Heer
Zu jung in den Einsatz

„Ich war zu jung“

„Ich war zu jung“

Ort:
Strausberg
Lesedauer:
8 MIN

Oberstabsgefreiter Patrick Popiolek (37) war als Panzergrenadier in Afghanistan und im Kosovo. Als Folge dieser Auslandseinsätze leidet er an einem Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBSPosttraumatische Belastungsstörung). Sein größter Kummer ist, dass er nie mit seiner Tochter zum Jahrmarkt gehen kann – seine Krankheit erlaubt es ihm nicht, sich in Menschenmengen aufzuhalten.

Ein Soldat mit Kopfhörern steht in einem gepanzerten Fahrzeugturm, aus dem ein Maschinengewehr ragt.

Als Richtschütze und als Kraftfahrer war Patrick Popiolek im Einsatz

privat

Zum 1. Oktober 2006 kam ich als Wehrpflichtiger zum Bund, weil ich die Erfahrung machen wollte. Sehr früh bewarb ich mich als Freiwillig Wehrdienstleistender (FWDLFreiwillig Wehrdienstleistende) für 23 Monate. Nach der Grundausbildung, im Januar 2007, ging es schon in die Planung und Vorausbildung für den Einsatz. Ich setzte mich damit auseinander, sprach mit der Familie. Es gab Pro und Kontra in den Medien; ich wollte mir meine eigene Meinung bilden. Wir sollten uns vorbereiten und ein Testament schreiben. Ich akzeptierte die möglichen Gefahren und verpflichtete mich für vier Jahre, weil es ungern gesehen war, dass man als FWDLFreiwillig Wehrdienstleistende in den Einsatz ging.
Meiner Meinung nach sollte man keinen unter 25 in den Einsatz schicken. Mit 21 war ich noch zu jung, und ich ging mit den falschen Erwartungen hin. Ich hatte die Filme gesehen, die damals herauskamen: Man geht hin, alles läuft gut, und nach ein paar Tagen ist man wieder hier. Ich habe meinen Geburtstag, Weihnachten, Silvester und beinahe Ostern dort verbracht. Das Einzige, was ich groß gefeiert habe, war der Flieger nach Hause. Trotzdem bereue ich es nicht, dass ich den Einsatz mitgemacht habe.

Große Kontraste zwischen den Einsätzen

Ein Bundeswehrsoldat in Wüstentarnuniform mit Waffe steht vor einem Radfahrzeug Dingo im Sand.

Mit den Fahrzeugen unterwegs, dauernd in Gefahr: Das war der Alltag im Afghanistan-Einsatz

privat

Im Afghanistan-Einsatz war ich in der Schutzkompanie eingesetzt, als Richtschütze und Kraftfahrer auf Fuchs und Dingo. Alarm, Feindangriffe auf das Lager, Ansprengungen, Airfield-Absicherung – da war man dauernd „unter Feuer“. Im Kosovo war ich von Januar bis August 2009, das war recht lang. Dort war ich im AV-Zug eingesetzt. Da war das so: „Fahrt Patrouille, macht Gesprächsaufklärung, aber denkt dran: Nicht schneller als 60 fahren, die Feldjäger blitzen wieder.“ Im Kosovo war alles ein bisschen Low Level, da haben sie 2009 angefangen, mal einen Tag in Zivil rauszugehen oder mal was Alkoholfreies trinken zu gehen.
Für mich war Kosovo auch herausfordernd, von den Aufträgen her. Aber als Einsatz? Da war für mich immer die Frage: Wann geht es wieder zurück nach Afghanistan für mich? War Kosovo nur Vorbereitung, um wieder nach Afghanistan zu gehen? Ganz einfach, um zu sehen: Da ist Einsatz, da soll man kämpfen, da macht der Soldat Sinn? Ich habe den Kosovo-Einsatz nur genutzt, um wieder runterzukommen.

In der Heimat kam der Kulturschock

Im Einsatz habe ich die Tragweite der Geschehnisse noch gar nicht verstanden. Das Schlimmste war, wenn sie auf uns geschossen haben. Es war die Hölle. Es hat mich auch belastet, wie die Menschen dort miteinander umgehen, seien es die Warlords, die die Dörfer unterdrücken, während du selbst zu unterstützen versuchst. Die Menschen dort wollen nur glücklich leben, die sind mit wenig Geld zufrieden.
Zurück in Deutschland fragte ich mich: Was stimmt mit der Gesellschaft hier nicht? Wir in unserer Konsumgesellschaft sind zutiefst unglücklich, wollen immer irgendwas erreichen, alles wegschmeißen und neu kaufen. Das war für mich der größte Kulturschock. Persönlich empfand ich es nun als Stress, nach Dienst die alltäglichen Aufgaben des Privatlebens lösen zu müssen, um die ich mich im Einsatz nicht kümmern musste.

