Die Versehrung schaut jeden Morgen aus dem Spiegel
Die Versehrung schaut jeden Morgen aus dem Spiegel
- Ort:
- Altengrabow
- Lesedauer:
- 7 MIN
„Wir haben nicht so viele, denen man es ansieht“, sagt Oberstabsfeldwebel Meik Briest. Damit spielt er auf die großen Narben in seinem Gesicht an, die von einer Sprengverletzung im Kosovo herrühren.
Heute ist Meik Briest als Schießsicherheitsfeldwebel bei der Range Control auf dem Truppenübungsplatz Altengrabow eingesetzt. Nebenamtlich betreut er die Munitionsmustersammlung des Übungsplatzes. Sie ist außerhalb des Zaunes in einem Gebäude untergebracht, das noch aus der Zeit stammt, als die Rote Armee den Übungsplatz nutzte. Oberstabsfeldwebel Briest war selbst bei der NVANationale Volksarmee. Als Gruppenführer, stellvertretender Zugführer und Fallschirmwart bei den Spezialaufklärern erreichte er den höchsten Dienstgrad seiner Dienstgradgruppe. Nach der Wiedervereinigung wurde er in die Bundeswehr übernommen.
Mit der Bundeswehr und der Auftragstaktik könne er sich sehr gut identifizieren, sagt Meik Briest. „Das war bei der NVANationale Volksarmee und ihrem Bezug zur Sowjetunion anders. Vor allem mit diesem bedingungslosen Befehl und Gehorsam wurde ich nie wirklich warm. In der Bundeswehr hat man wesentlich mehr Möglichkeiten, sich selbst einzubringen.“
Seine Halle wird von einem großen Sandkasten beherrscht, in dem sich Dutzende Minen, Granaten und Bomben befinden. „Alles Anschauungsobjekte für die Ausbildung, aber nur ein Bruchteil von dem, was wir haben“, erklärt Briest. Eine Seite ist durch einen übermannshohen Zaun eingefasst. Darin stapeln sich in Regalen verschiedene weitere Gegenstände von der Panzerabwehrhandwaffe bis zum Lenkflugkörper.
Das alte, über Jahrzehnte von der Roten Armee genutzte Gebäude ist mehr als nur eine Mustersammlung. Tafel, Beamer und ausgerichtete Stuhlreihen zeigen, wofür das Gebäude genutzt wird. Hier schult Oberstabsfeldwebel Briest Kameradinnen und Kameraden im Rahmen der Einsatzvorbereitenden Ausbildung zum Thema C-IEDImprovised Explosive Device (Counter-Improvised Explosive Devices, Abwehr von improvisierten Sprengfallen).
„Aus meiner mehrjährigen Vorverwendung in einem mobilen Ausbildungsteam für Counter-IEDImprovised Explosive Device weiß ich, wie ich auf eine Lerngruppe wirke. Am Anfang steht den Kameraden direkt ins Gesicht geschrieben: ‚Mein Gott, der sieht ja komisch aus.‘
Wenn ich dann erzähle, was mir passiert ist, bleibt die Spannung erhalten und man hört mir zu. Mir kann man halt die Konsequenzen und Gefahren des Berufes im wahrsten Sinne des Wortes am Gesicht ablesen. Ich bin das beste Anschauungsobjekt hier“, sagt er mit einem Lächeln.
Ein Bombenfund gerät zur Katastrophe
Oberstabsfeldwebel Briest nimmt eine kegelförmige Kleinbombe in die Hand und erzählt: „So eine war es, der ich mein heutiges Aussehen zu verdanken habe. Es war der 3. Juli 1999. Wir sollten in einem Dorf in der Nähe von Prizren eine 250-Kilo-Bombe entschärfen. Auf dem Rückweg kamen wir an einer großen Wiese vorbei. Von unserem Fahrzeug aus konnten wir sehen, dass der Bereich offensichtlich von den Alliierten bombardiert worden war. Auf dieser Wiese waren mehrere Einheimische bei der Heuernte. Weiter den Weg entlang zur Hauptstraße hielten uns drei Personen mit Rufen ‚Mina, Mina!‘ auf. Unser Sprachmittler übersetzte uns, dass sie etwas gefunden hätten.
