Heereschef Mais: „Wir wollen die Sichtbarkeit unserer Versehrten erhöhen“
Heereschef Mais: „Wir wollen die Sichtbarkeit unserer Versehrten erhöhen“
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Seit 30 Jahren ist das Heer gemeinsam mit Verbündeten und Partnern weltweit im Einsatz. Nicht wenige Soldatinnen und Soldaten haben für die Entscheidung, ihrem Land zu dienen, einen hohen Preis bezahlt. Jetzt erzählen 17 Versehrte in einem authentischen Buch ihre eigene Geschichte.
„Aus irgendeinem Grund war meine Frontscheibe geborsten. Was zur Hölle war hier los? (…) Plötzlich merkte ich, wie eine Flüssigkeit über mein Gesicht und meinen Bart rann. Als ich danach tastete, färbte sich meine Hand blutrot.“
Faisabad, Afghanistan, Sommer 2010. Als Kraftfahrer überlebt Felix Rauer nur knapp einen Sprengstoffanschlag, lebt heute mit Versehrung. 13 Jahre später berichtet der Hauptfeldwebel bei einer Buchvorstellung in Düsseldorf von seinen persönlichen Erlebnissen. Am 14. September 2023 feiert das Werk mit dem Titel: „Über Leben“ sein Debüt. „Es soll zu einem offenen und respektvollen Umgang mit den Themen Tod und Verwundung beitragen, mit inspirierenden Geschichten helfen“, erklärt der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, vor den zahlreichen Kameraden und Gästen aus Politik und Gesellschaft den tiefen Sinn des Buches. „Es ist unser Anliegen, die Sichtbarkeit unserer Versehrten zu erhöhen. Ihre Geschichten von den Umständen Ihrer Versehrung haben mich, haben viele von uns berührt. Sie werden auch andere Leserinnen und Leser berühren und damit zu Veränderungen führen, die so vielleicht sonst nicht möglich gewesen wären.“
Das Hilfesystem für Betroffene könnte besser sein
Auch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Eva Högl würdigt das beispielhafte Projekt in ihrer Laudatio: „Das Buch ist bewegend, es ist bewundernswert. Es enthält 17 sehr persönliche, sehr ehrliche, sehr schonungslose Beschreibungen von sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen, Verwundungen und ihren Folgen. Diese Schicksale geben Beispiel und machen vielen anderen Mut.“ Auch das nationale Hilfesystem für Betroffene sei mittlerweile beispielhaft, biete jedoch Verbesserungsmöglichkeiten: „Kein Hilfesystem ist so gut, dass wir nicht noch besser werden können.“ Die authentischen Beschreibungen und Anregungen der Soldaten würden dabei auf politischer Ebene helfen, so Högl.
Stabsfeldwebel Patrick Bonk ist Mitautor des Buches und Betroffener. Auch er ist davon überzeugt, mit seiner individuellen Geschichte etwas beitragen zu können. Seit Jahren gehe es ihm nicht um Mitleid oder Lob. Er muss sich gerade als PTBSPosttraumatische Belastungsstörung-erkrankter Soldat hingegen permanent darum bemühen, dass die anderen anerkennen, dass er bestimmte Dinge einfach nicht mehr leisten kann: „Bei einem körperlich geschädigten Kameraden sind die Gründe offensichtlich, bei uns nicht. Ein seelisch verwundeter Soldat muss ständig kämpfen, um die Akzeptanz in der Truppe und zuhause. Dass ich als Protagonist an dem Buch teilhaben konnte, macht es mir einfacher. Ich muss nicht mehr so viel erklären.“
Ein Ort für Respekt und Verständnis
Der Ort des Buchdebüts ist kein Zufall und wurde gezielt auf die Invictus Games gelegt, die in der sechsten Wiederholung erstmalig in Deutschland stattfinden. Das internationale Sportfestival wurde 2014 durch Prinz Harry, The Duke of Sussex, ins Leben gerufen. Der Sohn des britischen Königs ist selbst Einsatzveteran und engagiert sich, gemeinsam mit seiner Frau Meghan (Duchess of Sussex), öffentlich für soziale Zwecke, insbesondere für versehrte Soldatinnen und Soldaten.
