Keine Zeit zum Warten
Keine Zeit zum Warten
- Datum:
- Ort:
- Wildflecken
- Lesedauer:
- 5 MIN
Der selektive Schuss ist eine besondere Fähigkeit der Spezial- und Spezialisierten Kräfte. Sie sind dazu ausgebildet, binnen Millisekunden entscheiden zu können, ob sie schießen oder nicht. Warum müssen Soldaten, wie die speziell auf sensitive Operationen trainierten Fallschirmjäger mit Erweiterter Grundbefähigung (EGBErweiterte Grundbefähigung), diese Fähigkeit haben?
Im Nebel stehen sie vor dem Eingang eines Gebäudes, mitten im feindlichen Gebiet. Innen soll sich eine Person aufhalten, die von den EGBErweiterte Grundbefähigung-Soldaten lebend festgesetzt werden muss, Zielperson genannt. In wenigen Sekunden wird die Sprengladung an der Tür detonieren und den Soldaten den Zugang in das Gebäude ermöglichen. Dann zählt jede Sekunde. Was wird sie im Innern, in der Dunkelheit erwarten? Bewaffnete Kämpfer, Sprengfallen, unschuldige Zivilisten: Sie sind auf Vieles präzise vorbereitet, aber ein gewisser Moment der Überraschung, der Ungewissheit lauert hinter jeder Tür. Um in diesem Gebäude zu überleben und keine unschuldige Person zu gefährden, ist der sogenannte selektive Schuss eine Grundlage. Mit dieser Fähigkeit können EGBErweiterte Grundbefähigung-Soldaten jederzeit, auch unter enormem Stress zwischen Schießen und Nichtschießen entscheiden.
Ihr Grundsatz: Der Schutz Unbeteiligter
Ein Grundsatz der EGBErweiterte Grundbefähigung-Kräfte ist, dass sie nicht jede Person mit der Waffe bedrohen, die sich in ihrem Verantwortungsbereich, wie in einem Gebäude, aufhält. Sie handeln nach dem absoluten Leitsatz, jegliche Kollateralschäden sind zu vermeiden, Zivilisten sind zu schützen und nur unmittelbare Bedrohungen auszuschalten. Dabei ist der selektive Schuss keine Fähigkeit, die jeder Soldat per se mitbringen muss, sondern er wird sehr intensiv und gezielt in der Ausbildung bei den EGBErweiterte Grundbefähigung-Kräften geübt. So trainieren die Soldaten immer im scharfen Schuss, etwa mit Zielscheiben, die beispielsweise unterschiedliche Silhouetten haben. Sie üben häufig in Schießhäusern, in denen unzählige Raum- und Personensituationen variabel dargestellt werden können.
Der selektive Schuss
Was sehen die EGBErweiterte Grundbefähigung-Soldaten durch ihr Visier, worauf achten sie? Die Soldaten sind darauf trainiert, zunächst auf die Hände zu achten. Das heißt, wo sind die Hände des Angreifers oder der Zielperson? Stellt die Person wirklich eine Bedrohung dar? Muss der Soldat sie mit Waffengewalt bekämpfen oder reicht auch eine andere nicht letale Maßnahme aus? Es zählt: „Je schneller gehandelt wird, desto besser“, erklärt EGBErweiterte Grundbefähigung-Zugführer und Ausbilder vom Fallschirmjägerregiment 26 aus Zweibrücken, Hauptfeldwebel Thorsten Riege*. „Wir legen keinen Zeitrahmen fest, aber der Soldat muss innerhalb von Millisekunden erkennen, ob er schießen soll oder nicht. Wir reden immer von drei Punkten: vom sauberen Wahrnehmen, Erkennen und Auffassen. Zunächst nehme ich etwas wahr. Im zweiten Schritt erkenne ich gegebenenfalls, dass es sich um eine Bedrohung für mich handelt. Im dritten Schritt fasse ich es auf, gehe ins Ziel und greife es im Notfall an. Besonders auffällig ist, dass der Gegner nie nur mit einem Schuss bekämpft wird. In der Regel wirkt der Soldat mit seiner Waffe so lange auf sein Ziel, bis der Feind auch wirklich ausgeschaltet ist.
