Umgeben von Gift: Ein Selbstversuch
In den USA üben Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr mit tödlichen Kampfstoffen. Zwar sind Chemiewaffen international geächtet. Die Realität zeigt aber: Vor ihnen muss man sich dennoch schützen können. Ein Redakteur der Bundeswehr-Medien will herausfinden, wie sich das anfühlt.
Bedeckt, gedämpft und gefiltert
Beklemmung – das ist mein erstes Gefühl beim Aufsetzen der ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Schutzmaske. Jeder Atemzug fällt jetzt schwer. Die Luft muss ich mühsam durch einen Filter einsaugen. Die Maske löst einen Juckreiz im Gesicht aus. Oder liegt es nur daran, weil ich mich nicht kratzen kann?
Durch die Maske und den Schutzanzug sind alle meine Sinne eingeschränkt. Bedeckt, gedämpft und gefiltert. Zweck der Maßnahme: Überleben in einer toxischen Atmosphäre.
Das Training zur ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehr ist wesentlicher Bestandteil in der Ausbildung eines jeden Soldaten. Jedes Jahr muss ich nachweisen, meine Maske in weniger als neun Sekunden aufsetzen zu können. Außerdem wird der Overgarment, unser Schutzanzug, aus den Kellern der Kaserne geholt und schrittweise an- und ausgezogen. Ein lästiges Prozedere – unzählige Male geübt. Irgendwo auf einer Schießbahn oder im Flur des Kompaniegebäudes. Alles Vorbereitung auf eine Bedrohung, die so abstrakt ist, dass ich schon immer wissen wollte: Wie fühlt es sich an, einen Auftrag zu erfüllen, wenn die kleinste Unaufmerksamkeit tödlich enden kann?
„Der scharfe Schuss”
Um eine Antwort auf meine Frage zu finden, flog ich in die USA zum Fort Leonard Wood, Missouri. Dort sind die Experten für chemische Kampfstoffe der USUnited States-Streitkräfte stationiert. Sie werden an der CBRNchemical, biological, radiological, nuclear (Chemical, Biological, Radiological, Nuclear) School ausgebildet – dem Pendant zu unserer ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehrschule in Sonthofen. Ihr Ausbildungszentrum ist in den Weiten des Mittleren Westens eingerichtet. Weites Land bedeutet wenig Menschen. Optimale Voraussetzungen für dieses ganz besondere Training.
Dort treffe ich Stabsfeldwebel Oliver Mornhinweg. Der Ausbilder an der ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehrschule im deutschen Sonthofen hat das Dutzend fast voll, so oft war er schon in Missouri. Er erzählt mir, dass die Bundeswehr jedes Jahr ihre auf atomare, biologische und chemische Bedrohungen ausgebildeten Spezialisten in die USA schickt, als Teil der Ausbildung zum Feldwebel oder Offizier der ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehrkräfte. Seit Jahrzehnten besteht eine enge Partnerschaft mit den Kameraden der U.S. Army. „Nur hier können wir unsere Lehrgangsteilnehmer ordentlich vorbereiten“, erklärt mir der erfahrene Ausbilder. Er meint damit die Nachbildung von Szenarien, die einer tatsächlichen Bedrohung ähneln, denn hier wird mit echtem Kampfstoff geübt. Deshalb ist es für Stabsfeldwebel Mornhinweg „der scharfe Schuss der ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Truppe“.
Geübt wird wie bei einem Gefechtsschießen erst einmal „trocken“. Der Auftrag: chemische Kampfstoffe identifizieren. Das Ziel: Vertrauen in unsere Ausrüstung gewinnen und Handlungssicherheit erlangen. Gemeinsam mit 22 weiteren Kameraden lerne ich den Umgang mit Spürgeräten und den genauen Ablauf für das Aufspüren von Kampfstoffen. Jeder Handgriff muss sitzen. Sonst kontaminieren wir uns ungewollt selbst oder andere.
Stundenlang mit Maske und in voller Montur zu arbeiten, ist für Feldwebel Manuel Mikus aus dem ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehrbataillon 7 in Höxter keine Herausforderung mehr: „Es ist bestimmt nicht die angenehmste Art zu arbeiten, aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran.“ Hinter der Maske verbirgt sich ein kantiges, glatt rasiertes Gesicht. Weder Bart noch Stoppeln sollen die Dichtigkeit der Maske gefährden. Mikus strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Der ideale Partner für den anstehenden scharfen Durchgang.
