„Die Truppe musste sich durch die Gärten kämpfen“ (1)
„Die Truppe musste sich durch die Gärten kämpfen“ (1)
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Brigadegeneral Jared Sembritzki war 2010 Kommandeur der Schnellen Eingreiftruppe, der Quick Reaction Force 5 (QRF 5), in Afghanistan. Er erlebte sechs Monate fast täglich am eigenen Leib, was der damalige Verteidigungsminister als kriegsähnliche Zustände beschrieben hatte. Wir haben mit ihm über diese Zeit gesprochen.
Herr Brigadegeneral, was zeichnet den militärischen Führer im Gefecht aus? Worauf kommt es an?
Brigadegeneral Sembritzki: Alles das, was den militärischen Führer auch im Ausbildungs- und Einsatzbetrieb auszeichnen sollte. Wir schreiben uns Auftragstaktik ja zu Recht auf die Fahnen. Auftragstaktik ist eine Haltung und keine Handlungsanweisung. Ich für meinen Teil habe erlebt, dass sie sich bewährt hat. Sie muss aber eben ohne Wenn und Aber gelebt werden. Das kann nicht situationsbedingt angewendet werden.
Selbiges gilt für das Führen von vorn. Vorgesetzte müssen Verantwortung übernehmen, auch in der Ausbildung, auch im Grundbetrieb. Absicherungsdenken wird erkannt und dann oftmals kopfschüttelnd hingenommen, da die Folgen hier zu Hause vielleicht als nicht so schwerwiegend bewertet werden. Im Einsatz und besonders im Kampf kann sich keiner mehr verstecken. Die Truppe will das sehen und zwar von jedem Führer auf jeweils seiner Ebene.
Neue Qualität von Kameradschaft
Auch physische und psychische Robustheit ist ausschlaggebend. Mein Verband war ja erstmalig durchgehend nicht in einem Feldlager eingesetzt. Wir konnten nicht nach drei Tagen wieder reinfahren, zwei Bier trinken und unsere Wunden lecken. Meine Truppe saß im Observation Point (OP) North, da war noch nicht einmal ein Zaun drum herum. Das war im Grunde ein Verfügungsraum. Wir mussten uns also selbst sichern und sind von dort in die Operationen gegangen. Das verlangte jedem Einzelnen viel ab.
Die Truppe muss mit Disziplin zusammengehalten werden und die Soldaten müssen ihrem militärischen Führer hundertprozentig vertrauen. Das ist nicht nur dieses Vertrauen oder die Kameradschaft, die man grundsätzlich kennt. Das musste viel belastbarer sein, als wir alle es aus der Heimat kannten, obwohl wir in der Gebirgstruppe auch dort schon extrem aufeinander angewiesen sind. Aber man kann sich zu Hause eben auch sagen: Mir doch egal, ich fahre am Wochenende eh heim. Das ist in so einem Kampfeinsatz nochmal etwas ganz anderes. Das gemeinsame Durchstehen von großen und ungewohnten Belastungen und ganz besonders die reale Gefahr durch selbstgebaute Sprengfallen (Improvised Explosive Device, kurz IEDImprovised Explosive Device), Beschuss, Raketenangriffe und Gefechte hat uns zu einem anderen Niveau des aufeinander Verlassens geführt. Es war keine bedingungslose Loyalität, aber die Grundhaltung war schon immer vom Motto geprägt: Wir ziehen das durch, egal was kommt. Das ist der Kern, auf den es ankommt.
Sie sind bislang einer der wenigen Stabsoffiziere, der mit dem Ehrenkreuz für Tapferkeit ausgezeichnet worden ist. Für welches Ereignis haben Sie das bekommen? In der Verleihungsbegründung steht „… er zeichnete sich durch Mut, Führungskönnen, Entschlusskraft und selbstlosen Einsatz aus.“ Was verbirgt sich hinter diesen Worten? Was ist da passiert?
Der Einsatz ist schon ziemlich lang her. Ich denke, hierzu muss ich weiter ausholen. Anfang des Jahres 2010 sind bei der Operation Taohid II circa 250 Kilometer ostwärts von Masar-i Scharif im Distrikt Baghlan die dortigen Feindkräfte in einer gemeinsamen Operation vom Regional Command (RC) North und dem afghanischen Korps zurückgedrängt und taktisch wichtige Außenposten für die afghanische Armee errichtet worden. Die QRF 5 sollte die vor Ort eingesetzten ISAFInternational Security Assistance Force-Kräfte ablösen und die Sicherheit im Raum gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften gewährleisten. Dieser Auftrag wurde vom damaligen Kommandeur RC North verlängert. Wir waren dort bereits drei Monate eingesetzt, als im Zuge der Operation Taohid III die Zone nach Süden, Richtung Pul-i-Kumri, ausgedehnt werden sollte. Dort lag ein strategisch wichtiger Abschnitt, der sogenannte Highway Triangle. Hier führen die Straßen Kabul - Masar-i Scharif - Baghlan - Kundus zusammen, die somit eine zentrale Achse nördlich des Hindukusch bildeten. Dies galt entsprechend auch für die Versorgung und Bewegungslinien der Taliban, die im Raum Pul-i-Kumri über großen Einfluss verfügten. Es gab immer wieder schwere Angriffe – organisiert von den dortigen No-Go-Areas aus – gegen militärische, aber auch zivile Konvois, gegen die afghanische Polizei beziehungsweise das Militär und natürlich gegen uns und andere ISAFInternational Security Assistance Force-Kräfte, wie das ungarische Regionale Wiederaufbauteam (Provincial Reconstruction Team, PRTProvincial Reconstruction Team).
