Heer
Beim Marsch überhitzt

Ein langer Weg zurück ins Leben

Ein langer Weg zurück ins Leben

Ort:
Strausberg
Lesedauer:
10 MIN

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Einen simplen Übungsmarsch sollen 42 Offizieranwärter im niedersächsischen Munster im Juli 2017 absolvieren – kaum drei Wochen nach ihrem Eintritt in die Bundeswehr. Der Marsch wird zur Katastrophe. Ein Soldat stirbt, elf brechen überhitzt zusammen. Pascal ist einer von ihnen. Er verbringt danach vier Jahre im Krankenhaus und überlebt nur, weil seine Mutter ihm eine Niere spendet.

Zwei Männer machen auf einer Tartanbahn Liegestütze und reichen sich dabei die rechte Hand.

Marvin (l.) hat seinen Bruder, den Offizieranwärter Pascal, während dessen Krankheit stets begleitet und unterstützt. Heute motiviert er ihn, Sport zu treiben. Die beiden leben in einer gemeinsamen Wohnung.

Bundeswehr/Marco Dorow

Ursprünglich wollte ich Offizier werden, in München Kommunikations- und Informationstechnik studieren und nach der Dienstzeit in dem Bereich arbeiten. Einerseits wollte ich mich bei der Bundeswehr als Mensch weiterentwickeln, andererseits mich selbst herausfordern.
Es sollte anders kommen: Am 19. Juli 2017, beim ersten Eingewöhnungsmarsch, erlitten viele Soldaten eine Überhitzung mit dramatischen Folgen. Ich kann mich nicht an den Marsch erinnern. Ich weiß nur, ich wachte im Krankenhaus auf, hatte mehrere Schläuche am Körper und sah meine Mutter über mir. Sie weinte. Ich versuchte mich zu bewegen oder zu sprechen, aber nichts ging. Ich lag da, ohne zu wissen, wo ich war oder wieso ich hier war. Ich merkte nur: Irgendetwas stimmt nicht.
Meine Mutter erzählte mir, ich sei bei dem Marsch umgekippt, hätte im Helikopter mich erbrochen und sei dann im Bundeswehrkrankenhaus (BWK) Hamburg gelandet, von wo man mich aber wegen meines kritischen Zustands schnell ins Uniklinikum brachte. Dort stellte sich heraus, dass auch ich beim Marsch überhitzt war und ein multiples Organversagen hatte. Meine Leber und Nieren arbeiteten nicht mehr. Um mich herunterzukühlen, hatte man haufenweise Wasser in mich reingepumpt. Mein Bruder sagte später, ich hätte ausgesehen wie Homer Simpson.

Vergebliche Hoffnung auf schnelle Besserung

Ich bin Berliner. Meine Eltern kamen jedes Wochenende zu mir nach Hamburg. Einmal in der Woche kam mein Bruder vorbei, er war damals bei den Fallschirmjägern in Seedorf und durfte mich in seiner Dienstzeit besuchen. Ansonsten wollte ich nur die Wand anstarren. Ich konnte mich nicht bewegen, weil überall Schläuche hingen und meine Muskeln komplett weg waren. Erst nach fast zwei Monaten nahm ich wieder mein Handy in die Hand, was mir etwas Abwechslung und meinen Fingern Bewegung verschaffte.
Ich hatte da immer noch die Hoffnung: Es ist nicht viel passiert, morgen geht es mir besser, nächste Woche bin ich wieder zu Hause. Aber es ging immer zwei Schritte vor, drei zurück. Es wurde Wasser in der Lunge gefunden, eine Punktion gemacht und dabei der Darm verletzt. Ich bekam ein Stoma, einen künstlichen Darmausgang.
Reden war auch nicht möglich – klar, wenn man eine Röhre im Hals hat. Ich wurde über einen Kehlkopfschnitt langzeitbeatmet. Dadurch verloren auch meine Stimmbänder ihre Kraft. Ich konnte nur mit Stift und Papier oder durch Zeichensprache kommunizieren. So ging es auf und ab. In der Physiotherapie lernte ich langsam, wieder aufrecht ohne Hilfsmittel zu sitzen, und leichte Sprachübungen halfen mir, wieder einzelne Wörter zu formen.

Von einem Krankenhaus ins andere

Eine Gruppe von Soldaten marschiert dicht hintereinander mit schwerem Gepäck in sommerlicher Hitze.

