Über die eigenen Grenzen gehen
Über die eigenen Grenzen gehen
- Datum:
- Ort:
- Gao
- Lesedauer:
- 9 MIN
Als ich in das Flugzeug Richtung Mali stieg, hätte ich als Informationsfeldwebel des Deutschen Heeres nie gedacht, welch interessante und aufregende Momente mich in Afrika erwarten würden. Zusammen mit knapp 150 Soldatinnen und Soldaten machte ich mich auf den Weg, um bei der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen (MINUSMAMission Multidimensionnelle Intégrée des Nations Unies pour la Stabilisation au Mali) eingesetzt zu werden.
Vor mir lag nicht nur ein über sechsstündiger Flug nach Bamako, in die Hauptstadt Malis, sondern auch ein viereinhalbmonatiger Einsatz im Norden des Landes. In Gao, etwa 1.200 Kilometer nordwestlich von Bamako entfernt, sollte ich im 12. Deutschen Einsatzkontingent als Informationsfeldwebel dienen – eine Aufgabe, die ich bereits in der Heimat seit Jahren erfülle. Für Mali bedeutete das, als Redakteurin und Fotografin über die Aufträge der Soldaten vor Ort zu berichten. Im Vorfeld hatte ich dafür einige Lehrgänge besucht. Ich lernte nun zusätzlich mit der Kamera umzugehen sowie Texte strukturiert, lebendig und interessant zu schreiben. Zur Einsatzvorbereitung gehörte neben der fachlichen auch eine spezielle militärische Ausbildung wie bei jedem Soldaten, der im Ausland eingesetzt wird. Dies empfand ich als sehr nützlich, da mir als Nicht-Infanterist Kenntnisse wie beispielsweise taktisches Vorgehen bei einer Patrouille nicht vertraut waren. Es stellte sich später heraus, dass ich in Mali häufig auf das Wissen, das mir während der Lehrgänge vermittelt wurde, zurückgreifen konnte und musste.
Sachen packen und los
Nun saß ich in Köln im Flieger – im Gepäck zwei Rucksäcke und meine Schutzweste. Die andere Ausrüstung wie Uniformen, Zusatzausstattungen, Sportsachen und private Dinge wie Bettwäsche befanden sich bereits in Gao. Das alles hatte seine Reise vier Wochen vor meinem Einsatz nach Mali angetreten. Im Vorfeld war ich dafür neu eingekleidet worden. Ich hatte zusätzliche Uniformen, neue Stiefel, Nässeschutz und weitere Ausrüstung, wie einen Trinkrucksack und einen Tropenschlafsack, erhalten. Etwas zögerlich packte ich sogar Thermokleidung als Kälteschutz ein, wobei ich daran zweifelte, dass sie in der Wüste notwendig werden würde. Dass ich mir wenige Wochen später zu dieser Eingebung gratulieren würde, weil ich es vor Kälte kaum aushielt, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar.
Die Externe
Nach dem langen Flug landeten wir schließlich in Bamako und mussten noch eine Nacht am Flughafen verbringen. Bereits im Flieger nach Gao kam ich mit einigen Soldaten ins Gespräch. Im Gegensatz zu mir kannten sich die anderen bereits, da sie alle aus dem Gebirgsjägerbataillon 233 aus Mittenwald stammten. Für einen Informationsfeldwebel ist es nichts Neues, als Externer zu einer Truppe dazugesteckt zu werden. Wir arbeiten meist allein oder in kleinen Teams und sollten keine Probleme haben, schnell Anschluss zu finden. Bereits beim normalen Small Talk mit den Soldaten ergeben sich erste Ideen für einen späteren Artikel. Jeder Soldat kann ein Protagonist sein, über den man eine Geschichte schreiben könnte.
Hitzeschock bei 45 Grad
Als ich am nächsten Tag endlich mein Ziel, das Camp Castor in Gao, erreicht hatte, prallte ich auf eine Hitzewand. Anders als in Bamako war es im Norden des Landes gefühlt noch viel heißer und trockener als 1.000 Kilometer südlich. Ich brauchte zwei Wochen, um mich an die extremen Tagestemperaturen von über 45 Grad zu gewöhnen. Die Unterbringung in Containern hingegen kannte ich bereits von einem Lehrgang während der Einsatzvorbereitung. Allerdings waren meine Aufgaben im Gegensatz zur heimatlichen Verwendung deutlich erweitert. Ich übernahm die Verantwortung für das komplette Kameramaterial des Public Affairs Office. Anders als in Deutschland, wo den Job hinter der Kamera grundsätzlich ausgebildete Fotofeldwebel übernehmen, war ich im Einsatz nun sprichwörtlich die eierlegende Wollmilchsau.