Tochter Svea, 10 Jahre
Mein Papa ist auch krank. Das kann man aber nicht sehen.“

Die Nachsorge war dürftig

Die Nachsorge habe ich nach beiden Einsätzen als dürftig empfunden. Der Moderator gab sich zwar Mühe, und der Standortpfarrer stellte zwei, drei Kisten Bier hin. Ist ja alles schön und gut. Aber ich empfand es als unzweckmäßig, eine Truppe nach monatelangem Einsatz für ein Seminar in eine Jugendherberge einzupferchen.
Die Prävention war okay; ich wüsste nicht, wie man es damals hätte besser machen können. Aber die Nachsorge bestand nur aus Fragen wie „Geht es mir gut? Alle Finger dran? Hörsturz?“. Mir hat mal einer gesagt: „Alles, was man bei dir nicht sehen kann, hast du auch nicht.“ Also schluckte ich die Gefühle runter, die ich hatte und die erst Jahre später kamen.
Die ersten Symptome traten 2010 bei mir auf, drei, vier Jahre nach dem Einsatz. Ich stritt mich mit Kameraden und Vorgesetzten, war verbal aggressiv und nicht mehr ausgelastet. Ich fing morgens um sechs an und arbeitete bis abends um acht, das störte niemanden. Die Vorgesetzten waren froh, dass die Aufgaben erledigt wurden. Ich habe einfach nur noch funktioniert. Meine wirklichen Probleme habe ich verdrängt.

Das Schamgefühl überwinden

Ein Mann mit T-Shirt und Basecap sitzt in einem Boot und steuert mit einer Hand den Außenbordmotor.

Mit dem Boot auf dem Wasser – das sorgt für die Entspannung und Entschleunigung, die Patrick Popiolek für seine Gesundheit braucht

privat

Es war nicht einfach, daran zu arbeiten. Das Schamgefühl war groß, bei den Grenadieren sowieso. Es war mir unangenehm, als gestandener junger Mann Mitte 20 zu sagen: „Ich komme mit meinem Leben nicht mehr klar.“ Die dienstlichen Konsequenzen waren mir zu groß. Ich hatte definitiv eine Einschränkung, die ich nicht zugeben wollte.
2010, ein halbes Jahr nach unserer Hochzeit, war meine Frau an einem Punkt, wo sie mir nicht mehr helfen konnte, ohne dass ich zum Arzt ging. Sie half mir, an meine Zukunft zu denken – und meine Zukunft ist meine Familie. Ich hatte verstanden, dass der Einsatz etwas mit mir gemacht hatte, dass ich nun professionelle Hilfe brauchte und dass ich dafür „die Hose runterlassen“ musste.
Ich ging also zum Arzt, dachte aber noch, da käme eh nichts raus. Aber ich hatte mich getäuscht. Nach drei, vier Fragen, die ich beantworten musste, sagte der Arzt: „Sie haben ein größeres Problem. Ich möchte das gern von Fachärzten im Bundeswehrkrankenhaus (BWK) überprüfen lassen. Bis dahin schreibe ich Sie krank.“ Ich fragte: „Was darf ich denn noch machen?“ „Ganz einfach: essen, trinken, Spaß haben.“

„Schema F“ reicht nicht

2011 war ich das erste Mal im BWK. Die Therapeuten dort unterstützten gut, aber es kam mir teilweise vor wie Schema F. Dafür ist ein PTBSPosttraumatische Belastungsstörung zu vielfältig: Der eine hat nur ein kleines Problem, und der andere kommt mit seinem Leben nicht mehr klar. Ich war suizidgefährdet, wie man später feststellte. Ich konnte nicht mehr rausgehen, nicht mit dem Bus fahren, nicht einkaufen gehen. Ich war komplett in meiner eigenen Welt, habe mich nur noch eingeschlossen und gearbeitet. Glücklicherweise durfte ich mir eine zivile Therapeutin suchen, die mich bis 2019 begleitet hat. Ihr habe ich viel zu verdanken. Sie war objektiv, hat mich auch ein-, zweimal gemaßregelt, aber vor allem aufgebaut.
Von meiner Grenadierlaufbahn musste ich mich nun verabschieden. Nach einem Truppenpraktikum im Wachbataillon arbeitete ich dort ab 2011 als Materialbewirtschafter. 2014 näherte sich mein Dienstzeitende. Ich konnte aber nicht entlassen werden, weil ich nicht gesund war und noch regelmäßig zum Arzt und zu meiner Psychologin gehen musste. So wurde ich in ein Wehrdienstverhältnis besonderer Art eingestellt.