Ausbildung unter Juckreiz
In Doppelreihe stellen wir uns vor eine Schleuse. Tonnenschwer und extra gesichert trennt sie uns von einer anderen Welt: hier die saubere Luft zum Atmen, dort Vergiftung und Tod. Mir wird ziemlich mulmig. Ist meine Maske wirklich dicht? Ein drückendes Gefühl legt sich auf meine Brust – mir wird die Luft knapp. Als ein USUnited States-Kamerad die Schleuse öffnet, dröhnt uns Gefechtslärm entgegen, umgekippte Jeeps und auslaufende Fässer stehen im Weg. Feldwebel Mikus nickt mir zu. Ich beruhige mich, schüttle meine Angst ab. Gemeinsam gehen wir rein. Wir kommen zu einem Jeep. Hier ist unser Spürbereich. Während ich mit einem Juckreiz und dem ungewohnten Anzug kämpfe, frage ich Mikus, wie er sich fühlt. „Schauen wir mal, jetzt wird es erst interessant“, gibt er mir gedämpft durch seine Maske zu verstehen und klingt dabei so gelassen, wie man es mit einem Schutzanzug und einer ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Maske vor dem Gesicht nur sein kann. Mit seinen über zehn Dienstjahren hat er offenbar genug Erfahrung, um so abgebrüht zu sein.
Die Maske runterreißen ist keine Option
Wie beim Vorüben einstudiert, teilt er sich den zu untersuchenden Bereich in Sektoren auf. Mit einem Spürgerät arbeitet er sich zentimeterweise an einer Seite des Jeeps vor. Es piept. Auf dem Seitenspiegel schimmert feucht eine farblose Flüssigkeit. „Sample Mode“, ruft Mikus mir zu. Ich nehme in die eine Hand eine Farbtabelle und in die andere ein Stück Papier. Es sieht aus wie Löschpapier aus der Schule, ist aber spezielles Spürpapier und kann unterschiedliche Kampfstoffarten erkennen. Damit wische ich über die farblose Flüssigkeit und halte das Papier an die Tabelle. Es färbt sich langsam grün. „Ist das VX?“, frage ich ungläubig. Feldwebel Mikus nickt. Mir läuft es kalt den Rücken runter. VX ist ein Nervenkampfstoff. Die Aufnahme kann über Augen, Lunge, Haut und Schleimhäute erfolgen. Er ist geruch- und farblos. Ein Tropfen genügt und Rezeptoren an den Synapsen werden blockiert, Botenstoffe nicht mehr richtig ausgetauscht. Ein Kontakt mit VX würde zu qualvollem Ersticken führen.
Sarin und VX
„Wieso setzt die Bundeswehr ihre Soldatinnen und Soldaten in der Ausbildung solchen Gefahren aus?“, hatte ich Stabsfeldwebel Mornhinweg zuvor gefragt. Er erklärte, dass erst der Einsatz an echtem Kampfstoff die notwendige Sensibilisierung und das Vertrauen in unsere Ausrüstung schaffe, um im Ernstfall zu bestehen. Das hatte ich zunächst nicht verstanden – bis jetzt! In dieser kontaminierten Umgebung wird mir klar: Ich darf unter keinem Umstand dem Juckreiz nachgeben. Wir haben jetzt seit knapp drei Stunden unsere Masken auf. Sie einfach vom Gesicht zu reißen, ist keine Option. An Fahrzeugen, Fässern und Waffen haben wir Kampfstoffe wie Sarin und VX detektiert.
Das Ende der Übung naht. Es hätte nicht länger dauern dürfen! Für Feldwebel Mikus war es dagegen ein Routineeinsatz. „Es ist im Grunde nichts Anderes als mit simuliertem Kampfstoff. Wir gehen da rein, erfüllen unseren Auftrag und gehen wieder raus“, sagt er abgebrüht.
Ich versuche, auch beim Auskleiden hoch konzentriert zu bleiben. Sonst kontaminiere ich mich im letzten Augenblick doch noch. Irgendwann stehen wir alle fast nackt da – nur mit Maske und einem hochgerollten T-Shirt. Wir befolgen die letzten Anweisungen. Atem anhalten. Von unten mit den Fingern die Maske abziehen. Anschließend nur noch einen Schleusenraum durchschreiten, frische Luft atmen und richtig schön kratzen. Endlich frei!