Auftrag Kabul: Leben retten
Auftrag Kabul: Leben retten
- Datum:
- Ort:
- Seedorf
- Lesedauer:
- 5 MIN
Stabsunteroffizier Jessica Meinhardt ist eine der ersten Soldaten, die im August 2021 für die geplante militärische Evakuierungsoperation in Kabul landet. Die Fallschirmjägerin hat mit ihren Kameraden des Fallschirmjägerregiments 31 Tausenden Menschen das Leben gerettet. Im Interview spricht sie über ihre Erlebnisse in dieser intensiven Zeit.
Wie liefen die Vorbereitungen auf die Evakuierungsoperation in Kabul?
Stabsunteroffizier Meinhardt: Alarmiert wurden wir am 14. August. Das war ein Samstagmorgen. Zunächst wurden die militärischen Führer informiert, am Abend dann alle anderen Kameraden alarmiert. Sie hatten sich bis zum nächsten Tag bis 7.30 Uhr im Standort in Seedorf einzufinden. In der Zeit bis zum Flug am Montag musste noch eine Menge koordiniert werden – vom Impfstatuscheck bis zum Waffenempfang. Um 22.30 Uhr waren wir abmarschbereit und dann ging es auch schon Richtung Flughafen in Wunstorf. Unterm Strich kann ich sagen: Trotz der Kurzfristigkeit der Alarmierung – es hat alles funktioniert, so dass wir am Montagmittag im Flieger Richtung Usbekistan saßen. Nach dreitägigem Aufenthalt in Taschkent ging es dann für mich nach Kabul.
Die Hölle Afghanistan: Überall Verzweiflung
Was war Dein erster Eindruck als Du in Kabul gelandet bist?
Das Erste, was mir einfällt, wenn ich an den Tag zurückdenke: völlige Reizüberflutung. Plötzlich landet man in einem Szenario, wo keiner wirklich weiß, was gerade passiert. Dadurch, dass wir kaum Informationen hatten, war die Lage für uns unbekannt. Überall fremde Menschenmassen bestehend aus Soldaten und Schutzbedürftigen, viel Lärm, schreiende Frauen, Männer und Kinder. Und immer wieder waren Schüsse zu hören. Hinzu kamen die Strapazen durch die Temperaturen und die hohe Lage der Stadt. Auch diese Armut und unfassbare Situation der Afghanen. Einfach überall Verzweiflung. Am Anfang habe ich nur gedacht: Das ist die Hölle! Hinzu kommt, dass das mein allererster Auslandseinsatz überhaupt war. Deswegen wirkte alles natürlich erstmal total überfordernd. Doch dann habe ich die kurze Zeit genutzt, um kräftig durchzuatmen und die Lage bewusst zu realisieren. Danach ging es für uns auch schon los mit dem eigentlichen Auftrag.
Was waren Eure Aufgaben genau vor Ort?
Mein Hauptauftrag war die Personenkontrolle. Das heißt, ich hatte die Verantwortung, Frauen und Kinder auf gefährliche Gegenstände zu durchsuchen, die auf dem Flug nach Taschkent nicht mitgeführt werden durften. Das beinhaltete ganze einfache Dinge, wie Nagelscheren oder kleine Klappmesser. Tatsächlich mussten wir keine Schusswaffen oder Ähnliches sicherstellen. Das Gepäck wurden parallel durch die Kampfmittelbeseitiger (EODExplosive Ordnance Disposal) kontrolliert. Das hat auch alles reibungslos funktioniert. In erster Linie kam es natürlich darauf an, dass wir Schutzbedürftige und alle Europäer in Sicherheit bringen. Hierauf lag unser besonderer Fokus. Meine Kameraden waren ganz vorn am Gate eingesetzt und dort in der unmittelbaren Gefahrenzone. Die haben als erste Instanz die Papiere und Dokumente überprüft und mussten letztlich entscheiden, wer reindarf und wer nicht. Hier galt es vor allem, professionell zu bleiben und die unmenschliche Situation nicht an sich rankommen zu lassen. Und auch wenn die Gefahr immer unterschwellig zu spüren war, muss ich doch sagen, dass ich durch den eigenen Fokus auf den Auftrag und durch meine Kameraden, aber auch durch die Soldaten der anderen Nationen, die Bedrohung weniger wahrnahm und mich dadurch auch sicherer fühlte. Insgesamt war die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Streitkräften und die gegenseitige Unterstützung einfach super. Dadurch war mir eigentlich immer klar, dass wir das schaffen. Und so war es dann ja auch.