Kleine Kampfgemeinschaft
Mein Team bestand aus einem Pressestabsoffizier und einem weiteren Informationsfeldwebel. Zu dritt saßen wir als kleine Kampfgemeinschaft in einem Containerbüro und erfüllten unsere Aufträge motiviert und mit viel Teamgeist. Mein Feldwebelkamerad und ich waren neben der Presseauswertung mit den beinahe täglichen Fototerminen, dem Befüllen und Melden von Listen an das Einsatzführungskommando und der Artikelrecherche immer sehr gut beschäftigt. „Blutsturzaktionen“, wie sie mein Kamerad immer nannte, gehörten zum Alltag dazu. Dies beinhaltete meist Aufträge wie sehr kurzfristige Gruppenbilder, Fototermine mit Gästen, die der Kontingentführer empfing, oder ungeplante Lageänderung bei Übungsvorhaben im Lager. Kurzum: Langeweile war uns ein Fremdwort.
Die Geschichten liegen auf der Straße
Nach einer gewissen Zeit im Camp war unser Team vom Public Affairs Office überall bekannt. Man fällt eben auf, wenn man plötzlich mit einer Kamera „bewaffnet“ auftaucht oder bei wichtigen Ereignissen immer ganz vorn steht, um alles fotografisch festzuhalten. Dabei stellte ich schnell fest, dass die gewünschten Gruppenbilder der Soldaten meist unsere Eintrittskarte für eine anschauliche Berichterstattung waren. Man kam schnell ins Gespräch mit der Truppe. Und so ergaben sich auf einmal Themen, über die es sich zu schreiben lohnte. Getreu dem Motto: „Die Geschichten liegen auf der Straße, man muss sie nur sehen“, dauerte es nicht lange und ich hatte meine ersten spannenden Themen, über die ich berichtete. Auf diese Art und Weise konnte ich gemeinsam mit den Soldaten interessante Beiträge produzieren. Dabei denke ich sehr gern an die Texte über die Hunde der Feldjäger, die Feuerwehr im Camp Castor und den Gun-Shop zurück. Dort erhalten Soldaten Dinge zur Instandhaltung der Waffen und Waffensysteme.
Wie in einem Film
Meine spannendsten Erlebnisse und die nach meiner Einschätzung besten Bilder und Texte konnte ich gemeinsam mit der Force Protection, der Objektschutzkompanie des Kontingentes, produzieren. Die Gebirgsjäger aus Mittenwald ermöglichten es mir wiederholt, sie bei ihren Aufträgen außerhalb des Camps zu begleiten und darüber zu berichten. Ich durfte mehrmals bei Patrouillen dabei sein und begleitete eine internationale Lufttransportübung. Eine Fotogeschichte entstand darüber, wie ein abgenutzter Transportpanzer Fuchs nach Deutschland verfrachtet wird und ein neuer ankommt. Ich denke wahnsinnig gern an die aufregende und spannende Zeit zurück, die ich mit den Gebirgsjägern erlebt habe, auch wenn ich manchmal überrascht dachte, ich sei in einem Film.
Tag und Nacht unterwegs
Meine erste Patrouille war für mich in zweifacher Hinsicht eine Premiere. Ich trug zum ersten Mal die komplette Gefechtsausrüstung und natürlich meine Kameraausstattung und fragte mich bereits nach den ersten hundert Metern, wie ich diesen Tag überstehen sollte. In der brennenden Sonne marschierten wir durch eine karge, sandige Landschaft. Es war wirklich nicht einfach, nebenbei noch gute Fotos zu machen, sich nicht anmerken zu lassen, dass die Füße immer schwerer wurden und die Schutzweste schmerzend auf den Schultern hing. Innerlich fluchte ich und kam mir wie ein Packesel vor. Doch das Gefühl am Ende des Tages, als ich es geschafft hatte und endlich die Bildergebnisse auf dem Rechner sah, ließen mich meine persönlichen Leiden vergessen. So dauerte es nicht lange, bis ich wieder mit der Force Protection unterwegs war. Neben einer Nachtpatrouille durch die Stadt Gao war eine zweitägige Aufklärungsfahrt mein absolutes Highlight – zumindest bis dahin.
Die Gespräche mit der malischen Bevölkerung, die beeindruckende und vielfältige Landschaft auf dem Patrouillenweg und die Übernachtung im Freien, weit weg vom Camp und unter dem diamantenbesetzten, afrikanischen Sternenhimmel werde ich nie vergessen. In jener Nacht verstand ich auch, warum es absolut Sinn macht, in einer Wüste seinen Kälteschutz in greifbarer Nähe zu haben. Ich habe lange nicht mehr so gefroren wie in diesen Stunden in meinem Schlafsack auf dem Feldbett.