Der Auftrag hieß zunächst: Die Truppe geht für 72 Stunden da rein, hält den Raum und danach kommen afghanische ortskundige Milizen und übernehmen. Das war ein ganz neues Projekt, bei dem sich frühere Aufständische verpflichtet hatten, mit der Regierung und der ISAFInternational Security Assistance Force zusammenzuarbeiten. Da Bereiche rund um Pul-i-Kumri bis dahin No-Go-Areas waren, hatten wir kaum Aufklärungsergebnisse. Kurz nach Angriffsbeginn war der Operationsplan sofort Makulatur. Im Schwerpunkt auf der nördlichen Achse blieb die dort eingesetzte Kompanie gleich nach wenigen Hundert Metern liegen, da der Raum massiv durch IEDImprovised Explosive Device abgesperrt und ein Fortkommen mit Fahrzeugen nicht mehr möglich war. Der andere Flügel des Angriffs bei der 2. Kompanie lief auch nicht besser. Wir hatten damals auch amerikanische Kräfte unterstellt, einer ihrer großen Lkws war in einen Graben gerutscht und blockierte somit den einzigen gangbaren Weg. Am zweiten Tag nach Angriffsbeginn wurde meine übergeordnete Führung berechtigterweise langsam unruhig, nachdem ich melden musste, den Raum noch nicht im Ansatz genommen zu haben.
Gemeinsames Vorgehen mit den Afghanen
In den Wochen zuvor hatten wir den Auftrag, nur noch sogenannte gepartnerte Operationen durchzuführen. Das hieß, alles, was wir taten, sollte gemeinsam mit der afghanischen Polizei und dem afghanischen Militär stattfinden. So wurde mir ein Bataillon der ANAAfghan National Army (Afghan National Army) zugewiesen, das südlich von Pul-i-Kumri stationiert war und dessen Soldaten als COPs (Combat Outposts, sprich: Außenposten) entlang des Hauptflusses an zentralen Übergängen saßen.
Nach einiger Zeit zeigte mir der afghanische Kommandeur, mein „Amtskollege“, eine Straße, die auf unseren Karten gar nicht eingezeichnet war und die direkt nach Shahabuddin (ein Dorf 10 Kilometer nördlich von Pul-i-Kumri) führte. Und er bestätigte, dass diese nutzbar und IEDImprovised Explosive Device-frei sei. Und tatsächlich konnten wir diese Route ohne jeden Zwischenfall nutzen und den Raum endlich nehmen. Allerdings verzögerte sich der Reintegrationsprozess mit den zugesagten Milizen immer wieder aufs Neue. Auch extra anberaumte Konferenzen und das intensive Bemühen der gesamten Führung des RC North zeigten wenig Erfolg. Klar war jedoch, dass wir den Bereich auch nicht wieder verlassen konnten, da sonst unser Raumgewinn zunichtegemacht worden wäre.
Die Truppe war, wie befohlen, für 72 Stunden ausgerüstet und wir saßen nun im afghanischen Hochsommer, sogar noch außerhalb des bescheidenen Komforts des OP North, bereits vier Tage im Highway-Triangle fest. Diese andauernde Phase der Ungewissheit mit permanenter Bedrohung ohne großartigen Feindkontakt zehrte die Truppe merklich aus. Aufgrund der IEDImprovised Explosive Device-Bedrohung konnten wir weder vor noch zurück und der Raum musste gehalten werden. Nach zehn Tagen hatte ich hier das erste und einzige Mal in diesem Einsatz das Gefühl, dass ich abbrechen müsste und die Truppe kurz vor dem Aufgeben stand. Bis die afghanischen Milizen dann endlich kamen, waren wir anstelle von 72 Stunden fast zwei Wochen auf uns gestellt. Die Soldaten waren völlig durch.
Nunmehr ließen wir auch für diese Milizen mehrere COP errichten, um eine permanente Präsenz dieser Kräfte im Raum sicherzustellen. Zunächst blieb alles ruhig. Offensichtlich waren die Taliban der Ansicht, dass es sich um eine wie bis dahin bekannte kurze Operation handeln würde und wir wieder abzögen. Nach vier bis fünf Wochen kam dann der erste Selbstmordattentäter gezielt zum Einsatz und tötete in der Nähe von Shahabuddin mehrere Milizen. Die Aufklärung ergab darüber hinaus, dass die Taliban hier erstmals auch Kämpfer aus anderen Regionen Afghanistans einsetzten.