Ein totales Gefühlschaos
Wie hast Du den Empfang in Deutschland wahrgenommen?
Natürlich war das eine Wertschätzung, dass wir so toll in Wunstorf empfangen wurden. Aber ehrlich gesagt, wollten wir nach der Landung einfach nur nach Hause zur Familie. Wir hatten alles gegeben, um so viele Menschen wie möglich zu retten. Doch an diesem Punkt war die Luft bei uns einfach raus. Wir waren kaum noch aufnahmefähig. Vieles habe ich dann auch ausgeblendet. Ich wollte nur noch meine Kinder und meine Mutter in den Arm nehmen. Als wir dann endlich im Bus saßen, waren wir einfach nur happy. Auch, weil alle heil zurückgekommen sind.
Wie hat Deine Familie auf den kurzfristigen Einsatz reagiert?
In der kurzen Zeit der Vorbereitung habe ich zuallererst meine Mutter angerufen und sie gefragt, ob sie sitzt. Nachdem ich ihr gesagt habe, dass ich jetzt nach Afghanistan verlege, war ihre erste Reaktion: „Ist das dein Ernst? Hast du dich dafür freiwillig gemeldet?“ Für sie war das in diesem Moment ein Schock. Dass die Tochter als Soldatin jetzt kurz auf knapp einen wichtigen Auftrag zu erfüllen hat, konnte sie nicht nachzuvollziehen und war nur schwer greifbar. Natürlich war ich durch die Reaktion meiner Mutter zunächst verletzt, weil ich mich auch zu diesem Zeitpunkt nicht in ihre Lage versetzen konnte. Stattdessen habe ich mich gefragt, warum versteht sie das nicht? Ein totales Gefühlschaos. Erst später habe ich verstanden, wie sich meine Mutter fühlen musste. Ihre Tochter geht in ein gefährliches Land und keiner weiß, was dort passiert. Hinzu kam, dass wir auch nicht in der Lage waren, aus Afghanistan heraus nach Deutschland zu telefonieren, denn die operative Sicherheit ging natürlich über alles. Entsprechend konnten Familie und Freunde nur über die Medien erfahren, wie die Lage vor Ort ist. Außer von dem engsten Kreis konnte ich mich vor dem Abflug von niemandem weiter verabschieden, dafür war die Zeit zu kurz
„Wir leben, aber wir leben nicht genug“
Was nimmst Du persönlich mit aus den Tagen in Kabul?
So komisch wie das klingen mag, aber in Kabul habe ich viel über mein Leben nachgedacht. In Anbetracht der Tragödien in Kabul wurde mir selbst klar, wie dankbar wir eigentlich sein können, in einem Land wie Deutschland zu leben. Man bewertet sonst alltägliche, ja selbstverständliche Dinge ganz anders nach so einem Einsatz. Auch die Beziehungen zu Freunden und Familie hatte danach eine viel intensivere Bedeutung für mich. Und deswegen bin ich nach meiner Heimkehr auch direkt zu meiner Mutter gegangen und dann haben wir uns einfach nur umarmt, geweint und uns gefreut, dass alles gut gegangen ist. Ein anderes Beispiel sind Geburtstage. Sonst habe ich nie meinen Geburtstag gefeiert, weil dieser Tag einfach nicht wichtig für mich war. Doch nach der Evakuierungsoperation ist das anders. Jetzt möchte ich solche besonderen Tage viel mehr erleben, denn das hat mich der Einsatz in Kabul gelehrt: Wir leben häufig so vor uns hin, aber wir leben oft nicht genug. Wir sollten unser Dasein Tag für Tag viel mehr wertschätzen. Das ist es, was ich aus diesen Tagen mitgenommen habe. Das zeigt sich vor allem auch im Kameradenkreis. Wir reden jetzt viel mehr miteinander. Die Kameradschaft ist noch weiter gewachsen. Wir nehmen uns heute viel mehr wahr als vor Kabul. Am Ende hat der Einsatz das gezeigt, was uns Soldatinnen und Soldaten ausmacht: Wir geben alles und keiner wird zurückgelassen. Und darauf können wir stolz sein.