Die Ausbildung von Offizieranwärtern muss herausfordernd sein. Sie darf aber die Pflicht zur Fürsorge nicht vernachlässigen.

Bundeswehr/Sebastian Wilke

Ende November 2017, nach über vier Monaten Intensivstation, wurde ich ins BWK nach Berlin verlegt. Dort konnten mich zum ersten Mal meine Freunde besuchen. Anfangs ging es mir ganz gut, aber dann verschlechterte sich mein Zustand wieder. Da entschlossen sich die Chefärzte, mich ins Virchow-Klinikum der Charité zu verlegen, auch wieder auf die Intensivstation.
Es war inzwischen Dezember. In der Physiotherapie ging es voran: an die Bettkante setzen, mal die Beine baumeln lassen. Langsam, aber sicher konnte ich auch wieder reden. Essen und Trinken ging noch gar nicht, weil alles, was ich aß oder trank, schnell wieder den Weg nach draußen nahm.
Am Heiligabend kam meine Familie zu mir. Am ersten Weihnachtstag gingen die Schwestern mit mir und meiner Familie raus. Ich wurde in einen großen thronähnlichen Stuhl gesetzt und warm eingepackt. Es war für alles gesorgt; man hatte einen Notfallkoffer, eine Sauerstoffflasche und alles Mögliche dabei. So war ich zum ersten Mal seit einem halben Jahr draußen an der frischen Luft.

Die Psyche leidet

Körperlich machte ich nun Fortschritte, jedoch ließ die Psyche nach. Es kamen immer öfter die Gedanken: „Wann hört das auf, kann ich jetzt nicht einfach sterben?“ Irgendwann entschied sich mein Kopf: Wir wollen diese Wand nicht mehr anschauen. Also funktionierten meine Augen nicht mehr; ich sah nur noch Silhouetten und keine wirklichen Personen mehr.
Dieser Zustand hielt bis ins neue Jahr, und ich bat um psychologische Hilfe. Eine Psychotherapeutin aus dem BWK kam dann regelmäßig zu mir und konnte mir helfen. Sie erkannte schnell, dass es Kopfsache war, dass meine Augen nicht mehr wollten. Weil ich nicht richtig schlafen konnte bei dem ganzen Stress auf der Intensivstation und dem Gepiepse von all den Messgeräten um mich herum, hatte mein Gehirn die Sinnesaufnahme eingeschränkt.
Körperlich ging es mir dafür recht gut. Im April 2018 kam ich auf die Normalstation, wo ich nicht mehr ununterbrochen, sondern in regelmäßigen Abständen kontrolliert wurde. Auch wurden meine Augen stetig besser, weil sie Abwechslung bekamen und ich viel öfter nach draußen konnte. Ich hatte das Sonnenlicht im Gesicht, die frische Luft, hörte die Vögel zwitschern, sah andere Leute. Die Physiotherapie brachte erste große Erfolge, sodass ich die ersten Schritte laufen konnte, wenn auch zuerst nur mit einem Gehwagen. Ich freute mich, endlich wieder Boden unter den Füßen zu haben. Im Mai ging ich das erste Mal in die Rehaklinik nach Bernau. Dort musste ich mich selbstständig im Rollstuhl bewegen, selbst zum Essen und alle drei Tage zur Dialyse fahren – meine Nieren arbeiteten ja immer noch nicht, aber dafür hatte sich meine Leber erholt.

Ich glaube, da gibt es einige, die sagen: Der nennt sich zwar Soldat, hat aber nicht mal die sechs Kilometer Laufen geschafft.“