Verschiedene Arten von Personen
Es gibt verschiedene Arten von Personen, die unterschiedlich behandelt werden. Man unterscheidet zwischen „Papas“ und „Tangos“. Tango steht für Target, also ein Ziel. Der Tango stellt für den EGBErweiterte Grundbefähigung-Soldaten eine klare Bedrohung dar, weil er ihn in einer aktiven Waffenhaltung bedroht. Und es gibt Papas, angelehnt an das P aus dem NATONorth Atlantic Treaty Organization-Alphabet. Das P steht für persons, also auf den ersten Blick unbewaffnete Personen, die sich im Verantwortungsbereich der Spezialisierten Kräfte aufhalten. Die Papas müssen im Rahmen des Angriffs trotzdem mit aller Konsequenz und mit einer bestimmenden Art behandelt werden. Schließlich können auch sie versteckt eine Waffe tragen und feindliche Absichten haben. Man spricht vom Dominieren des Papas. Dominieren heißt, der Papa wird fixiert und an jeglichem Handeln gehindert. Dann wird der Papa schnell durchsucht und mit Handschellen oder Kabelbindern fixiert, um die eigene Truppe während der Operation zu schützen. Papas werden immer bewacht und im Anschluss gezielt mit Gehörschutz und verbundenen Augen rausgeführt, um keine Details der eigenen Operation preiszugeben.
Warum nicht die normale Truppe?
Nicht jeder Soldat der Bundeswehr ist im selektiven Schuss ausgebildet. Einerseits fehlen wichtige Ausbildungen und Sicherheitsfreigaben, wie die Erlaubnis zum Wirken im 5-Grad-Winkel, bei dem die Spezialisten auch in nächster Nähe an ihren Kameraden vorbeiwirken können. Andererseits ist dafür ein spezieller Auftrag notwendig. Denn die EGBErweiterte Grundbefähigung-Soldaten brauchen diese Fähigkeit für ihr Wirken in einem sensitiven Umfeld. Gerade hier kommt es auf die sichere und stressresistente Schussabgabe an. „Als Spezialisierte Kräfte des Heeres mit Erweiterter Grundbefähigung sind wir genau dafür da, gezielt und sensitiv vorzugehen“, so Riege. Die Fähigkeiten zu erhalten, ist allerdings sehr trainingsintensiv. Nicht jeder Truppenteil der Bundeswehr kann sich solch ein Training von der Zeit her erlauben. Neben der besonders intensiven und spezialisierten Ausbildung steht den EGBErweiterte Grundbefähigung-Kräften auch eine besondere Ausstattung für ihren Auftrag zur Verfügung, die sie von der Masse der Truppe unterscheidet. So besitzen sie einen neuen Gefechtshelm, an dem verschiedene Elemente angebracht werden können, arbeiten mit Sprengladungen oder nutzen eine leicht bedienbare Funkausstattung sowie einen Mix aus Waffen, der sich besonders für den Kampf in urbanem Gelände eignet.
Das G36K A4: Das Sturmgewehr der EGBErweiterte Grundbefähigung-Kräfte
Die Infanteristen nutzen, wie fast alle Soldaten der Bundeswehr, das Sturmgewehr G36. Ihre Version unterscheidet sich allerdings deutlich von dem in der Truppe verwendeten Modell. Es ist das besonders kurze und in engen Räumen leichter bedienbare Sturmgewehr G36K A4. Diese Waffe ist im Unterschied zum Standard-G36 nicht nur kürzer. Es hat auch besondere Optiken montiert, die sich besonders für den Einsatz in Gebäuden eignen. Es verfügt über ein Leuchtpunktvisier, auch bekannt als EOTech-Visier, und einen zusätzlichen optischen Booster mit Dreifach-Vergrößerung, der variabel bei Bedarf einfach hinter das EOTech-Visier geklappt wird, um auch Ziele auf größerer Entfernung außerhalb der Objekte bekämpfen zu können. Zusätzlich hat die Waffe ein sogenanntes Laser-Licht-Modul, eine Art Taschenlampe an der Vorderseite der Waffe, mit dem die Soldaten auch in dunklen Räumen zielsicher schießen können. Mit dem zusätzlichen Triangle-Griff kann die Waffe leichter und angenehmer gegriffen und präziser geführt werden.
Der kleinste Fehler kann fatale Folgen haben
Jeder EGBErweiterte Grundbefähigung-Soldat lernt den selektiven Schuss in seiner Basisausbildung. Aber auch nach der Ausbildung und regelmäßigem, intensiven Training als aktiver EGBErweiterte Grundbefähigung-Soldat könne man gar nicht sagen, man sei fertig ausgebildet, so der Zugführer der EGBErweiterte Grundbefähigung-Spezialisten aus Zweibrücken. Die Leistungen der Soldaten, ihre Reaktionsschnelligkeit und Wahrnehmungsfähigkeit sind auch tagesformabhängig. „Wenn man mit dem Kopf nicht dabei und nicht konzentriert ist, dann nimmt man Dinge möglicherweise falsch wahr. Das wiederum führt zu Fehlern und im schlimmsten Fall zum Tod einer unschuldigen Person.“ Deshalb zählen bei jeder Mission klarer Verstand, Robustheit, aber auch die Fähigkeit, seine eigenen Fähigkeiten realistisch einschätzen zu können.
*Name zum Schutz des Soldaten geändert