Ukraine

„Das Ausmaß der Zerstörung kann man sich zu Hause nicht vorstellen“

„Das Ausmaß der Zerstörung kann man sich zu Hause nicht vorstellen“

Datum:
Ort:
Berlin
Lesedauer:
3 MIN

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Sirenen heulen auf, die Luftabwehr schlägt Alarm. Die Menschen in Kyjiw  flüchten in Keller, Bunker oder U-Bahnhöfe. Über der Stadt kreisen russische Drohnen, Marschflugkörper suchen ihre Ziele. Oberst i. G. Sven Hilgefort bleibt stundenlang im Keller seines Hauses. Die Mauern wackeln, er spürt die Vibrationen der Einschläge.

Ein Mann im Porträt

Oberst i. G. Sven Hilgefort, deutscher Militärattaché in der Ukraine

Bundeswehr/Kuk

Der deutsche Militärattaché in der Ukraine kann sich an den 10. Oktober 2022 genau erinnern: „Das war der Beginn von wochenlangen Luftangriffen auf die Stadt. Damals verfügte die Ukraine noch nicht über eine moderne, ausgebaute Luftverteidigung. Kyjiw war den Attacken fast schutzlos ausgeliefert.“ 

Auch unweit der deutschen Botschaft schlagen zwei Raketen ein. Bis in den Winter hinein greift die russische Armee immer wieder die Infrastruktur der ukrainischen Hauptstadt an. Der Strom fällt aus, die Wasserversorgung bricht zusammen. Es geht nicht um militärische Ziele: Russland versucht, den Willen der Menschen zu brechen. 

Hilgefort und die anderen Botschaftsmitarbeiter verbringen Nächte in Kellern. „Das Sicherheitsteam wollte uns zusammenhaben, falls wir evakuiert werden müssen“, schildert er die damalige Situation. So wie im Februar 2022, als der russische Angriffskrieg begann und das gesamte diplomatische Personal aus der Ukraine abgezogen wurde. Im folgenden Mai kam ein kleines Team rund um den Botschafter zurück. Hilgefort stieß im September 2022 dazu und erlebt seitdem Russlands brutalen Angriff hautnah.

Mitten im Kriegsgebiet

„Alle Botschaftsmitarbeiter sind freiwillig hier und mit viel Herzblut dabei. Anders ginge es auch nicht“, sagt der Oberst. Familienangehörige dürfen nicht mit. Denn der Krieg ist allgegenwärtig. Es vergeht kein Tag in der Ukraine ohne Kämpfe, Zerstörungen und Todesopfer. 

Der frühere Tornado-Waffensystemoffizier ist kurzfristig als Militärattaché eingesprungen und kennt die Region sehr gut. Er war bereits Militärattaché in Belarus, Russlands Verbündetem, und zuletzt Luftwaffenattaché in Moskau, ehe er im April 2022 von der russischen Regierung ausgewiesen wurde und das Land innerhalb von fünf Tagen verlassen musste. 

Rund zwei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine mittlerweile. Tausende Soldaten und Zivilisten sind getötet worden. In den von Russland besetzten Gebieten sind schwerste Kriegsverbrechen dokumentiert. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen. Die Ukraine kämpft um ihr Überleben als Staat. „Ohne internationale Unterstützung hätte die Ukraine den Krieg längst verloren“, sagt Hilgefort.

Ein baldiges Ende kann er nicht erkennen. „Keine Seite konnte in den vergangenen Monaten entscheidende Fortschritte machen“, erklärt er. Was viele unterschätzen: Auch die Fronten zwischen den Bevölkerungen beider Länder sind verhärtet. Eigentlich gibt es viele familiäre und freundschaftliche Verflechtungen zwischen ihnen. „Ich höre oft, dass die Menschen nicht mehr miteinander sprechen“, sagt Hilgefort. Es ist nicht nur ein Krieg einer kleinen Machtelite um Putin. „Viele Leute in Russland glauben an die staatliche Propaganda, dass die Ukraine eine Gefahr für ihr Land sei.“ Und wenn man den Umfragen glauben kann, unterstützt ein großer Teil der Bevölkerung Russlands den Krieg.

Der Militärattaché ist im ganzen Land unterwegs. Direkt an die Front darf er aus Sicherheitsgründen nicht. „Die internationalen Kräfte sind zwar kein unmittelbares Ziel, aber so genau sind die russischen Raketen nicht. Wir müssen vorsichtig sein“, sagt Hilgefort.

In den Pufferzonen hinter der Front erläutern ihm ukrainische Kräfte den Kriegsverlauf und zeigen ihm zerstörte Gebäude, gesprengte Brücken und kaputtes Gerät. „Das Ausmaß der Zerstörung kann man sich zu Hause nicht vorstellen.“ Am meisten beeindruckt Hilgefort, wie die Menschen mit all dem umgehen: „Sobald die Alarmsirenen angehen, schalten sie auf Krieg. Wenn Entwarnung kommt, schalten sie wieder um auf ihr Leben.“ 

Wie lange das noch so bleibt, kann niemand sagen. „Die Ukraine ist extrem auf unsere Hilfe angewiesen“, so der Oberst. In Kiew können mittlerweile die meisten russischen Angriffe abgewehrt werden. Für die fast 1.300 Kilometer breite Front im Osten und Süden gilt das nicht. Hier toben weiter schwere Kämpfe.

von Florian Stöhr

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