Erneute Lebensgefahr

Im Juli musste ich wieder ins Krankenhaus zur Stoma-Rückverlagerung. Nach der ersten Operation ging die Naht auf, und der künstliche Ausgang musste wieder angelegt werden. Vor der zweiten OP kam die Oberärztin zu mir und eröffnete mir das Risiko, ich könnte während der OP sterben. Ich – inzwischen 19 Jahre alt – konnte nicht mehr. Ich war komplett alleine.
Ich rief meinen Bruder und meinen Vater an, die mich beruhigten. Mein Bruder war zwischenzeitlich in die Nähe versetzt worden und zügig bei mir, und auch meine Eltern kamen. Sie begleiteten mich bis zum OP-Saal, sodass ich so wenig Angst wie möglich haben musste. Zwar war bei früheren Operationen mal eine Narkose misslungen oder ich war beim Aufwachen außer mir gewesen, aber diesmal hatte ich erstmals wirklich Angst.
Die OP lief gut, doch während der Regeneration bekam ich eine Lungenentzündung. Also kam ich wieder auf die Intensivstation, war wieder kurz vorm Exitus und wusste wieder nicht, was mit mir geschieht. Zum Glück ging es mir diesmal nicht psychisch, sondern nur körperlich schlechter. Meine Lunge hatte sich teilweise eingeklappt, ich musste wieder beatmet werden. Eines Tages ging es mir plötzlich schlechter. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass ich Wasser im Herzbeutel hatte. Ich wurde notoperiert; fast ein Liter Wasser wurde aus meinem Körper gepumpt.
Als ich endlich mithilfe eines Spezialisten wieder selbst atmen konnte und alle Wunden bestmöglich abgeheilt waren, schickte man mich von Oktober bis November 2018 in eine sogenannte Früh-Reha. Dort bekam ich an den Wochenenden wieder Besuch von meinen Freunden. Im November war ich so fit, dass ich in die Spät-Reha kam, wo man das meiste selbstständig machen muss. Hier musste ich einen sehr langen Weg zurücklegen, um wieder Muskeln aufzubauen, auf die Beine zu kommen und zu laufen.

Endlich wieder zu Hause

Von einem Soldaten sind nur die Hände zu sehen, die eine silberne Gedenkmünze halten.

Pascal bewahrt einen Coin auf, den er vom damaligen Generalinspekteur im Krankenhaus bekommen hat

Bundeswehr/Marco Dorow

Im Dezember 2019 durfte ich das erste Mal wieder übers Wochenende nach Hause fahren. Von da an ging es mir schlagartig psychisch besser: Ich konnte jedes Wochenende in einem normalen Bett schlafen. Es war zwar etwas stressig, mit dem Rollstuhl durch die kleine Wohnung zu fahren, aber mit Übung ging es.
So war ich eine Zeit lang jedes Wochenende zu Hause, in der Woche dann in der Reha und in der Dialyse, und langsam machte ich echte Fortschritte. Inzwischen lief ich an einem Rollator und war nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen. Eine Ärztin bezweifelte, dass ich je wieder normal laufen könne. Das hat mich wütend gemacht und so angespornt, dass ich nach einem Monat nur mit einer Krücke unterwegs war. Es ging mir wirklich besser. Im Juni 2019 hat man dann gesagt: „Es gibt keinen Grund mehr, warum du noch hierbleiben solltest. Du bist so weit selbstständig, dass du gut klarkommst.“ Ab da war ich dann ganz zu Hause.
Nebenbei war ich immer noch Soldat, zwar mit zwei Dienstjahren, hatte aber nicht viel davon mitbekommen, außer dass ich hin und wieder Besuch von hohen Offizieren wie dem Admiralarzt, dem Generalinspekteur und dem Inspekteur des Heeres bekam. Einmal kam sogar die damalige Verteidigungsministerin von der Leyen, was für ziemlichen Aufwand sorgte. Mein Vater und mein Bruder waren dabei. Auch beim Besuch des Inspekteurs des Heeres war mein Bruder dabei, der damals noch in Seedorf stationiert war. Der Inspekteur fragte ihn, ob er denn nicht näher bei seinem zu Hause und bei mir sein wolle. Zwei Tage später war seine Versetzung zum Kommando Heer in Strausberg durch.