Einer aus unserem Trupp sollte sich die Sache ansehen, das war bei uns das Standardvorgehen. Dieser eine war diesmal ich. Auf dem Weg vom Straßenrand bis zur Wiese, auf dem die Einheimischen gewartet hatten, lagen schon mehrere dieser Streubomben. Ich konnte die Feldarbeiter überzeugen, an dem Tag nicht weiterzuarbeiten. Am Folgetag sollte die Räumung beginnen. Ein paar der Arbeiter wollten uns dabei unterstützen, das Gelände zu markieren, und folgten mir zu unserem Transportpanzer.
Kurz bevor wir ankamen, erschien wie aus dem Nichts urplötzlich ein Einheimischer aus einem Gebüsch und kam auf uns zu, in der Hand den Blindgänger einer Streubombe. Anscheinend wollte er sie mir in die Hand drücken. Auf 20 Meter Entfernung bekamen wir ihn zum Stehen und forderten ihn auf, die Bombe ganz vorsichtig abzulegen. Ob er sie die letzten paar Zentimeter fallen ließ, ob ein Stein darunter lag – wir wissen es nicht. Jedenfalls ging etwas schief.
Die Bombe detonierte. Es gab zwei Tote und mehrere Schwerverletzte. Und ich stand mittendrin. Mich hatte es nicht umgeworfen, ich stand weiterhin da. Wie lange? Ich weiß es nicht. Ich konnte nichts mehr sehen, Blut trübte meine Augen. Ich hatte das Gefühl, im Kölner Dom direkt unter einer Glocke zu stehen. Ein Dröhnen, dann ein Rauschen, irgendwann Stimmen. Da wurde mir klar: Hier ist irgendwas faul. Hier stimmt was nicht.
Schwerste Verletzungen
Hände packten mich rechts und links an den Oberarmen und führten mich zu meinen Kameraden, die sofort Erste Hilfe leisteten. Kurze Zeit später kam ein Arzt. Mit dem konnte ich mich nur durch Zeichen verständigen, sprechen ging nicht. Der Arzt gab mir etwas gegen die Schmerzen. Die Medikamente waren aber nicht stark genug. Die Erschütterungen, als ich auf die Trage gelegt, angehoben und in den Krankenwagen geschoben wurde, verursachten mir die schlimmsten Schmerzen, die ich je erlebt hatte. Da wusste ich: Das ist übel.
Ich wurde im Feldlazarett in Prizren sofort notoperiert und über das Rettungskoordinierungszentrum wurde meine ‚Repatriierung‘ eingeleitet, was sich im Nachhinein als nicht so einfach darstellte. Noch in der Nacht ging es mit einem Transporthubschrauber CH-53 nach Skopje in Mazedonien. Von dort wurde ich mit einem Learjet der Deutschen Rettungsflugwacht – die Flugbereitschaft hatte angeblich keinen zur Verfügung – weiter nach Köln transportiert, wo die nächste Übergabe an einen SARSearch and Rescue-Hubschrauber für den Transport nach Koblenz erfolgte.
Um vier oder fünf Uhr am nächsten Morgen kam ich im Krankenhaus in Koblenz an. Ich hatte ein faustgroßes Loch im Gesicht. Mir fehlte der komplette rechte Oberkiefer von der Mitte bis zum Jochbein, der Jochbogen und der halbe Gaumen. Als Zugabe waren da noch ein Schädelbasis- und Keilbeinbruch sowie ein verletztes Innenohr. Das rechte Gleichgewichtsorgan war damit auch verloren gegangen. Trotz Splitterschutzweste hatte ich einige Splitter im Brustkorb unter der Haut. Ohne die Weste wären die Splitter hinter die Rippen gedrungen. Aber ich bin noch immer da!“.
Schnell wieder im Dienst
Auch nach den schweren Verletzungen hat Meik Briest seiner Profession nie den Rücken zugekehrt: „Nach dem Unfall ging es fast nahtlos weiter. Auch wenn ich im gleichen Jahre über 100 Tage im Krankenhaus verbrachte, stand ich schon nach sechs Monaten wieder auf dem Sprengplatz. Ich sprengte zwar nicht selbst, aber zumindest konnte ich helfen.
