Übungen sind die Währung der Abschreckung
Übungen sind die Währung der Abschreckung
- Datum:
- Ort:
- Strausberg
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- 7 MIN
Mit der Ausrufung der Zeitenwende Ende Februar 2022 nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und dem daraus resultierenden Sondervermögen wird vor allem über die materielle Ausstattung der Bundeswehr diskutiert. Die Armee soll besser auf die Landes- und Bündnisverteidigung vorbereitet sein. Dabei werden jedoch Übungen, national und multinational, von entscheidender Bedeutung sein. Sie sollen die Glaubwürdigkeit des Engagements der Bundeswehr mit real existierenden Fähigkeiten hinterlegen.
Bereits vor dem Ukrainekrieg sind mit den Reformvorhaben Trendwende Personal und Trendwende Material Maßnahmen ergriffen worden, um die Streitkräfte als Ganzes besser auf die Aufgaben der Zukunft – im Schwerpunkt für die Landes- und Bündnisverteidigung – aufzustellen. Dies und verschiedene Manöver sollen zeitnah zu sichtbaren Ergebnissen führen und das Deutsche Heer befähigen, als wichtiger Teil kollektiver Anstrengungen in Zentraleuropa eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung des Bündnisgebiets zu spielen.
Reforger-Übungen über mehr als zwei Jahrzehnte
Ein Blick zurück in die Zeit vor 1989 zeigt, welche Rolle Übungen für eine glaubhafte Abschreckung bereits früher spielten. Die Rückkehr von USUnited States-Truppen nach Deutschland (Return of Forces to Germany), sogenannte Reforger-Übungen zwischen 1969 und 1993, sollten dem Warschauer Pakt zeigen, dass die USA in der Lage waren, die Streitkräfte der NATONorth Atlantic Treaty Organization in Europa so zu verstärken, dass überlegene gegnerische Landstreitkräfte abgeschreckt werden konnten. Allein 1988 wurden bei der Übung Certain Challenge der Reforger-Serie nahezu 125.000 USUnited States-Soldaten mobilisiert. Kurz zuvor hatten im September 1987 75.000 deutsche und französische Soldatinnen und Soldaten bei der Übung Kecker Spatz die gemeinsame Verteidigung Deutschlands gegen einen Angriff des Warschauer Pakts geübt. Seitdem sind Übungen dieser Größenordnung aus Zentraleuropa weitestgehend verschwunden.
Erst nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014, aber spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat ein Umdenken eingesetzt. Denn auch wenn Übungen zur Vorbereitung von Auslandseinsätzen unverändert ihre Berechtigung haben, um Material und Personal einsatzbereit zu machen, sind die jetzt erforderlichen Größenordnungen andere. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Denn mit den gegenüber der NATONorth Atlantic Treaty Organization angezeigten deutschen Fähigkeiten zum sogenannten NATONorth Atlantic Treaty Organization Force Model steht nicht mehr das Einsatzkontingent eines Auslandseinsatzes im Fokus. Es sind nun leichte und hochmobile Reaktionskräfte der Division Schnelle Kräfte sowie eine mechanisierte Division mit zu einhundert Prozent ausgestatteten mechanisierten Brigaden und den dazugehörigen Divisionstruppen notwendig.
Neue Konzepte und Anpassungen
Das Zusammenwirken über mehrere Führungsebenen, verstärkt durch Kräfte aus anderen Organisationsbereichen, erfordert Fähigkeiten, die nur durch intensive Übungstätigkeiten geschaffen werden können. Künftig müssen daher viele neue Wege beschritten werden, neue Konzepte evaluiert und vorhandene möglicherweise angepasst werden. Hier wird in den kommenden Jahren eine erhebliche Entwicklung zu verzeichnen sein. Altbewährtes und Neues wird miteinander verknüpft werden. So werden Truppenteile anderer Organisationsbereiche in sogenannten Couleur-Verhältnissen Truppenteilen des Heeres zugeordnet. So kann bereits im Frieden bei Übungen der Zusammenhalt geschaffen werden, der für das Gefecht hoher Intensität erforderlich ist. Es ist ein Prinzip, das schon vor 1990 Anwendung fand.