Wieder Kontakt zur Bundeswehr

Noch während der Reha wurde auch ich von meinem ehemaligen Standort Munster nach Strausberg versetzt. Ich war aber noch lange krank zu Hause, weil ich immer noch in der Bewegung eingeschränkt war. Ich lief noch an der Krücke und hatte Probleme beim Treppensteigen – und meine Nieren wollten einfach nicht. Dreimal in der Woche fuhr ich für jeweils viereinhalb Stunden zur Dialyse. Die fing mittags an, und wenn ich rauskam, war es schon wieder Abend. Den Tag konnte ich für nichts nutzen.
Psychisch ging es mir gut; ich war zu Hause und konnte wieder Zeit mit meinen Freunden verbringen. Wenn ich keine Dialyse hatte, war ich hin und wieder zu Besuch in Strausberg, weil der Inspekteur und mein Abteilungsleiter mich sehen wollten. In der Abteilung, in der mein Bruder schon alle informiert hatte, wurde ich herzlich aufgenommen. Niemand brachte mir Abneigung entgegen, weil ich „nur ein Soldat“ sei, der seinen Eingewöhnungsmarsch nicht geschafft hat. Bis heute hat mich hier niemand ausgelacht oder mich für das, was passiert ist, verantwortlich gemacht.
Das war nicht immer so gewesen: Ein Pfleger im BWK hatte mir unterstellt, ich hätte Drogen genommen, mich am Vorabend des Marsches besoffen, dieses und jenes getan, und es sei meine Schuld, dass ich den Marsch nicht geschafft hatte. Zu dem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wieder reden und deshalb nicht widersprechen; ich konnte es nur still anhören. Ein Blick in meine umfangreiche Krankenakte hätte ihm aber zeigen müssen, dass ich zum Zeitpunkt meiner Einlieferung keinerlei Substanzen im Blut gehabt habe, die so etwas hätten auslösen können. Ich war kerngesund und sportlich fit gewesen. Ich hatte einfach nur Pech gehabt.

Eine neue Niere

Ein junger Mann und seine Eltern sitzen auf modernen Polstermöbeln und unterhalten sich.

Ohne die Fürsorge seiner Eltern wäre Pascal (r.) an manchen Stationen seiner langen Krankheit verzweifelt. Seine Mutter Adriana (M.) hat ihm durch eine Organspende wieder ein normales Leben ermöglicht.

privat

Inzwischen hatten wir das Jahr 2020. Ich konnte ohne Krücken laufen und wieder leicht mit Sport anfangen, was besonders meinen fitnessbegeisterten Bruder freute. Da war aber immer noch der Knackpunkt Dialyse. Meine Nieren hatten zwar noch eine Teilfunktion, aber die reichte nicht aus. Also machte man Tests und fand heraus, dass eine Nierentransplantation möglich sei. Ich ging zusammen mit meinen Eltern zum Gespräch in die Charité und erfuhr dabei überrascht, dass sie und mein Bruder es schon längst als ganz selbstverständlich angesehen hatten, dass ich zu gegebener Zeit eine ihrer Nieren bekommen sollte. Mein Bruder und mein Vater wurden abgelehnt, aber meine Mutter passte. Gegen alle meine Bedenken bestand sie darauf, und so wurden die Vorbereitungen für eine Nierentransplantation getroffen.
Am 28. Januar 2021 war es so weit. Ich war sehr aufgeregt, denn als Erstes kam meine Mutter in den OP. Als sie zurückkam und ich an der Reihe war, wusste ich: Es wird gut werden. Im OP bekam ich eine Maske auf, zählte bis drei und war weg. Als ich langsam wieder aufwachte, hatte ich eine vollständig funktionierende Niere in meinem Körper. Auch meiner Mutter ging es gut. Zwei Wochen verbrachten wir im Krankenhaus gemeinsam in einem Zimmer. Im Februar, rechtzeitig zu meinem Geburtstag, durfte ich wieder nach Hause. Ich musste nicht mehr zur Dialyse und hatte auf einmal viel mehr Zeit! Ab 2022 konnte ich wieder – für mich – normal leben. Ich konnte mehr Sport treiben und auch im Dienst öfter vorbeischauen, wo nun meine Diensttauglichkeit geprüft wurde. Zwischenzeitlich war ich von der Offiziers- in die Mannschaftslaufbahn gewechselt, damit man meine Dienstzeit von ursprünglich vier auf acht Jahre verlängern und mich befördern konnte. Auf dem Papier war ich über vier Jahre Soldat, geleistet hatte ich nur drei Wochen Grundausbildung. Nun wurde ich auf einen Schlag zum Stabsgefreiten und ein Jahr später zum Oberstabsgefreiten befördert. Jetzt bin ich glücklich wieder im Dienst, wenn auch nur in Teilzeit. Meine Offiziersanwartschaft ruht ja nur. Ich hoffe deshalb, dass ich doch noch Offizier werden, mein Studium nachholen und bei der Bundeswehr bleiben kann. Ich fühle mich hier wohl.

Anmerkung der Redaktion: Pascal möchte nicht mit Nachnamen und Dienstgrad genannt werden. Diesem Wunsch haben wir entsprochen.

von Pascal 

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