Sechs Jahre nach meinem Unfall war ich dann wieder im Einsatz im Kosovo. Weitere Einsätze folgten, immer in der gleichen Verwendung. Zum letzten Mal war ich 2019 dort. Bei jedem Einsatz konnte ich mit den damals Beteiligten und deren Angehörigen sprechen. Die ersten, die zu mir kamen, waren die Mutter und die Ehefrau eines der bei dem Unfall Getöteten. Niemand gab mir dort die Schuld. Das war wichtig für mich. Natürlich hatte ich mir häufig die Frage gestellt: Habe ich etwas falsch gemacht? Hätte ich das Ganze verhindern können? Das hat sehr an mir gezehrt.
Rückblickend waren die späteren Einsätze ebenso wie das Weiterarbeiten auf dem Sprengplatz wie eine Selbsttherapie für mich. Eine psychologische Betreuung hatte ich damals nicht erhalten. Zwar war ich vor meinem Einsatz 2005 nochmals im Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg. Dort sagte man mir aber, dass bei mir geistig alles in Ordnung sei. Heute sehe ich das anders. Ich habe an mir festgestellt, dass ich mich seit dem Unfall verändert habe. Ich bin heute zu 80 Prozent wehrdienstbeschädigt – aufgrund verschiedener Unfallfolgen wie dem fehlenden Gleichgewichtsorgan, aber auch weil ich danach noch einen Sportunfall hatte und ein gebrochenes linkes Sprunggelenk, das von einer Abseilübung aus einem Hubschrauber rührt.“
Dankbarkeit empfindet Briest für seine Familie, Kameraden und Vorgesetzten: „Die haben mir sehr geholfen. Aber das war nicht immer und überall so. An einigen Standorten erlebte ich auch Ablehnung. Manchmal fühlte ich mich gemobbt. Schlussendlich bin ich nach Altengrabow gekommen. Hier kann ich meiner Profession nachgehen und so gut wie möglich dem Bürodienst aus dem Weg gehen. Hier kann ich Sinnvolles leisten.“
Nur nicht Letzter werden
Noch etwas fällt in Briests Lehrgebäude auf: Direkt neben der Tafel, vor einem grünen Vorhang, steht eine Zielscheibe für Bogenschießen. Wenn es draußen nass ist, trainiert er hier für die Invictus Games. Fünf Jahre lang hatte ein Kamerad versucht, ihn für die Sporttherapie in Warendorf zu gewinnen. „2016 rang ich mich dazu durch, mich beim Arzt vorzustellen. Der sagte zu mir: ‚Briest, du bist ein körperliches Wrack.‘ Das hat mir die Augen geöffnet. Ich habe mich aufgerappelt, 20 Kilo abgenommen und wurde für die Invictus Games in Toronto und Sydney aufgestellt.“
Meik Briest ist bei den Spielen, auch 2023 in Düsseldorf, in der offenen Klasse gestartet. Dort waren unter seinen Konkurrenten auch jüngere Kameraden, zum Teil ohne körperliche Einschränkungen. Er trat im Bogenschießen, Indoor-Rudern und Schwimmen an. „Es geht mir nicht darum, eine Goldmedaille zu gewinnen. Heute bin ich 57 Jahre alt. Meine Schnellkraft lässt nach. Nicht Letzter werden, das ist das Ziel.“
Oberstabsfeldwebel Briest hätte die Bundeswehr längst aufgrund der besonderen Altersgrenze in den Ruhestand verlassen können. Zweimal hat er bereits verlängert, auch weil dies einiges in Bezug auf die immer noch nicht abgeschlossene Heilbehandlung vereinfacht. Bis Anfang 2023 war Meik Briest insgesamt 1.442 Tage stationär im Krankenhaus. Heute stellt er fest: „Ich merke, dass es langsam Zeit wird. Ich habe in zwei Armeen den höchsten Dienstgrad meiner Dienstgradgruppe erreicht, habe viel erlebt und mitgemacht. Ich habe meinen Beitrag geleistet. Eine weitere Verlängerung wird es nicht geben.“