistung zu erbringen. Es ist einfach nur, um der Familie zu zeigen: Danke, dass ihr mich da hingebracht habt. Danke, dass ich diesen Sport machen darf. Danke, dass ihr hinter mir steht. Denn meine Familie und insbesondere meine Frau standen und stehen mir jederzeit und unermüdlich bei. Das sind für mich die Spiele. Nicht irgendwelche Medaillen.
Das deutsche Team geht auch gar nicht mit dem Anspruch hin, eine Medaille zu gewinnen. Ich glaube, wir haben da in Deutschland einen anderen Anspruch. Bei uns geht es mehr um den Reha-Gedanken. Ich kann diesen Sport ausführen, und weil ich so weit gekommen bin, darf ich an diesen Spielen teilnehmen. Das ist für mich der Schwerpunkt der Invictus Games.

Dankbarkeit ist ein zentraler Begriff. Fehlt Ihnen die Dankbarkeit von Seiten der Bundeswehr für das, was Sie gegeben haben?

Ich war damals ein junger Stabsunteroffizier, rannte in diese Gefahrenzone hinein, um einen Kameraden herauszuholen, um meine kameradschaftliche Pflicht zu erfüllen. Ich habe dafür die Dankbarkeit meines Zugführers bekommen. Ich habe auch von meinem anderen Kameraden die Dankbarkeit erfahren, aber nie von Seiten meines Landes oder der Bundeswehr.

von Marco Heß

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