Dann hieß es aber, dass wir noch angrenzende Räume nehmen sollten, da die Lage in Shahabuddin durch die Milizen gesichert schien. Ich reduzierte meine eigenen Kräfte dort. Eine Kompanie war bereits zurück in Masar-i Scharif, um den Kontingentwechsel – nach sechs Monaten Einsatz – vorzubereiten, als mich der verbliebene Chef meiner 2. Kompanie eines Morgens im OP North weckte und meldete, er hätte mit den Milizen in Shahabuddin telefonisch Kontakt. Die meisten wären durch die Taliban getötet worden, der Rest geflüchtet, der Combat Outpost überrannt.
Unruhen vor der Parlamentswahl
In diesem Moment wurde mir klar, wenn wir jetzt nicht eingriffen, den COP nicht wieder nehmen würden, dann wären sechs Monate harte und blutige Arbeit meiner Truppe hier völlig umsonst gewesen. Es wäre der Eindruck bei den Taliban und – viel wichtiger – bei der Bevölkerung und unseren afghanischen Verbündeten geblieben: Die ISAFInternational Security Assistance Force geht eh, wenn es hart wird. An diesem Morgen, zwei Wochen vor unserem Out, da habe ich entschieden, dass wir handeln müssen. Dies geschah alles im Zuge der afghanischen Parlamentswahlen, die im gesamten Land traditionell zu schweren Unruhen und Angriffen führten, so auch im gesamten Verantwortungsbereich des RC North. Weder ANAAfghan National Army noch die Polizei hatten Interesse, erneut nach Shahabuddin anzutreten und erst nach heftigem Streit bekam ich Kräfte unterstellt. Während ich noch am selben Abend angreifen wollte, überzeugte mich mein Kompaniechef – zum Glück – dass wir erst unsere Kräfte sammeln sollten.
Zum ersten Mal Luftnahunterstützung
Am nächsten Morgen traten wir an. Uns kamen die Bewohner mit Sack und Pack entgegen – Autos, ein paar Karren, Hausstand, Tiere. Da wussten wir, das wird jetzt ein Problem. Die einzige Brücke über den Fluss bei Shahabuddin war durch die Taliban gesprengt worden und am anderen Ufer hatten die sich, ähnlich militärisch taktischen Grundsätzen, zur Verteidigung eingerichtet. Somit mussten wir wie in einem klassischen Szenario antreten: Abgesessene Kräfte voraus, Freikämpfen Brückenkopf, Raum ausdehnen, mit einem Brückenlegepanzer einen Übergang für die Fahrzeuge schaffen, Brücke wiederherstellen, Truppe nachschieben. Auch der nächste Tag war eine zähe Angelegenheit und wir kamen nur sehr schwer voran. Der Feind hatte sich in den Gebäuden der Ortschaften verschanzt. Auf Handgranatenwurfweite musste sich die Truppe durch die Gärten kämpfen, um diesen Feind zu werfen. Der vorn eingesetzte Zug meldete, dass aus einer feindlichen Stellung schweres Feuer kam, das den Angriff zum Erliegen brachte. Ich selbst befand mich einige Hundert Meter hinter dem Zug und musste als Ground Force Commander (Kommandant der Bodentruppen) den Close Air Support (Luftnahunterstützung) freigeben.
Das Von-vorn-Führen ist unumgänglich, um sich einen Blick für das Machbare zu verschaffen und bewerten zu können, wie es der Truppe geht. Nur so sind zweckmäßige Entscheidungen zu treffen. Und der Einsatz von Luftnahunterstützung in diesem Umfang erfolgte hier auch das erste Mal. Der militärische Führer bekommt so einen unmittelbaren Eindruck von der Lage, weil er sie selbst sieht. Man ist als Kommandeur im gleichen Dreck wie die eigenen Männer auch. Die ANAAfghan National Army hatte Gefallene, die an uns vorbei auf Lkws nach hinten gefahren wurden. Natürlich begleitete mich die Sorge, dass auch wir im Zuge des Gefechts Verluste haben könnten. Letztlich hatte meine Truppe aber Erfolg und eroberte den COP zurück. Ich wurde dann ein Jahr später für mich überraschend mit dem Ehrenkreuz für Tapferkeit ausgezeichnet.
Macht Sie es stolz, diese Auszeichnung erhalten zu haben?
Natürlich hat mich das stolz gemacht. Wir Soldaten definieren uns über Kampf, Zusammenhalt, soldatische Werte, Dienstgrade und auch über sichtbare Auszeichnungen. Ich bin aber heute noch unverändert viel mehr stolz darauf, diese unglaubliche Truppe geführt haben zu dürfen. Ich war ja nicht allein und habe den feindlichen Alarmposten geworfen. Ich wurde bewusst für eine Führungsleistung ausgezeichnet. Die konnte ich nur erbringen, weil ich eine solche Truppe hatte, die das alles geschafft hat. Und das ist als Offizier schon die höchste Bestätigung, glaube ich. Mehrere meiner Soldaten haben für ihre Leistungen im Kampf im Laufe unseres halbjährigen Einsatzes das Ehrenkreuz für Tapferkeit bekommen. Wir hatten einen Auftrag und dieser Auftrag wird nicht durch vornehme Zurückhaltung erfüllt.