Andererseits haben die Auslandseinsätze der Bundeswehr gezeigt, welche Bedeutung zum Beispiel die sanitätsdienstliche Unterstützung für die Truppe besitzt. Hier muss erst in Truppenversuchen überprüft werden, wie Landstreitkräfte zukünftig aufgestellt sein müssen, um einerseits das Gefecht für sich entscheiden zu können, und wie sie andererseits den modernen Standards sanitätsdienstlicher Versorgung gerecht werden. Aber auch die Rolle der Flugabwehr oder die Bedeutung der neu zu schaffenden Kräftekategorie Mittlere Kräfte bedürfen intensiver Übungstätigkeit, bevor diese als einsatzbereit gelten.
Neben der militärischen Notwendigkeit von Übungen sind es auch die strategischen Botschaften, die Streitkräfte zu senden in der Lage sind – und dies auch verstärkt tun müssen. Denn Abschreckung kann nur funktionieren, wenn wir glaubhaft und öffentlichkeitswirksam unsere Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Übungen sind somit das Fundament unserer Glaubwürdigkeit und die kommenden Jahre spielen dabei eine wichtige Rolle bei der Neuausrichtung der NATONorth Atlantic Treaty Organization und der Bundeswehr.
Noble Jump mit der Schnellen Eingreiftruppe
Schwerpunkt ist zunächst einmal die deutsche Beteiligung an der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Übung Noble Jump, bei der im April 2023 Teile der Schnellen Eingreiftruppe der NATONorth Atlantic Treaty Organization, der VJTFVery High Readiness Joint Task Force (L), nach Sardinien verlegen, um ihre Leistungsfähigkeit zu zeigen. Mit dabei sind Teile der Panzergrenadierbrigade 37, die sich im vergangenen Jahr intensiv auf den Auftrag als Schnelle Eingreiftruppe vorbereitet hat. Sie wird noch bis Ende des Jahres, gemeinsam mit internationalen Partnern aus Belgien, Tschechien, Lettland, Litauen, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und Slowenien sowie verstärkt aus allen anderen militärischen Organisationsbereichen der Bundeswehr das Herzstück schnell verlegbarer und einsetzbarer Landstreitkräfte der NATONorth Atlantic Treaty Organization bilden. Allein die heterogene Zusammensetzung dieses Großverbandes macht deutlich, wie wichtig gemeinsame Übungen sind. Sie fördern den inneren Zusammenhalt (Kohäsion) und die Verzahnung der Verbände (Interoperabilität), die für einen Einsatz erforderlich sind. Die Verlegung dieser Kräfte in das Mittelmeer zeigt, dass die NATONorth Atlantic Treaty Organization von ihrem 360-Grad-Ansatz nicht abgewichen ist, selbst bei einer veränderten Sicherheitslage an ihrer Ostflanke.
Unabhängig davon werden Teile der Panzergrenadierbrigade 37 im Frühjahr im Gefechtsübungszentrum Heer (GÜZ) üben. Grob skizziert: Die Truppe marschiert auf Fahrzeugen zum Truppenübungsplatz Klietz, überquert anschließend die Elbe und beginnt dann eine Übung im GÜZ – unter Führung des Panzergrenadierbataillons 371. Hinzu kommen eine tschechische Kompanie sowie deutsche Pioniere, Sanitäter und viele mehr, insgesamt 1.500 Soldaten. Parallel beginnt auf dem Truppenübungsplatz in Bergen die Übung Wettiner Heide.
Verpflichtungen des Heeres in Litauen
Trotzdem wird die Übungstätigkeit in Zentral- und Osteuropa an Bedeutung gewinnen. Hier wird in den kommenden Jahren der Schwerpunkt liegen. Das Deutsche Heer hat hierbei mehrere Übungsverpflichtungen, die 2023 zu einer erheblichen Kräftebindung führen werden. Zum einen sind dies die bereits etablierten Übungen der enhanced Forward Presence (eFPenhanced Forward Presence), der Beistandsinitiative an der Ostflanke der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Deutsche Kräfte nehmen in Litauen eine Führungsrolle wahr und üben regelmäßig unweit der Grenze zu Russland und Weißrussland gemeinsam mit litauischen und internationalen Partnern.
