Das Leben muss weitergehen
Das Leben muss weitergehen
- Datum:
- Ort:
- Strausberg
- Lesedauer:
- 5 MIN
Afghanistaneinsatz der Bundeswehr: Die Jahre 2009 bis 2012 waren intensiv und herausfordernd für deutsche Soldaten. Es gab Anschläge und Gefechte, Soldaten wurden verwundet und sind gefallen. Oberstleutnant Jörn Deigner verlor einen seiner Kameraden, den Hauptgefreiten Sergej Motz. Was in den Monaten und Jahren danach passierte, darüber sprechen wir mit dem damaligen Zugführer.
Nun waren Sie ja noch bis Mitte Juni 2009 in Afghanistan im Einsatz. Wie schwierig ist es, mit der Verantwortung umzugehen nach so einem Vorfall? Es muss ja irgendwie weitergehen.
Oberstleutnant Deigner: Es wurden zwei Verwundete aufgrund der Schwere der Verletzungen nach Hause geflogen und durch andere Kameraden aus Deutschland ersetzt, sodass wir ziemlich zügig wieder vollzählig waren und unseren Auftrag weiter erfüllen konnten.
Ich muss ehrlich sagen, mein Motto und das vieler meiner Soldaten war damals: Jetzt erst recht. Nachdem wir uns ein wenig von dem Schock erholt hatten, war die einhellige Meinung. Es bringt ja nichts, wenn wir jetzt alle nach Hause fliegen. Dann wäre das alles, auch der Tod unseres Kameraden, umsonst gewesen. Wir haben gerade für den Gefallenen und die Verwundeten gesagt: Wir ziehen das hier durch und kämpfen weiter. Der Einsatz hat zwar einen hohen Preis, aber dann muss er sich wenigstens darin widerspiegeln, was alle dort leisten und wir dort hinterlassen.
Mir ist im Nachhinein besonders klar geworden, wie wichtig es ist, wie wir unsere Soldaten auf diesen Einsatz vorbereiten, sie ausbilden. Wenn sie unter schwierigsten Bedingungen ihr Handwerk beherrschen müssen, dann müssen sie Automatismen erlernen, die bewirken, das langes Nachdenken in Stresssituationen wegfällt. Zudem muss sich jeder Soldat, der in den Einsatz geht, fragen: Was kann auf mich zukommen? Was passiert, wenn der schlimmste Fall eintritt? Eine Patientenverfügung oder etwa ein Testament zu verfassen – all das gehört zu einer guten Vorbereitung. Man darf nichts auslassen.
Im Einsatz habe ich viele persönliche Gespräche mit den Soldaten geführt und nicht nur ich, auch meine Gruppenführer haben das getan. Sie unterstützten mich, standen loyal zu mir. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar. Es zeigte keiner mit dem Finger auf mich und sagte: „Du bist schuld.“ Wir haben das alle gemeinsam durchgestanden. Kameradschaft, Offenheit und Loyalität gibt es ja nicht nur auf der gleichen Ebene, sondern auch von unten nach oben und andersherum. Ich denke, ich war loyal zu meinen Männern. Das haben die Soldaten gemerkt und die meisten haben das Vertrauen in mich behalten oder es wiedererlangt.
Wann hatten Sie persönlich Zeit, um „Ihren“ Gefallenen zu trauern?
Letztendlich kam die Erkenntnis oder das Begreifen, das richtige Nachdenken, über das, was da passiert ist, eigentlich erst nach dem Einsatz und zwar Wochen, ja Monate später. Wenn man nicht im Dienst ist, an Wochenenden oder im Urlaub, gibt es keine Ablenkung mehr. Besonders der Rückkehrerappell war schwierig. Da bin ich das erste Mal den Eltern des Gefallenen Sergej Motz begegnet und musste ihnen als der verantwortliche Führer vor Ort in die Augen schauen. Die Mutter fragte mich: Warum ist mein Sohn gestorben? Zu dieser Zeit war ich eigentlich noch mit mir selbst und der Situation beschäftigt. Natürlich konnte ich die Mutter gut verstehen, dass sie nach dem Sinn fragt, dass sie tief traurig und vielleicht wütend ist und dass sie diese Frage stellt.
Gespräch mit der Mutter des Gefallenen
Die Soldaten des Zuges haben heute noch ein gutes Verhältnis zu den Eltern. Es ist nicht so, dass die Eltern mir irgendwie nach mehr als zehn Jahren eine Schuld gegeben hätten. Aber damals in dem Moment wusste ich nicht, ob sie das tun – auch wenn ich es damals ein Stück weit hätte nachvollziehen können. Denn ich war der verantwortliche Zugführer und einer meiner Soldaten ist unter meinem Kommando gefallen.
Ich hätte der Mutter natürlich auf ihre Frage eine hochpolitische Antwort geben können – etwa, warum wir in Afghanistan sind. Das hätte aber nicht zu einer Verbesserung der Situation beigetragen, glaube ich zumindest, eher im Gegenteil. Deswegen konnte ich ihr keine zufriedenstellende Antwort geben. Ich hatte das Gefühl, dass das eher eine rhetorische Frage war, bei der sie wusste, dass ich darauf keine Antwort haben werde.
Sie sind jetzt der stellvertretende Bataillonskommandeur des Bataillons, zu dem Sergej Motz damals auch gehörte. Wie sieht die Erinnerungskultur in Ihrem Verband heute aus?
Die Erinnerungskultur in diesem Verband wird nach wie vor gelebt und zwar nicht verordnet, sondern freiwillig. Zum einen fahren aktive und ehemalige Soldaten des Bataillons jedes Jahr am 29. April auf den Friedhof nach Bad Saulgau, dem ehemaligen Wohnort von Sergej Motz. Oft ist das auch mit einem Besuch bei den Eltern verbunden. Teilweise fahren jüngere Soldaten mit, die damals noch gar nicht dabei waren. Im vergangenen Jahr zum zehnten Jahrestag gab es zunächst ein Antreten. Danach fuhr eine offizielle Abordnung zum Friedhof und legte dort einen Kranz nieder. Zum anderen haben wir hier im Verband eine Wand des Gedenkens, an der alle Gefallenen und Toten des Verbandes mit einem Foto verewigt sind.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, Sergej Motz in Ehren zu halten, seiner immer wieder zu gedenken?
Ich halte das für sehr wichtig. Es darf kein Kult sein, aber ein andauerndes, ehrenvolles Gedenken halte ich für wichtig. Besonders für die jungen Kameraden, die jetzt erst ihren Dienst antreten, ist es wichtig. Damit wird ihr Bewusstsein geschärft, was es am Ende bedeuten kann, Soldat zu sein, Infanterist zu sein. Es bedeutet, zu kämpfen und im Zweifelsfall auch zu sterben. Man könnte natürlich sagen, das sollte jeder schon bei seinem Eintritt in die Bundeswehr wissen. Aber ich denke, das Ganze wird noch einmal deutlicher, wenn es ein Gesicht und eine Geschichte dazu gibt.
Im dritten Teil erzählt uns Oberstleutnant Jörn Deigner, wie er sich auf seinen Afghanistaneinsatz 2009 vorbereitet hat, der ihm alles abverlangt hat. Dieser Teil wird am Mittwoch erscheinen.