Zwei Studien abgebrochen

Nach einem Gespräch beim Berufsförderungsdienst und einem Studienvorbereitungskurs studierte ich an der Beuth Hochschule für Technik in Berlin computergesteuerte und angewandte Mathematik. Das machte Superspaß, bis dahin hatte ich alles bestanden. Doch dann kam ein neuer Arzt im BWK auf mich zu und erklärte mir, dass ich ohne Abschlussgutachten nicht entlassen werden könne; dazu müsse ich mich stationär gründlich durchchecken lassen. Die ersten drei Termine, die er mir machte, verdrängte ich irgendwie. Ich hatte Angst. Dann überwand ich mich und ging in den Semesterferien hin. Geplant waren zwei Wochen, es wurden aber fünf. Als Ergebnis musste ich mein Studium abbrechen; es hieß, ich sei noch nicht ausbildungs- oder wehrfähig.
Ich erinnerte mich an meinen Versetzungsantrag, sprach nochmal im Verteidigungsministerium vor, beim PTBSPosttraumatische Belastungsstörung-Beauftragten, schrieb erneut an alle Stellen. So fand ich mich im Kommando Heer wieder, in der Rechtsabteilung. Das machte mir Spaß. Ich war nur ein bisschen traurig wegen meines Studiums, dass ich das nicht durchziehen konnte. Dann wurde ich ins Auswärtige Amt geholt, ins Referat SSR (Sicherheitssektor-Reform) für Afrika und die ganze Krisenkurve (Iran, Irak, Afghanistan). Der Abteilungsleiter dort sagte: Zahlen, Tabellen und Akribie, das sei meins, und ich solle auf jeden Fall nochmal studieren, einen vernünftigen Abschluss machen, um da weiterzukommen.
Dann hatte ich die Möglichkeit, über das Bundeswehr-Dienstleistungszentrum in Berlin an der Hochschule des Bundes in Mannheim zu studieren, auf einem Sonderposten als PTBSPosttraumatische Belastungsstörung-Geschädigter. Nach zwei Semestern brach ich aber auch dieses Studium ab. Meine Erkrankung machte mir einen Strich durch die Rechnung, und zwar nicht, weil ich es nicht konnte – ich hatte gute Noten –, sondern weil die Verwaltung dort mit mir als Einsatzgeschädigtem nicht klarkam, und das behinderte mich im Studium.

Endlich die richtige Verwendung gefunden

Drei Bundeswehrsoldaten sind in einem Raum vor Regalen mit verschiedenen Materialien.

In der Materialbewirtschaftung hat Oberstabsgefreiter Patrick Popiolek seine Bestimmung gefunden

Bundeswehr/Marco Dorow

Ich musste an meine Absicherung denken. So ging ich in die Rechtsabteilung im Kommando Heer zurück und beschloss, einen Antrag auf Berufssoldat in der Mannschaftslaufbahn zu stellen. Schon bald fragte mich meine Kommandantin: „Sie sind doch aus dem Bereich Versorgung? Wir haben Bedarf. Hätten Sie Lust zu unterstützen?“
So arbeite ich nun seit 2020 im Stabsquartier im Versorgungsbereich. Der Weg zum Berufssoldaten war erneut eine große Hürde: wieder Hosen runterlassen, zu sämtlichen Ärzten fahren, psychologischer Test mit vielen Fragen. Aber dann hat alles gepasst, auch aufgabentechnisch hier im Bereich der Materialbewirtschaftung. Ich kann mich in der betriebswirtschaftlichen Datenverarbeitung austoben und Inventuren fahren. Hier ist kein Tag wie der andere.
Jeder hier kennt meine Einschränkungen, und ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich darf zwar nicht schießen und nicht auf Truppenübungsplätze, aber abgesehen davon möchte ich nicht wie ein rohes Ei behandelt werden. Ich bin Soldat, das ist mein Beruf. In meinem Bereich kann man sich auf mich verlassen. Es macht mir Spaß. Ich bin nach wie vor in Behandlung. Ich habe viel durchgemacht. Aber ich bereue es nicht, dass ich in den Einsätzen war. Ich war nur zu jung, definitiv.

von Patrick Popiolek