Keine Zeit zum Nachdenken
Dass man als Informationsfeldwebel in Situationen geraten kann, in denen man über sich hinauswächst und keine Zeit zum Überlegen hat, zeigte mir später ein weiteres Erlebnis: Mit der Absicht, die Lufttransportübung der Force Protection gemeinsam mit den rumänischen Piloten und ihren Transporthubschraubern zu fotografieren, ging ich zu dem vereinbarten Treffpunkt. Noch ehe ich mich versah, hatte ich einen Helm auf dem Kopf, die Schutzweste an und war mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Ich galt von jetzt an als vollwertiger Soldat der Infanteriegruppe, mit einer Ausnahme – ich hatte zusätzlich meine Kamera dabei. Noch bevor ich wirklich darüber nachdenken konnte, befand ich mich mit den Gebirgsjägern bereits im Hubschrauber. Wir gewannen an Höhe und Sekunden später erblickte ich unter mir die beeindruckende Landschaft Malis. An der offenen Tür saß ich nun, gesichert mit Gurten und konnte fantastische Bilder machen.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt
Bei jeder Landung, jeder Sicherung der Landezone und jedem erneuten Aufsitzen auf dem Hubschrauber war ich eingegliedert in die Gruppe und musste mich an die festgelegten Abläufe halten. Nebenbei hielt ich die Kamera hoch und drückte ab. Zeit zum Fokussieren oder den perfekten Bildausschnitt festzulegen, gab es nicht. Es musste immer alles ganz schnell gehen und ich betätigte den Auslöser nur nach Gefühl, in der Hoffnung, dass wenigstens ein paar brauchbare Bilder dabei sein würden. Nach etwa zwei Stunden landeten wir wieder im Camp.
Ich hatte gefühlt eine Tonne Sand in meinem Haar und an jeder Stelle meines Körpers, war klitschnass geschwitzt und erschöpft, aber überglücklich über das Erlebte. Mit großer Überraschung stellte ich anschließend fest, wie gut die Bilder geworden waren und mit wie viel Glück ich immer im richtigen Moment die verschiedenen Einstellungen vorgenommen hatte. Am Ende konnte ich gemeinsam mit den Soldaten beider Nationen einen tollen Beitrag erstellen, der neben der regulären Internetseite auch auf Social-Media-Seiten veröffentlicht wurde. Die vielen Likes und positiven Kommentare waren für mich wie ein Ritterschlag.
Kinderlachen berührt
Weniger actionreich, dafür aber genauso nachhaltig ist mir ein weiteres Erlebnis in Erinnerung geblieben: mein damals erster Auftrag außerhalb des Camps. Als Fotografin begleitete ich den Interkulturellen Einsatzberater und sein Team, die ein Kinderheim in Gao besuchten. Es war schockierend zu sehen, wie die Bevölkerung in der Stadt und die Kinder im Heim lebten. Alles war bedeckt von Müll. Tiere liefen durch die Gegend. Ein beißender Gestank lag in der Luft. In den Straßen Gaos waren überall Menschen. Das Kinderheim war spärlich eingerichtet und es gab kaum Spielsachen. Und trotzdem lachten die Kinder, waren fröhlich, aufgeschlossen, neugierig – an mir und besonders an meiner Kamera interessiert. Ich habe in der kurzen Zeit im Heim mehr strahlende Kinder fotografiert, als ich sie jemals in dieser Stadt vermutet hätte.
Ich habe mich verändert
Insgesamt habe ich fast 19 Wochen in Mali verbracht. Eine Zeit, die ich keine Sekunde bereue. Ich habe als Informationsfeldwebel bewegende Momente erleben dürfen, habe Erfahrungen gesammelt und sehr viel gelernt. Ich habe als Soldat eine neue Form der Kameradschaft kennengelernt, bin an meine Grenzen gekommen und darüber hinausgegangen. Und ich habe als Mensch persönliche Höhen und Tiefen erlebt, habe gezweifelt und neuen Mut gefasst. Vor der Aufgabe in Mali hatte mir ein Kamerad gesagt: „Jeder Soldat, der aus dem Einsatz kommt, lässt etwas da und nimmt etwas mit.“ Und er hat recht. Ein Auslandseinsatz kann viel verändern, aber genau diese Veränderungen sind es, die man braucht, um sich zu entwickeln und neue Perspektiven zu gewinnen.