Mit den Invictus Games soll gezielt erreicht werden, dass an Seele und Körper verwundeten, verletzten und erkrankten Soldaten eine größere Wahrnehmung, ein besseres Verständnis und Anerkennung in der Gesellschaft zuteil wird und ihr Weg in der Rehabilitation unterstützt wird.
Unter dem Motto „A Home for Respect“ begrüßt Düsseldorf gemeinsam mit der Bundeswehr rund 500 Wettkämpferinnen und Wettkämpfer aus 21 Nationen sowie rund 1.000 Familienangehörige und Freunde zu Wettkämpfen in zehn Disziplinen.
Tod und Verwundung dürfen keine Tabu-Themen sein
Passend dazu soll das Buch „Über Leben“ Einblicke in die Gedankenwelt Einsatzversehrter eröffnen und ihnen eine Stimme in den Streitkräften geben. Die Befassung mit Tod und Verwundung ist schwierig, aber unweigerlich verbunden mit dem Soldatenberuf. Hier soll es ein Zeichen für gelebte Erinnerungskultur setzen und den respektvollen, offenen Umgang mit diesen Themen fördern, ganz im Zeichen der Spiele.
Im Buch berichten die Soldaten von den Umständen ihrer Versehrung, von ihren Ängsten und Sorgen, von bürokratischen Hürden – aber auch davon, was ihnen beim Umgang mit ihrer Erkrankung geholfen hat. Der Respekt und die Anerkennung gelten nicht nur denen, die auf einem guten Weg sind, sondern auch jenen, die täglich mit den Folgen ihrer Vergangenheit zu kämpfen haben. Es soll ihnen und ihren Angehörigen Mut machen, nach vorn zu schauen. Der Herausgeber ist der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, der das Buch vor rund anderthalb Jahren initiierte. Das Buch enthält neben den bewegenden individuellen Geschichten zusätzliche Perspektiven auf die Thematik, darunter eine medizinische Einordnung durch Generalstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann, ein Geleitwort von General a.D. Markus Kneip, der selbst im Einsatz schwer verwundet wurde, sowie geistliche Überlegungen des Katholischen Militärbischofs, Dr. Franz Josef Overbeck. Nach der bewegenden Präsentation des Buches auf dem Gelände der Spiele resümiert der Chefredakteur des Projekts, Major Marco Heß: „Ich hätte mir kaum vorstellen können, wie viel Freude man empfinden kann, wenn man die 17 Kameraden vor den vielen Menschen stehen sieht und sie ihr Buch mit einem Lächeln in der Hand halten. Man muss es einfach lesen.“
Emotionale Auszeichnung vor Angehörigen und Kameraden
Neben der Buchpräsentation zeichnet Mais insgesamt weitere 17 Angehörige des Heeres mit dem diesjährigen Bestpreis für Innere Führung aus, von der Mannschaftssoldatin bis hin zum Oberst. Unter dem Motto „Respekt!“ werden Soldaten ausgezeichnet, die im Alltag die Werte im Umgang mit ihren Kameraden vorbildlich und selbstverständlich vorleben und in ihren Dienst miteinbeziehen. Im Rahmen der Challenge Innere Führung, eines heeresweiten Projekts, wurden die Ausgezeichneten durch ihre Kameraden vorgeschlagen. Sie wussten bis zur Verleihungszeremonie nicht von den Umständen ihrer Würdigung. Warum? Ihre Auszeichnung sollte überraschend in einem würdigen, respektvollen Rahmen erfolgen – eine besondere Ehrung.
„Die Innere Führung beschreibt die Grundlage für die tägliche Dienstgestaltung der Soldaten. Sie gibt moralischen Halt, um den besonderen Anforderungen unserer Berufung gerecht werden zu können“, ordnet der Heereschef ein. Die Innere Führung bildet die Wertebasis aller Bundeswehrsoldaten. „Alle, die sich dieser Challenge, rund um die Innere Führung gestellt haben, haben sie als Konzept gestärkt und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar“, bedankt sich Mais persönlich bei den Preisträgerinnen und Preisträgern abschließend.