Achter Todestag von Helmut Schmidt
Achter Todestag von Helmut Schmidt
- Datum:
- Ort:
- Hamburg
- Lesedauer:
- 4 MIN
Am 09. November 2023 fand in Hamburg eine Andacht im Gedenken an Altkanzler Helmut Schmidt statt, organisiert durch das Katholische Militärpfarramt Hamburg I. Dort wurde vor allem auf seine historische Rede zum Antisemitismus im Jahr 1978 Bezug genommen.
Der 9. und 10. November sind zwei wichtige Daten in der deutschen Geschichte.
Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, am 9. November 1938 war die Reichspogromnacht, am 9. November 1923 kam es zum Hitlerputsch, und der 9. November 1918 gilt als Beginn der parlamentarisch-demokratischen Republik. Kein anderes Datum in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hat derart gegensätzliche Emotionen hervorgerufen.
Am 10. November vor 540 Jahren wurde Martin Luther in Eisleben geboren,
und am 10. November vor acht Jahren starb der große Hamburger und Altkanzler Helmut Schmidt.
Beim Propheten Jesaja heißt es: „Wie geht das zu, dass die fromme Stadt zur Dirne geworden ist? Sie war voll Rechts, Gerechtigkeit wohnte in ihr, jetzt aber – Mörder.“
So beginnt Helmut Schmidt seine Ansprache in der Großen Synagoge Köln genau 40 Jahre nach der Reichspogromnacht.
Ausschnitte aus der Rede von Helmut Schmidt am 09. November 1978
„Wer um Frieden bittet und darüber hinaus um Versöhnung, der muss wahrhaftig sein, der muss zur Wahrheit sich fähig machen. Die Wahrheit ist: Heute vor 40 Jahren wurden 30.000 jüdische Mitbürger verhaftet, die allermeisten von ihnen in Konzentrationslager verschleppt, 91 jüdische Menschen wurden ermordet, sehr viele wurden gequält. Die Wahrheit ist: 267 Synagogen wurden verbrannt oder zerstört; viele Tausende Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet.“(...)
„Es waren Hitler und seine Gesellen, die Deutschland und seine Juden und unsere Nachbarvölker mit unerhörter krimineller Energie in die Katastrophe führten – aber der Boden war schon vorher bereitet gewesen. Die Erziehung zur Demokratie, die Erziehung zum eigenen Urteil, die Erziehung zur Humanitas, die Erziehung zu Würde und Freiheit der Person hatte Generationen lang vorher nicht ausgereicht.“
„Wir gedenken, um zu lernen, wie Menschen miteinander umgehen sollen und wie sie miteinander nicht umgehen dürfen (…).
Es wäre sehr unredlich und außerdem gefährlich, die junge Generation mit Schuld belasten zu wollen. Aber sie trägt unsere Geschichte mit, sie ist – wie wir selbst – Teil unserer Geschichte. Die Teilhabe nimmt uns und sie in die Verantwortung für morgen und übermorgen. Ich füge aber mit großem Nachdruck hinzu: auch junge Deutsche könnten noch mitschuldig werden, wenn sie ihre aus dem damaligen Geschehen erwachsene heutige und morgige Verantwortung nicht erkennen.
Die jungen Deutschen sollen wissen: mit der Suche nach Sündenböcken hat es angefangen. Mit Gewalt gegen Schriften und Bücher und mit Gewalt gegen Sachen hat es sich fortgesetzt. Die Gewalt gegen Menschen war dann nur noch die vorbereitete Konsequenz.
Mit der Verachtung der Würde eines Mitmenschen, mit dem Niederbrüllen von anderer Bürger Meinung hat es begonnen. Mit der pauschalen Verurteilung des ganzen demokratischen Systems setzte es sich fort. Der Mord schließlich nur noch die vorbereitete Konsequenz. (…)
Die Fähigkeit zum unabhängigen, individuellen, eigenständigen kritischen Urteil muss ausgebildet werden.
Und es muss gelernt werden, dass es in unserer zerstrittenen Welt und in jeder Gesellschaft darauf ankommt, die Freiheit als einen Handlungsspielraum zu begreifen, in dem es für die Freiheit des Einzelnen und der Gruppen durchaus rechtliche und moralische Grenzen gibt.
Demokraten zu erziehen heißt, jungen Menschen das Augenmaß für Freiheit und Bindung zu geben. Sie zur Erkenntnis von und zum Respekt vor der Würde und der Unverletzlichkeit der Person jedes anderen zu befähigen. Sie zu lehren, die Humanitas, die res publica, das Recht und den Frieden als die Grenzen der Verfolgung eigener Interessen und eigener Konflikte zu begreifen.
Erziehung zur Demokratie heißt Erziehung zur Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns.“
„Nie wieder“ muss mehr als eine Worthülse sein
Helmut Schmidt hat mit seiner Rede in der Synagoge 1978 den Beginn der bundesrepublikanischen Gedenkkultur markiert. Ohne seine Ansprache wäre wohl auch die Rede Richard von Weizsäckers am 08. Mai 1985 so nicht denkbar gewesen. In dieser hatte von Weizsäcker von der Befreiung vom Nationalsozialismus gesprochen und somit eine Kernaussage der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland geprägt.
Heute stellt sich die Frage, wie wir das Gedenken an die Shoa künftig gestalten wollen und sollen. In Zeiten, in denen gewählte Politiker jene unheilvollen Jahre als „Vogelschiss der Geschichte“ abtun wollen. In denen Antisemitismus in vielen Gewändern daherkommt. Was bedeutet das mantraartig wiederholte „nie wieder“, wenn vor den jüdischen Einrichtungen Polizeischutz erforderlich ist und Juden empfohlen wird, bestimmte Regionen zu meiden?
Wenn wir an Gedenktagen „nie wieder“ sagen, dann dürfen wir im Alltag Antisemitismus nicht zulassen. Dann heißt es aufzustehen und einzuschreiten.
Es gibt den Vorwurf, die Deutschen sind gut im Gedenken an die toten Juden, im Gegensatz zum Umgang mit den Lebenden. Dieser Vorwurf ist nicht unberechtigt, und es ist an uns, diesen Eindruck zu entkräften. Indem wir alle im Alltag danach handeln, was von Repräsentanten an Gedenktagen gesprochen wird. Wenn wir das Gedenken ernst meinen, dann müssen wir für die lebenden Juden eintreten. Sie spüren lassen, dass sie selbstverständlich zu Deutschland gehören.