Die bekannte Übungsserie Iron Wolf in Litauen dient dabei insbesondere der Verbesserung der Interoperabilität sowie der Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft der litauischen Streitkräfte. Ergänzend dazu hat das Deutsche Heer seit dem 8. Oktober 2022 mit dem Forward Command Element der Panzergrenadierbrigade 41 im Rahmen der enhanced Vigilance Activities (eVAenhanced Vigilance Activities) einen weiteren Truppenteil in Litauen stationiert. Wenn es die Lage erfordert, kann der schnell mit den in Deutschland stationierten Truppenteilen der Brigade aufwachsen, um als integraler Bestandteil der nationalen litauischen Verteidigungsplanung zum Einsatz zu kommen. Ziel der Übungstätigkeiten in 2023 wird es dabei sein, bei den Übungen Griffin Lightning und Griffin Storm die Interoperabilität mit den litauischen Streitkräften zu erhöhen und gleichzeitig die zügige Verlegung eigener Truppenteile von den deutschen Standorten nach Litauen zu üben. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden den Verbänden des Heeres dienen, um diesen Auftrag ab Oktober 2023 für ein weiteres Jahr zu übernehmen.
Großmanöver in Australien geplant
Über schnell verlegbare Kräfte verfügt auch die Deutsch-Französische Brigade. Sie wird sich in den kommenden Jahren ebenfalls auf einen Auftrag an der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ostflanke einzustellen haben. 2023 sollen für mehrere Übungsvorhaben vor allem moderne französische Übungseinrichtungen genutzt werden, um sich auf die Alarmierung und eine rasche Verlegung sowie den Einsatz als geschlossener deutsch-französischer Großverband zu konzentrieren. Die dadurch gewonnenen Fähigkeiten könnten in den Folgejahren bei Verlege- und Gefechtsübungen, zum Beispiel in Litauen oder Rumänien, trainiert und gefestigt werden.
Doch Deutschland kann seinen Blick nicht ausschließlich auf die unmittelbare und – auf den ersten Blick – gefährlichste Bedrohung richten. Die Diskussionen hinsichtlich der strategischen Rivalität mit China, der daraus resultierenden Bedrohung einer werte- und regelbasierten Weltordnung unter Berücksichtigung der Wahrung von Grund- und Menschenrechten sowie der Souveränität aller Staaten, hat auch in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zum Umdenken geführt. Ausdruck findet dies unter anderem in den Indo-Pazifik-Leitlinien der Bundesregierung. In ihr wurde vor nunmehr zwei Jahren klar zum Ausdruck gebracht, dass unter anderem durch intensivere Zusammenarbeit bei gemeinsamen Übungen und Ausbildungen die Kooperation mit Partnerstreitkräften im indo-pazifischen Raum gestärkt werden soll.
2022 stand dabei ganz im Zeichen von Marine und Luftwaffe, während das Deutsche Heer im Juli/August 2023 an der Übung Talisman Sabre in Australien teilnehmen wird. Neben Kräften des Seebataillons und der Luftwaffe wird hierbei eine Infanteriekompanie des Heeres erstmals unter Führung eines australischen Großverbandes in einem herausfordernden Szenario luftbewegliche Operationen durchführen und dabei auch mit weiteren Partnern in der Region zusammenarbeiten. Dies werden, neben Australien, vor allem die Vereinigten Staaten, Indonesien, Südkorea und Japan sein.
Vorbereitungen für Quadriga 2024
Für 2023 kann also festgehalten werden, dass dem Deutschen Heer ein intensives Übungsjahr bevorsteht. Damit werden auch die Voraussetzungen für 2024 geschaffen. Im kommenden Jahr werden in dem Übungscluster namens Quadriga eine Vielzahl von Übungsvorhaben zusammengefasst. Sie sollen die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr steigern und ein sichtbarer Beitrag zur Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATONorth Atlantic Treaty Organization leisten. Deutschland bekräftigt dadurch seine Verlässlichkeit für Alliierte und multinationale Partner. Es wird das größte Übungsvorhaben der Bundeswehr der letzten 30 Jahres sein. Dabei werden Truppenteile des Heeres in ganz Europa, von Norwegen bis Rumänien, in Deutschland und im Baltikum gemeinsam mit ihren Partnern ihre Reaktionsfähigkeit für die Landes- und Bündnisverteidigung unter Beweis stellen. Die kommenden zwölf Monate gilt es hierfür intensiv zu nutzen.
Autor:
Der Autor des Beitrages, Oberst Dirk Hamann, ist seit Oktober 2022 Leiter des neu aufgestellten Referats Übungen im Kommando Heer in Strausberg und verantwortlich für die Übungskoordination sowie die Übungsplanung Quadriga 2024.